Kapitel 6: Konfrontation
"Jetzt hetz dich doch nicht wieder so, Vi'et!" rief Schan und packte den ungestümen jungen Mann an der Schulter.
"Nein", widersprach dieser, "ich muss Ari retten und wir haben keine Zeit mehr!"
Bei diesen Worten musste Schan schmunzeln. Natürlich hatten sie soviel Zeit zur Verfügung, wie sie wollten, schließlich war er ein bronzener Drache, ein Wächter der Zeit. Und dennoch waren die Worte des Kriegers auch zutreffend, schließlich waren ihre Feinde ebenso Herren der Zeit wie Schan selbst.
"Geduld ist eine Tugend, Vi'et", widersprach der Drache, "eine Tugend, die es zu lernen und eine Bürde, die es zu tragen gilt."
"Wir haben keine Zeit für diesen Unfug, Schan", erwiderte Vi'et knapp und zornig. "Ari könnte gerade sterben, und wir stehen hier herum und reden!"
"Vergiss nicht", mahnte Schan streng, "die Feder ist mächtiger als das Schwert. Dieser Konflikt wird nicht mit Gewalt gelöst werden."
"Willst du damit behaupten", setzte der aufgebrachte Krieger an, "dass ich in diesem Kampf unnütz wäre, weil ich den Weg des Schwertes gegangen bin?"
"Nicht unnütz", widersprach Schan, "ich meine nur, dass du ein größeres Risiko trägst, als dir bewusst ist. Ohne magische Kräfte kannst du leicht verletzt werden."
"Soll ich einfach dastehen und nichts machen oder was?" ereiferte Vi'et sich noch mehr. "Ich werde garantiert nicht tatenlos herumstehen."
"Das habe ich auch gar nicht von dir verlangt", versuchte Schan ihn zu beschwichtigen, "ich bitte dich nur, vorsichtig zu sein." Vi'et nickte zur Bestätigung und der Drachenelf ließ die Schulter des jungen Kriegers los. "Na schön", meinte Schan, "aber bist du dir auch sicher, dass Ari in der Kathedrale ist? Es könnte eine Falle sein."
Vi'et schaute den Elf nur verwundert an. "Ich habe es in den Erinnerungen dieses Kerkermeisters gesehen. Und selbst wenn du Recht hättest mit deinen Zweifeln, kannst du sie nicht wieder per Magie aufspüren?"
"Erinnerungen kann man abändern und fälschen", gab Schan zu. "Und nein, ich kann sie nicht spüren. Drachen, insbesondere die Ewigen haben die Gabe, sich und andere vor ihresgleichen verbergen zu können. Ich fühle mich unwohl bei dieser ganzen Sache, die Spur mit dem Kerkermeister klingt mir einfach zu sehr nach einer Falle."
"Aber es ist die einzige Spur, die wir haben", gab Vi'et zu bedenken. "Es gibt keine andere Möglichkeit." Mit einem Blick auf die Rose, die er sich in den Kettengürtel geschoben hatte, fügte der junge Krieger noch hinzu: "Und außerdem kann diese Blume nur von Ari stammen, ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Ewigen einen Sinn für ihre Schönheit hätten."
"Oder es ist eine Falle", gab der Drache in Elfengestalt zu bedenken.
"Oder es ist eine Falle", pflichtete Vi'et ihm bei. "Wir könnten noch ewig weiterreden, aber zu keinem Entschluss kommen."
Schan sah ein, dass der Mensch Recht hatte. "Also gut", meinte er zur Verwunderung seines Gegenübers, "dann gehen wir."
Nach einer kurzen Pause, in der sie schweigend nebeneinander hergegangen waren, richtete Schan noch einmal das Wort an seinen Gefährten. "Vi'et?" fragte er, woraufhin der Angesprochene zu ihm aufsah.
"Ja?" erwiderte dieser.
"Manchmal besitzt du wirklich die Sturheit eines Drachen."
"Danke."
"Das war nicht als Kompliment gedacht."
"Ich weiß."
Der Drache und der Mensch traten aus einem Torbogen hervor auf den trümmerübersäten Platz vor der großen Kathedrale. Kurz sahen die beiden sich um, dann wendeten sie sich dem Eingang der Kathedrale zu. Während sie auf ihn zugingen, begann Vi'et zu plaudern.
