Story - Das Tor

Alamor

Rare-Mob
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Hallo!
Hier nun wieder eine Geschichte. Der Autor bin nie ich und auch in nachfolgenden Geschichten werde ich es nicht sein

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Ich fuhr jeden Tag daran vorbei. Ein kleiner Hohlweg, an dessen Seiten hohe Tannen standen. Der ganze Waldboden war mit abgefallenem Winterlaub bedeckt, außer jenem kleinen Korridor.
Die silbernen Gräser reckten ihre blassen Köpfe dem Mondlicht entgegen und warteten genau wie ich darauf, dass es Frühling wurde. Aber der Frühling ließ noch auf sich warten, nur ein seltsames Gefühl hing in der Luft, eine Ahnung auf mehr. Manchmal lachte ich laut auf, weil ich dieses Gefühl so mochte.

Ich hatte oft das Gefühl, wenn ich zwischen diesen Bäumen hindurchgehen würde, käme ich in eine andere Welt, nach Narnia, Phantasien, Mittelerde - besonders dann, wenn die Energie in der Luft beinahe knisterte und darauf wartete, die Bäume blühen zu lassen.
Ich nannte es Tor. Obwohl nichts zu sehen war, wusste ich, dass da ein unsichtbares Tor auf mich wartete, eine Schwelle, die ich nur durchschreiten musste, und schon war ich in einer anderen Welt.
Aber ich hatte immer Angst davor, es zu versuchen. Ich glaubte nicht, dass ich es ertragen könnte, wenn mein Traum erlöschen würde wie eine Kerzenflamme im Regen.

Die eigentliche Geschichte begann in einer Nacht im März. Es war Mittwoch, aus irgendeinem Grund bin ich nicht imstande, das zu vergessen. Ich hatte mich auf den Weg zum Bahnhof gemacht, um einen sehr guten Freund von mir zu treffen.
Damals dachte ich, das Kribbeln in meinem Magen sei Verliebtheit. Streng genommen war das nicht einmal falsch - es war nur mein Wille, der mich davon abhielt. Ich wusste, Liebe würde verloren gehen.
Ich schrieb ein Gedicht in dieser Zeit.

"Ein Kind, das nie geboren ist,
kann niemals sterben,
Eine Blume, die nie gepflanzt,
nicht verwelken,
Ein Stern, der nie geschaffen,
nie explodieren,
Die Bombe, nie gebaut,
wird niemals töten...
Und Liebe, nie entstanden,
kann niemals enden."

Ich hatte natürlich nur Angst davor, mit ihm zusammen zu sein. Es gefiel mir nicht, die Kontrolle über mich zu verlieren, und das wäre dann irgendwann der Fall. Er würde es schaffen, meinen Panzer zum Schmelzen zu bringen. Ich würde meine Abwehr fallen lassen und ihm vertrauen.
Wenn ich jemals eine Person getsehen habe, die mein Vertrauen verdient hat, dann ist es der Mensch, mit dem ich mich an diesem Abend getroffen habe. Und so erzählte ich auch von meinem Geheimnis, von meinem Tor.
"Ich glaube aber nicht, dass ich den Weg noch gehen kann", sagte ich zu ihm.
Er strich mir übers Haar. "Warum nicht? Meinst du, du bist schon zu erwachsen dafür?"
Ich antwortete mit einer Gegenfrage. "Meinst du nicht?"
Er lächelte, ich hörte es an seiner Stimme. "Du solltest es versuchen."
"Aber was wäre denn, wenn der Traum zerplatzen würde? Wenn meine Augen sich öffneten und ich noch in dieser Welt wäre?" Ich legte meinen Kopf an seinen Hals und schloß die Augen.
"Träume sind wichtig", sagte er. "Bewahre dir deinen."
Wir saßen im Wald, an einen Birkenstamm gelehnt. Es war sehr kalt, aber ich fror kaum. Meine Hände waren eiskalt, aber er wärmte sie. Auch mein Herz wurde warm. Es war ein unvertrautes Gefühl. Einst war das der Grund gewesen, aus dem ich Angst gehabt hatte.
Ich würde ihm noch einmal weh tun, obwohl ich das nicht wollte. Ich würde krampfhaft auf Distanz gehen, obwohl ich mich nach Nähe sehnte. Ich würde ihm ein paar Zeilen schreiben, und dann würde ich weinen. Später dann würde ich dann bei ihm übernachten und mich dabei an ihn kuscheln.
Aber jetzt war noch nichts davon zu merken. Jetzt war ich glücklich, und ich hoffe, dass er es auch war.

Es war Samstag, und der Mond war jetzt voll. Ich war auf dem Rückweg von einer Feier, hatte nur zwei Gläser Wein getrunken, aber ich hatte getanzt und danach Aspirin geschluckt. Wieder hämmerte mein Herz. In dieser Nacht war etwas anders als sonst, und es lag nicht am Mond.
Erst dachte ich an die Drogen, aber das war nicht so. Dann überlegte ich, ob es der Alkohol war. Oder der Alkohol und das Aspirin.
Es lag daran, dass ich glücklich war, beschloss ich schließlich.
Ich stellte das Fahrrad ab und machte ein paar zaghafte Schritte, in einen Wald hinein, den zu betreten ich mich nie getraut hatte. Mein Herz hämmerte, mein Mund war trocken. Wie im Traum tappte ich auf die silberne Stelle zu, die sich hell abhob zwischen dem Laub auf dem Boden, dem Moos und den verfaulten Baumstämmen. Dann schloss ich die Augen.
Am nächsten Morgen würden sie mein Fahrrad finden. Sie würden sich natürlich Sorgen machen, nach mir suchen. Die Polizei würde kommen und den ganzen Wald abgrasen. Sie würden Hunde haben. Meine Eltern würden weinen und sich Vorwürfe machen.
Ich blieb am Rand des silbernen Grases stehen. Es war von der Wintersonne gebleicht gewesen. Deutlich hing der Geruch nach Frühling in der mondlichtgeschwängerten Luft. Die Spitzen meiner Stiefel berührten Halme, die knisterten, als ich mich sanft bewegte. Ich befürchtete, ohnmächtig zu werden. Ich hyperventilierte. Alles um mich herum verschwamm.

Ja, sie würde um mich weinen, diese Familie, der ich schon so lange fremd geworden war.
Aber ein Mensch, der Mensch, auf den es ankam, würde wissen, wohin ich gegangen war.
Ich lächelte und trat einen Schritt vor.
 
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