2. Die Musik der Heilerin
Fremde Seefahrer, die sich selbst die Atalantë nannten und mit einer großen Flotte mächtiger schwarzer Kriegsschiffe aus dem Süden Ardas kamen, hatten einen Krieg gegen die Teleri der fünf Inseln begonnen. Die gesamte Elbengesellschaft der Inseln war in einem Stadium des Chaos, da sich die Teleri nur sehr schwer an den Kampf gewöhnen konnten. Zulange hatten sie die Jahrtausende in Frieden und Unsterblichkeit in der Abgeschiedenheit der fünf Inseln durchlebt. Viele Elben traten ihren letzten Weg in die Hallen von Mandos an, bevor die Kampfeslust in den restlichen Teleri geschürt wurde.
Die verletzten Teleri, deren Verwundungen nicht in den Heerlagern geheilt werden konnten, lies die Königin der fünf Inseln zum heiligen Hain bringen. Die Hütte, in der bisher nur der Fremde Pflege und Ruhe fand, wurde zu einem Lazarett, in dem die Hüterinnen des Haines alles daran setzen, jeden verwundeten Elb gesund zu pflegen. Alle hofften, dass die Nähe des heiligen Ortes die Genesung der Verletzten beschleunigt. Die Hüterinnen des Haines versuchten alles um die Wunden der Krieger zu heilen.
„Du arbeitest zu viel hier.“, sagte eine Hüterin zu Eärdaliene.
„Schwester, hier können wir endlich unserer Berufung folgen allen zu helfen.“, erwiderte Eärdaliene ihr.
Sie wandte sich von ihrer Mitschwester ab, und pflegte die Wunden des vor ihr liegenden Kriegers mit großer Sorgfalt. Eärdaliene arbeitete unermüdlich in der Hütte. Statt nur ein Verwundeten, den sie umsorgte, hatte sie nun dutzende. Eine ruhige Melodie erfüllte den Raum der Hütte.
„Wie kannst du nur bei dieser schrecklichen Arbeit singen?“, fragte die Schwester sie.
„Wieso nicht, Erhaldiäne?“, antwortete sie, „Es schadet nichts und es erfreut vielleicht den Geist der Verwundeten.“
„Mag sein.“, schüttelte Erhaldiäne den Kopf, „Ich wünschte ich könnte so gut die Wunden versorgen wie du.“
„Du machst das ausgezeichnet.“, munterte Eärdaliene sie auf, „Ich habe nur Glück.“
„Ich gebe mein Bestes.“, nickte Erhaldiäne, „Aber trotzdem ist jeder Krieger der von dir gepflegt wird schneller wieder auf den Beinen.“
„Das täuscht dich sicher.“, sagte Eärdaliene schüchtern, „Es ist alleine die Nähe des heiligen Haines der unseren Kriegern Kraft und Mut gibt.“
„Ja, der Hain. Es wird Zeit. Ich muss zum Abendgesang.“, stimmte Erhaldiäne zu, und verließ die Hütte. Sie ging die wenigen Schritte zum Eingang des Haines, und hielt inne. Sie schaute sich mit zweifelndem Blick zur Hütte um.
‚Irgendetwas stimmt mit Eärdaliene nicht.’, dachte sie verwundert, ‚Ich arbeite wirklich genauso hart wie sie, und kenne mich in der Kräuterkunde und der Medizin besser aus als sie, doch selbst Schwerstverwundete verlassen nach kurzer Pflege durch sie die Hütte gesund und munter.’
Sie zog die Kapuze ihrer Robe über den Kopf und lief eilig zu einem nahe stehenden Haus, und klopfte an.
„Herein!“, rief eine Männerstimme.
„Ich bin es Erlendur.“, sagte Erhaldiäne, „ich muss etwas mit mir besprechen.“
„Schwester, solltest du nicht um diese Zeit im Hain sein?“, fragte der oberste Magistrat sie.
„Doch schon, Bruder, aber ich habe da etwas auf dem Herzen, und ich weis nicht mit wem ich sonst drüber reden sollte.“, sagte sie bedrückt.