"Weißt du, Schan", fing er an, "dort drüben" - der Krieger zeigte auf eine Stelle vor der Kathedralentreppe - "dort stand einmal ein herrlicher Springbrunnen. Im Frühling und dem darauffolgenden Sommer, bevor ich achtzehn Jahre alt wurde, saß ich dort gerne und lauschte dem Plätschern des Wassers. Ich habe mir immer gerne die Vögel angesehen, die auf ihm herumschwammen und sich dort putzten. Auch habe ich dort immer Terran Gregor getroffen, einen Paladin, der den Beinamen "Gerechtigkeit" trug. Er erzählte mir viel über die Statue des Mannes, die auf dem Brunnen stand, die Statue des ersten Erzbischofs meines Volkes, Alonsus Faol. Aber nun...nun ist all das fort." Vi'et sah Schan direkt in die Augen. "Wird es Gerechtigkeit geben, Schan? Oder wird alles Asche bleiben?"
Schan wollte schon antworten, doch er stockte noch einmal und dachte über die Frage des jungen Menschen nach. "Ich denke", begann der Drache langsam und nachdenklich, "ich denke, dass die Zukunft von keinem von uns festgelegt ist. Auch dieses Bild des Schreckens, in dem wir uns befinden, ist es nicht. Wir können es verhindern, Vi'et. Noch können wir es verhindern. Dort oben." Mit diesen Worten zeigte Schan mit einem Wink seiner Hand hinauf zur Kathedrale. Vi'et nickte stumm und begann, die angekohlten, ehemals weißen Stufen hinausfzusteigen, die zum Eingang des Gebäudes führten. Doch plötzlich stockte er, als sein Blick auf kleine, rote Kreise fielen, die sich auf den Stufen befanden und ebenfalls nach oben zum Portal der Kathedrale führten. "Ist das...Blut?" fragte er Schan. Dieser nickte nur grimmig. Vi'et sah auf zu dem herrschaftlichen Gebäude und ein eiziges Wort kam über seine Lippen.
"Rache."
Die beiden Gefährten traten nebeneinander und nahezu gleichzeitig durch das Portal. Sie sahen zu dem Ende des hohen Raumes, der vor ihnen lag, doch konnten sie nichts erkennen. Es war, als ob ein Schattenschleier über der Rückwand der Kathedrale lag, sodass man nicht erkennen konnte, was sich dahinter befand.
"Warte", flüsterte Schan Vi'et zu, stellte sich gerade hin und rief laut "Zeige dich!" Doch nichts geschah. "Das ist...seltsam", gab der Drache zu. "Eigentlich sollten wir jetzt sehen können, was dort liegt. Aber meine Zauberkräfte scheinen nicht zu wirken."
"Nur ein weiterer Beweis dafür, dass das, was wir suchen, dort ist", knurrte Vi'et. "Dann lösen wir das Problem eben auf die altmodische Art."
Langsam tasteten die beiden sich vorwärts, jederzeit bereit, anzuhalten oder nach vorne zu stürmen. Als sie etwa die Mitte des Raumes erreicht hatten, ertönte hinter ihnen ein seltsames Zischen, wie von einem Teekessel, der überkochte. Als sie sich umdrehten, um nachzuschauen, woher das Geräusch kam, entdeckten sie, dass nun vor dem Eingang der Kathedrale ebenfalls ein Schattenschleier lag und den einzigen vorhandenen Ausgang blockierte. Der Drache und der Mensch sahen einander kurz mit versteinerter Miene an, bevor sie sich wieder dem anderen Ende der Kathedrale zuwandten.
Der Schattenschleier dort schien kurz zu erzittern und löste sich dann. Was das ungleiche Paar dort endtdeckte, ließ ihnen den Atem stocken.
Es war Ari.
Und Ari.
Aber es war nicht Ari.
An der rechten Stütze des Throns war Ari mit einer Eisenkette am Hals angekettet. Ihr blondes Haar wirkte stumpfer als früher und in ihren goldenen Augen lag eine Trauer, die dort früher nicht gewesen war. Auch schimmerten in ihren Augen Tränen, ebenso wie auf ihren Wangen deutlich die Spuren zu sehen waren, die zuvor geweinte Tränen hinterlassen hatten.
Doch noch viel schockierender für Vi'et und Schan war der Anblick der Person, die auf dem Thron selbst saß.
Es handelte sich ebenfalls um Ari. Oder um eine Person, die sich für sie ausgab. Doch war diese Ari grundlegend anders als die angekettete Person. Die auf dem Thron sitzende Ari hatte pechschwarzes Haar und Augen, die so kalt waren wie das Obsidian, dessen Farbe sie hatten. Auch trug diese Ari nicht dieselbe helle Robe wie die andere, sondern eine Rüstung aus Obsidianplatten, die stilisierte Drachenköpfe schmückten. An der Taille der dort oben sitzenden Ari hing ein gefährlich aussehender Dolch mit einer geschwungenen Schneide.
Selbst bei der Haltung der beiden Aris gab es deutliche Unterschied. Während die angekettete Ari auf dem kalten, rußgeschwärzten Steinboden kniete und sich mit einer Hand darauf abstützen musste, um nicht umzufallen, saß die andere Ari mit locker übereinandergeschlagenen Beinen auf ihrem Thron, während sie ihre Arme auf den beiden Lehnen rechts und links von sich abgelegt hatte.
"Ari!" brüllte Vi'et und wollte auf die angekettete Ari zurennen, doch ein lässiger Schlenker der Hand der auf dem Thron sitzenden Ari ließ ihn erstarren. Interessiert hob sie eine Augenbraue. Mit einer Stimme wie Honig begann sie zu sprechen.
"Ari? So nennen sie dich also?" sagte sie und sah die auf dem Boden kauernde Ari zu ihrer Rechten an. "Auch gut. Es macht keinen Unterschied." Dann sah sie zu Schan hinüber, der noch immer stocksteif an derselben Stelle wie zuvor kauerte. Schweißperlen liefen ihm über die Stirn und seine Unterlippe zitterte, während sein Gesicht immer blasser wurde. "Und du?" fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. "Wer bist du, dass du hier eindringst und versuchst, mich mit einem Zauber zu belegen? Wenn ich dich so ansehe, würde ich vermuten, dass du zu den Bronzenen gehörst, aber die habe ich ja ausgelöscht. Also: Wer bist du?" Sie machte einen interessierten Eindruck, wie ein neugieriges Kind, das gerade einen Käfer gefunden hatte und wissen wollte, was er war und was er konnte. Allerdings machte sie gerade ihre Freundlichkeit umso gefährlicher, denn auch ein Käfer konnte durch die unbedachte Bosartigkeit eines Kindes aus einem Spieltrieb leicht zerquetscht werden.
"Schanoroan", stieß der Angesprochene mühsam aus zusammengebissenen Zähnen hervor, während er weiter versuchte, einen Zauber zu wirken, der die seltsame Frau bezwingen sollte, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen.
"Schanoroan", wiederholte sie und ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. "Ich kenne keinen Schanoroan, und ich denke auch nicht, dass dies dein echter Name ist." Sie erhob sich von ihrem Thron und ging gemessenen Schrittes auf Schan zu, direkt an Vi'et vorbei, der nichts tun konnte, als untätig zuzusehen, da sein Körper noch immer durch den Zauber der merkwürdigen Version von Ari bewegungsunfähig gehalten wurde. Sie baute sich direkt vor Schan auf und sah ihm in die Augen, doch musste sie zu ihm aufschauen, da sie etwas kleiner als er war.
"Aber zum Glück gibt es ja einen einfachen Weg, herauszufinden, wer du bist, nicht wahr?" sprach sie. Mit einem raschen Griff griff sie nach dem Hals des Elfen - Vi'et dachte zuerst, sie wollte ihn erwürgen, doch ihre Finger schlossen sich nur um etwas, das um den Hals des Elfen hing. Abrupt zog die Frau ihre Finger, die sie zur Faust geballt hatte, zurück, sodass der Gegenstand, der um Schans Hals gehangen hatte, von ihm losriss. Sie hielt ihn sich interessiert vors Gesicht, sodass auch Vi'et erkennen konnte, um was es sich handelte. Der Gegenstand stellte eine kleine Sanduhr da, von der nun zwei zerrissene Lederbänder hinabbaumelten. In der Sanduhr schien sich der Sand in seltsamen, verwirrenden Spiralten zu winden und gleichzeitig hinauf und hinab zu fließen, sodass sowohl im unteren als auch im oberen Glas immer die exakt gleiche Menge an Sand vorhanden war. Doch die Person, die vorgab, Ari zu sein, interessierte sich nicht dafür, sondern las die seltsamen Runen, die auf dem oberen Glas der Sanduhr eingraviert waren. Überrascht schaute sie Schan an.