„Gut, wozu hat man Geschwister.“, nickte ihr Erlendur tröstend zu, „Komm rein und setz dich ans Feuer.“
Erhaldiäne setzte sich auf einen der Stühle die beim Kaminfeuer standen.
„Nun, worum geht es?“, fragte Erlendur als er sich zu ihr setzte.
„Es geht um eine Mitschwester im Orden.“, schluckte sie.
„Eine Mitschwester?“, stutzte Erlendur, „Dann solltest du wohl eher zur Matrone gehen.“
„Nein, nein, auf gar keinen Fall.“, entsetzte sich die Hüterin, „Es ist ja nichts passiert. Aber irgendetwas stimmt nicht.“
„Dann erzähle mir einmal dein Kümmernis.“, beruhigte Erlendur sie.
„Wie du weist, Bruder, arbeite ich in der Hütte bei den Verletzten.“, begann sie zögerlich.
Erlendur nickte ihr stumm zu.
„Ich versuche mein Bestes.“, fuhr sie fort, „Meine Kenntnisse in der Pflege von Verletzten sind die besten im Orden, wenn ich das ohne Stolz sagen darf. Und doch gelingt es mir nicht alle Verwundeten zu heilen.“
„Mach dir doch keinen Vorwurf, Schwester.“, tröstete Erlendur sie und legte seine Hand auf ihren Arm, „Manchen ist halt leider nicht mehr zu helfen.“
„Nein, das ist es nicht.“, schüttelte sie den Kopf, „Es gelingt mir nicht sie zu heilen, aber trotzdem werden sie geheilt.“
„Das verstehe ich nun nicht.“, stutzte der Magistrat, „Du sagst, dass du nicht alle heilst. Und doch verlassen alle Verletzten eure Hütte gesund. Wie geht das?“
„Ich weis es nicht.“, sagte Erhaldiäne, „Als Hüterin müsste ich wohl dieses Wunder auf die Nähe zum Hain zurückführen. Aber ich habe schon lange beobachtet, dass auch anderswo Wunden und Gebrechen von alleine vergehen.“
„Wo denn genau?“, zeigte sich der Magistrat plötzlich höchst interessiert.
„Im Wesentlichen bei uns im Hain.“, antwortete Erhaldiäne ihrem Bruder, „Natürlich sind wir damit noch näher an der heiligen Wassersäule Ulmos, aber ….“
„Ja? Was lässt dich zweifeln?“, wollte Erlendur wissen.
„Nun, wir hatten letztes Jahr einen verwundeten Kranich im Hain.“, erklärte sie, „Seine Beine waren mehrmals gebrochen. Wir wussten nicht was wir tun sollten. Das herrliche Geschöpf zu töten brachten wir nicht übers Herz, aber seinem Leiden zusehen konnten wir auch nicht. Ich habe ihn deshalb mit einer besonderen Essenz betäubt, und seine Beine mit Schienen versehen. Wir legten ihn in einen abgelegenen Garten im Hain, dessen Boden mit dickem weichem Moos bedeckt ist. Am nächsten Tag, als ich nach ihm sah, waren seine Brüche geheilt. Nachdem die Wirkung der Essenz vergangen war, breitete er seine Flügel aus und flog einfach davon.“
„Nun, Illuvatár wacht über alle seine Geschöpfe.“, versuchte Erlendur zu erklären.
„Bruder, für so naiv hätte ich dich nicht gehalten.“, zwinkerte Erhaldiäne ihm zu, „Wir haben ab und zu tote Tiere im Hain, auch im heiligsten Inneren nahe der Wassersäule Ulmos. Illuvatár wacht auch über das Schicksal.“
„Nein, du hast Recht.“, gab der Magistrat zu, „An Wunder zu glauben ist naiv, aber was ist es dann?“
„Damals konnte ich in der Nacht nicht schlafen.“, erzählte sie weiter, „Also ging ich zu dem Garten in dem der Kranich lag. Ich wollte ihn gerade betreten, als ich einen Gesang hörte. Er war wunderbar und voll Mitgefühl. Ich hielt inne. Eine Hüterin stand bei dem Kranich und sang. Sie sang lange. Ich stand wie gebannt in einem Schatten am Gartentor. Noch nie hatte ich so ein Lied gehört. Es beruhigte mich. Ich fühlte mich zufrieden, stark und gesund. Die Erinnerung an die Melodie lässt mich noch heute …“ Sie hielt inne, als wenn sie einer inneren Stimme lauschte.