"Nein, wirklich?" stieß sie einigermaßen verwundert hervor. "Anachronos? Der Anachronos?" Sie überlegte kurz und sprach dann weiter. "Aber natürlich, das macht Sinn. "Schanoroan" ist ja nur ein Anagramm von "Anachronos"."
Schan reagierte in keinster Weise auf ihre Worte, und Vi'et war sich unsicher, ob er das überhaupt noch konnte, denn nun flatterten seine Lider auch noch.
"Och", stieß die vor ihm stehende Ari aus, "versuchst du immer noch, deine Zauber zu wirken oder dich zu verwandeln?" Sie beugte sich zu seinem Ohr vor und flüsterte: "Ich habe schon lange Vorkehrungen für den Fall getroffen, dass hier jemand eintrifft. Zauber wirken nur, solange ich es erlaube. Hier bin ich diejenige, die bestimmt was geschieht. Hier bin ich ein Gott." Sie beugte sich wieder nach hinten und zog ihren Dolch. "Und natürlich bin ich ein gnädiger Gott. Ich werde euch von euren Qualen erlösen, die eure misslungenen Versuche, Magie zu wirken, hervorbringen. Außerdem..." fügte sie hinzu, "hat es mir schon beim ersten Mal Spaß gemacht, dich zu töten. Warum also nicht ein zweites Mal?" Sie lächelte hinreißend und stieß ihren schimmernden Dolch nach vorne, direkt in die Kehle des vor ihr stehenden Elfen hinein.
Vi'et erwartete, dass etwas geschehen müsste, irgendetwas, dass der Dolch knapp vor der Kehle abgelenkt wurde oder zersprang, doch er glitt ohne jeden Widerstand hinein. Als die seltsame Ari ihn wieder zurückzog, begann Blut aus der Wunde zu sprudeln, soviel Blut, dass Vi'et ganz schlecht von dem Anblick wurde. Schan brach auf der Stelle zusammen, während seine Kleidung von dem Blut aus seiner Halswunde besudelt wurde.
Der Sand in der Sanduhr hatte aufgehört zu fließen.
"Ahhhh", stöhnte die Mörderin des Drachen auf. "Soviele Bilder..." hauchte sie, "soviele...wunderschöne Bilder..." Sie hatte due Augen halb geschlossen, wie in Trance. Plötzlich riss sie sie auf, starrte Vi'et an und ging auf ihn zu. "Jetzt hälst du mich bestimmt für eine gewissenlose Mörderin, oder?" fragte sie ihn spöttisch.
"Verschwinde, Monster", knurrte der Angesprochene ihr entgegen.
"Monster?" wiederholte sie verwundert. "Du nennst mich ein Monster? Dann sieh her, was dein sogenannter Freund war!"
Bei diesen Worten nahm sie Vi'ets Kopf in die Hände, genau wie Schan es zuvor beim Kerkermeister getan hatte. Erinnerungen des getöteten Drachen prasselten auf Vi'et ein, bis sich eine einzelne hervortat, klar wie eine kristallisierte Träne.
Vi'et stand wieder im Wald von Elwynn, vor derselben Hütte wie in seiner letzten Erinnerung an diesen Ort. Auch der braunhaarige Mann und der Elf mit dem sandfarbenen Haar standen wieder dort, ein Stück von der Hütte entfernt.
"Du kennst die Regeln", meinte der Elf nur. "Sie dürfen nicht verletzt werden."
"Ich weiß", antwortete der Mann resignierend, "aber manche Regeln kann man einfach nicht einhalten."
"Du weißt, dass ich das nicht will, aber es gibt keinen anderen Weg", sprach der Elf weiter.
"Muss es sein?" fragte der braunhaarige Mann zaghaft. "Ich habe eine Frau und einen Sohn, dort in dem Haus. Sie kommen doch nicht alleine zurecht."
"Du weißt, dass der Meister es nicht gestattet. Hast du gedacht, du könntest dich vor ihm verstecken?" fragte der Elf wiederum.
Zu Vi'ets Überraschung lächelte der Mann plötzlich. "Nein...", antwortete er, "aber ich hatte es mir vorgemacht. Darf ich mich noch von ihnen verabschieden?"
Der Elf schien kurz mit sich selbst zu hadern. "Meinetwegen", stieß er endlich hervor, "doch beeil dich."
"Danke", erwiderte der Mann und eilte in sein Haus hinein. Vi'et folgte ihm und kam gerade herein, als der Mann sich über seine schlafende Frau beugte und ihr einen Kuss auf die Stirn hauchte. "Leb wohl, mein Schatz", flüsterte er mit tränenerstickter Stimme, bevor er sich aufrichtete und dem schlafenden Kleinkind zuwandte. Er strich ihm über die Stirn und hauchte: "Leb wohl. Bitte hasse mich nicht dafür, dass ich euch schon verlassen muss, Vi'et."
Der "echte", erwachsene Vi'et, der neben ihm stand, erstarrte. Hatte dieser Mann seinen Sohn gerade auch Vi'et genannt? Aber das würde ja bedeuten, dass dieser Mann - dieser braunhaarige Mann, mit dem der Drache gesprochen hatte - sein Vater wäre!
Bevor Vi'et noch länger darüber nachdenken konnte, ging der Mann wieder aus seiner Hütte hinaus. Vi'et beeilte sich, ihm zu folgen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Draußen stand wieder der Elf.
"Bereit?" fragt er.
Der braunhaarige Mann atmete schwer und nickte knapp.
"Gut", antwortete der Elf. "Es tut mir Leid, Vi'eldormu, aber deine Zeit...ist abgelaufen."
Schockiert musste Vi'et mit ansehen, wie sich der Mann, der sein Vater war, direkt vor ihm zu Sand verwandelte und von einer leichten Windbrise davongetragen wurde, bevor alles um ihn herum schwarz wurde.
Vi'et stand wieder in der Kathedrale, noch immer bewegunsunfähig, während die merkwürdige Ari seinen Kopf noch immer mit den Händen umfasst hielt.
"Siehst du jetzt", sprach sie mit leiser, eindringlicher Stimme, "was er für ein Monster war? Er hat deinen eigenen Vater getötet!" Die Stimme der Frau veränderte sich nun, wurde beschwörender. "Weil du mir einst viel bedeutet hast: Schließ dich uns an!" hauchte sie, "und nie wieder wird dich jemand so verletzen können. Wir können deine neue Familie sein, du musst es nur zulassen!"
Unfähig, dem Blick ihrer bohrenden Augen auszuweichen, musste Vi'et direkt in sie hineinschauen, und er sah die Intensität, mit der sie ihn anfunkelten. Als er gerade zu einer Antwort ansetzen wollte, sprach die Mörderin Schans weiter. "Sie her!" sagte sie und griff nach dem Amulett, welches Vi'et um den Hals trug. "Es ist ein Zeichen", fuhr sie fort, "ein Zeichen von mir, genau wie die Rose! Du bist dafür bestimmt, zu uns zu gehören!" Sie riss ihm sein Schwert aus der Scheide und warf es einige Meter hinter sich auf den Kathedralenboden, wo es laut scheppernd landete. "Du wirst dich nicht mehr auf deine Stärke allein verlassen müssen. Ich kann dich in der Magie unterrichten, auf dass du mächtiger als jemals ein Wesen zuvor wirst! All das kann ich dir bieten, du musst es nur annehmen!"
Vi'et zögerte. Sollte er das Angebot annehmen? Dann könnte er vielleicht alles rückgängig machen, angefangen von dieser grauenvollen Zukunft, in der er sich befand, als auch den Tod seines Vaters. Gerade, als er annehmen wollte, hörte er das Klirren einer Kette vom Thron her, der an der Fensterfront der Kathedrale stand. Er ließ seine Augen dort hinhuschen. Dort stand Ari, die aufgestanden war, woher das Geräusch der Ketten stammte.
"Lassen wir sie doch einmal zu Wort kommen, sie wird dir bestätigen, was ich gesagt habe", meinte die Ari in der Obsidianrüstung und hob den Schweigezauber auf, den sie auf die andere Ari gelegt hatte. Diese schnappte nach Luft und rief mit glockenheller Stimme ein einziges Wort.
"PROTES!
Mit einem lauten Klicken öffnete sich das Medaillon, das die Ari, die vor Vi'et stand, noch immer in der Hand hielt. Unmengen von Sand stürzten daraus hervor und schossen empor, direkt in die Augen der Frau. Sie stieß einen erstickten Schrei aus und taumelte zurück. Auf einmal konnte Vi'et sich wieder ohne Einschränkungen durch irgendwelche Zauber bewegen.