„Hast du die Sängerin erkannt?“, unterbrach Erlendur ihre Nachdenklichkeit.
„Wie?“, schreckte sie hoch, „Ja. Es ging mir damals ungefähr so wie gerade eben. Aber damals erwachte ich alleine gerade noch rechtzeitig aus dieser seligen Trance. Ich versteckte mich, und sah wie eine Mitschwester den Garten verlies. Es war Eärdaliene.“
„Eärdaliene?“, wunderte sich Erlendur.
„Ja, genau jene.“, bestätigte Erhaldiäne ihren staunenden Bruder, „Ich weis, dass sie unsere beste Sängerin ist. Wir durften ja erst neulich ihrer wundervollen Stimme lauschen, aber dass sie so eine Wirkung hat?“
„Bei Eru, ich hätte es fast vergessen.“, sagte der Magistrat und schlug sich mit der Hand auf die Stirn, „Als wir den Fremden am Strand fanden, war er in einen tiefen Schlaf. So tief, dass wir ihn nicht wecken konnten. Eärdaliene sagte damals, dass sie ihm ein Lied der Heilung und des Schlafes gesungen hätte. Ich war damals schon erstaunt. Fast hätte ich das vergessen.“
„Ja, das passt.“, nickte Erhaldiäne, „Mittlerweile scheint sie so gut zu sein, dass sie selbst die schwersten Verletzungen mit ihrem Gesang heilen kann. Das scheint mir der Grund zu sein, warum sie besser heilt als alle anderen Hüterinnen.“
„Ja, das könnte stimmen.“, pflichtete Erlendur ihr bei, „Aber trotzdem will ich wissen wie sie dies kann. Es war gut, dass du zu mir gekommen bist. Ich werde das Rätsel diskret aufklären.“
„Ja, mach das, Bruder.“, antwortete Erhaldiäne ihm, „Aber erwähne nicht die Quelle deines Wissens. Doch nun wird es Zeit. Ich muss gehen. Eru wache über uns.“
„Ja, das tue er.“, antwortete der Magistrat, als seine Schwester aufstand und das Haus verlies.
Am nächsten Tag schickte der oberste Magistrat einen Boten mit der Botschaft zur Hütte, dass der oberste Magistrat gerne Eärdaliene wegen der Versorgungspläne für die Verletzten sprechen würde. Eärdaliene kehrte mit dem Boten zurück. Dieser lies sie und den Magistrat alleine in der Halle des Magistrats zurück.
„Wie läuft es in der Hütte?“, wollte der Magistrat wissen.
„Magistrat, wir arbeiten hart, aber allen Valar sei Dank, können wir viele heilen.“, antwortete sie ihn mit zu Boden gerichteten Augen.
„Nun, ich habe gehört, dass ihr sogar alle heilen könnt.“, sagte er fragend.
Eärdaliene blickte überrascht zum Magistrat auf.
„Wir…. wir…“, stotterte sie. Sie hielt kurz inne und fuhr gefasst fort, „Ja, das stimmt. Jeder Elb verlässt die Hütte gesund.“
„Ist das nicht ein Wunder?“, fragte Erlendur listig.
„Ja, so muss es sein.“, stimmte Eärdaliene ihm schnell zu, „Die Nähe des heiligen Hains …“
Der Magistrat lachte.
„Eärdaliene, wir beide wissen, dass es die nicht ist, oder?“, sagte er verschmitzt.
„Wie? Was, sollte es sonst….“, begann Eärdaliene und stoppte als sie das wissende Gesicht des Magistrats sah, „Ja, ich bin es. Aber woher wisst ihr das?“
„Das spielt keine Rolle.“, sagte er ruhig, „Erklärst du mir, wie du das kannst?“
„Jeder Teleri kann das.“, versuchte sie sich herauszureden, „Viele unseres Volkes können Zauber durch Musik bewirken, so wie Ulmo es uns gelehrt hat.“
„Ja, kleine Zauber gewiss, Eärdaliene.“, sagte der Magistrat etwas ernster um ihre Ausfluchtsversuche zu unterbinden, „Aber du hast eine Macht, die ich bei noch keinem Teleri erlebt habe.“
Eärdaliene schluckte und blickte verlegen zu Boden ihre Arme hilflos hinter ihrem Rücken verschränkend.