"Meine Augen...meine Augen...", stammelte die Frau, die Ari war, immer wieder. Plötzlich riss sie den Kopf hoch und starrte Vi'et aus blutigen Augenhöhlen an. "Elender kleiner Wurm!" zischte sie wütend, "Dafür wirst du bezahlen!"
Vi'et wich zurück, waffenlos, wie er war, während die bösartige Ari auf ihn zustolperte und nach ihm hieb. Bald stieß er gegen die Seitenwand der Kathedrale, unfähig, sich noch weiter zurückzuziehen.
"Vi'etdormu!" rief Ari, und der Name hallte sowohl im Raum als auch in Vi'ets Kopf wieder. "Besinne dich darauf, was du bist! Du bist mehr als die Summe deiner Teile!"
Bei diesen Worten war es, als fiele ein Lichtstrahl auf einen Bereich von Vi'ets Gedanken, einen Bereich, der lange Zeit im Dunkeln gelegen hatte. Tief in ihm erwachte ein uralter Instinkt, ein Instinkt, der ihm sagte, was zu tun war, ohne dass er es verstehen musste. Die Unterarme und Hände des jungen Kriegers, der mehr war als ein Krieger, verwandelten sich. Sie schienen sich leicht zu strecken und wurden von bronzenen Schuppen verkleidet. Auch Vi'ets Fingernägel veränderten sich, sie wurden länger und schienen aus einem dunklen, hornähnlichen Material zu bestehen.
Mit einem urtümlichen Brüllen sprang der Mann nach vorne, nicht Mensch, nicht Drache, und schlug seine Klauen beide gleichzeitig durch die Obsidianrüstung hindruch in den Bauch der auf ihn zutaumelnden Frau.
"Ihr wurdet gewogen...und für zu leicht befunden", knurrte Vi'et sie mit tieferer Stimme als zuvor an, und mit einem Ruck seiner Arme schleuderte er die Frau von sich weg, nach vorne in Richtung ihres Throns. Sie kam einige Meter davor auf dem Boden auf und schlitterte noch ein Stück weiter. Vi'et ging langsam hinterher, doch bevor er sie erreichen konnte, stemmte sie sich mit einem irren Kichern von alleine auf.
"Ist das schon alles?" fragte sie mit einem wahnsinnigen Ausdruck in ihren Augen. "Du magst zwar auch ein Drache sein, aber ich, ich bin ein Gott!" Und mit diesen Worten begann sich ihre Haut zu verändern, sie bildete dunkle Schuppen, schien sich auszudehnen. Vi'et wich erneut zurück. Was auch immer diese wahnsinnige Ari plante, es würde bestimmt nicht gut für ihn ausgehen.
Doch plötzlich dröhnte eine gewaltige Stimme durch den Raum.
"Auch Götter können sterben."
Verwirrt hielt die wahnsinnige Ari in ihrer Verwandlung inne, als die reich verzierten Glasscheiben der Kathedralenfront hinter ihr barsten und sich, in einem glitzernden Regen aus winzigen Glassplittern, ein bronzener Großdrache mit hoher Geschwindigkeit hindurchschob. Bevor irgendeiner der Anwesenden reagieren konnte, packte der neu angekommene Drache die wahnsinnig kichernde Frau mit beiden Klauen und riss sie in der Mitte auseinander. Sie konnte nur noch einmal kurz in ihrem Wahn auflachen, bevor sie starb. Die Reste ihres Körpers begannen sofort, zu Asche zu zerfallen und verteilten sich gleichmäßig im Raum.
Inmitten des Ascheregens begann sich der bronzene Drache ebenfalls zu verwandeln, doch seine Form verschob sich, wurde immer kleiner, bis an seiner Stelle eine kleine Gnomin stand.
"Du!" rief Vi'et überrascht aus, als er die Gnomin erkannte, die ihn damals - war es wirklich schon so lange her oder kam es ihm nur so vor? - in der Anwesenheit des Hochlords angegriffen hatte.
"Ich", erwiderte die Gnomin, und mit einer Geste einer ihrer Finger sprang die Kette um den Hals der richtigen, der echten Ari auf.
"Aber...", wunderte Vi'et sich, "warum hast du mich bei unserem ersten Zusammentreffen angegriffen, wenn du mir jetzt hilfst?"