„Glaubt mir, ich weis nicht, warum ich es kann.“, sagte sie schüchtern, „Seit ich mich erinnern kann, haben alle meinen Gesang gelobt und bewundert. Deshalb bin ich auch dem Orden beigetreten, da ich wusste, dass dort der wunderbarste Chor unserer fünf Inseln zu Hause war. Als Novizin musste ich aber auch viel studieren. Ich verbrachte viel Zeit in der Bibliothek des Hains. Dort lagern Manuskripte aus allen Zeitaltern Ardas. Eines Tages fielen mir einige Rollen auf, die alt zu sein schienen aber wenig benutzt. Ich öffnete sie. Sie enthielten Lieder. Die Worte sangen von Erquickung, Schlaf und Heilung. Es waren viele. Der Autor der Rollen hatte bei jedem Lied vermerkt für welches Gebrechen es anzuwenden ist. Ich las alle begierig und lernte sie auswendig.“
„Was für ein erstaunlicher Fund.“, nutzte der Magistrat die kurze Erzählpause, „Hast du ihn nicht gemeldet?“
„Doch, das habe ich. Aber die Novizinnenmeisterin zeigte kein Interesse.“, zuckte sie mit den Schultern, „Sie meinte nur, dass Eru über uns alle wache und wir deshalb keiner Heilung bedürften.“
„Ja, in den ruhigen Zeiten war dies so.“, grübelte Erlendur, „Nur kannten wir die Atalantë noch nicht. Aber ich kenne auch deine Neugier. Was hast du dann gemacht?“
„Ich suchte nach kleinen Verletzungen.“, erklärte sie, „Ich fand kleine Schnitte bei meinen Schwestern, und einige andere kleine Gebrechen. Niemand hegte einen Verdacht, wenn ich singend vorbeiging. Ich war ja Mitglied im Chor. Als dann einige berichteten, dass ihre Wunden weg und ihr Gebrechen geheilt waren, freute ich mich, deshalb studierte ich die Rollen noch intensiver, und begann aus den vorhandenen Liedern und ihren Texten neue zu erschaffen. Ich kombinierte sie. Zum Beispiel ergänzte ich ein Lied das Brüche heilte mit einem Schlaflied.“
„Der Kranich!“, entfuhr es dem Magistrat.
„Wie wisst ihr davon?“, erschrak Eärdaliene.
„Sagen wir nur ich weis es.“, sagte der Magistrat fest.
„Ja, ihm sang ich dieses neue Lied.“, fuhr sie fort, „Die Betäubungsessenz die man ihm gegeben hatte war verflogen, und seine nächtlichen Schmerzenschreie drangen in meine nahe gelegene Kammer. Ich ging zu ihm und sang das Lied. Er schlief ein. Am nächsten Tag erfuhr ich, dass er fort geflogen sei. Mein Lied hatte alle seine Brüche geheilt.“
„Und dann der Fremde.“, nickte der Magistrat.
„Bei ihm habe ich das erste Mal improvisiert.“, sagte sie verlegen, „Ich hatte Angst, und wusste nicht genau was ihm fehlt. Scheinbar war mein Lied zu stark. Das ist, glaube ich, der Grund warum er noch nicht wieder erwacht ist.“
„Das ist in Ordnung.“, munterte Erlendur sie auf, „Ich denke du solltest deine Lieder weiter gebrauchen. Alle Elben, die die Hütte wieder gesund verlassen können, werden es dir danken. Ich will dich zu ihrem Wohl aber nicht länger von deinen Aufgaben in der Hütte abhalten. Für mich ist alles zur besten Zufriedenheit geklärt. Leb wohl.“
„Eru schütze euch.“, sagte Eärdaliene und verlies die Magistratshalle