"Deswegen", sagte die Gnomin und deutete auf das Amulett, das um Vi'ets Hals hing. "Ich habe erkannt, dass es jemandem aus meinem Schwarm gehören musste, aber du hast nicht zu ihm gehört, also ging ich davon aus, dass du es gestohlen und seinen Besitzer verletzt haben musstest." Die Gnomin zuckte mit den Schultern. Vi'et verstand ihre Reaktion damals, auch wenn er sie nicht gutheißen konnte.
Währenddessen war die Gnomin an die Leiche des ermordeten Drachen in Elfengestalt getreten.
"Er...er hatte keine Chance", keuchte Vi'et hervor.
"Ach, das macht nichts", meinte die Gnomin und griff nach der kleinen Sanduhr, die um den Hals des Toten gehangen hatte. Sie legte ihm das Lederband wieder um und verknotete es hinter seinem Hals. Der Sand im Stundenglas begann sich wieder zu regen, zuerst langsam, dann immer schneller, bis er wieder flüssig lief. Voller Erstaunen beobachtete Vi'et, wie sich die Wunde im Hals des Elfen wieder schloss. Mit einem lauten Husten richtete der Elf sich auf.
"Willkommen zurück, alter Mann", begrüßte die Gnomin ihn.
"Danke, Chrononormu", sagte er und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, um sie zu ordnen.
"Ach bitte, Anilein, wir kennen uns doch schon so lange, nennt mich einfach Chromie, wie alle anderen auch", erwiderte die Gnomin lächelnd.
"Nein danke, ich wahre gerne eine gewisse Distanz", erwiderte Anilein.
"Ich will ja nicht stören", begann Ari, die inzwischen zu der Dreiergruppe getreten war, "aber was machen wir jetzt?"
"Was macht IHR jetzt", erwiderte die Gnomin, zwinkerte Vi'et kurz zu und verschwand dann von einem Augenblick auf den anderen.
"Willst du immer noch deinen Auftrag ausführen?" fragte Ari den vor ihr stehenden Elfen, als ob sich nicht gerade eine Gnomin vor ihr in Luft aufgelöst hätte.
"Nein", antwortete dieser mit einem Kopfschütteln, das Ari zu überraschen schien.
"Moment mal", mischte Vi'et sich ein, "von was für einem Auftrag sprecht ihr eigentlich gerade?"
Der Elf schaute Vi'et lange musternd an. Schließlich erklärte er: "Ich hatte von meinem Meister zwei Aufträge bekommen, die ich hier erledigen sollte. Die erste war, Arazdormi" - er wies mit einer Geste seiner Hand auf Ari - "zu retten, die zweite war, dich zu töten, Vi'et."
"Mich zu töten?" rief er laut aus. "Aber wieso? Ich habe doch niemals jemandem etwas angetan!"
"Verstehst du es nicht?" mischte Ari sich ein. "Dein Vater war ein Drache aus unserem Schwarm. Doch unser Meister wollte nicht, dass es einen Mischling bei uns geben sollte, weshalb er Anachronos befahl, dich zu töten. Doch wie es scheint, widersetzt er sich jetzt zum ersten Mal seinen Befehlen." Fragend hob sie eine Augenbraue und blickte den Elfen an.
"Ja", bestätigte dieser, "ich hatte meine Ideale aus den Augen verloren. Ich hatte mich aus den Augen verloren. Doch nun weiß ich wieder, für was ich früher eingestanden habe, und das tue ich jetzt wieder." Er nahm die Sanduhr ab, die um seinen Hals hing und reichte sie Vi'et. "Hier - das sollte verhindern, dass der Meister dich aufspüren kann. Trotzdem musst du vorsichtig sein und dich vor ihm in Acht nehmen. Unsere Spione sind überall."
Rasch band Vi'et sich das kleine Stundenglas um, nachdem er Aris Amulett abgenommen hatte und es ihr wieder gegeben hatte.
"Danke", sagte sie zu dem vor ihr stehenden Elfen, nachdem sie sich das Amulett wieder um den Hals gelegt hatte. "Aber was wirst du jetzt tun?"
"Ich?", begann der Angesprochene. "Ich werde jetzt zum Meister zurückkehren und ihm von meinem Ungehorsam berichten müssen. Was werdet ihr machen?"
"Keine Ahnung", sagten Ari und Vi'et gleichzeitig und mussten beide lachen. "Die Welt ist groß", sagte Ari dann, "wir haben viele Möglichkeiten offen." "Genau", fügte Vi'et hinzu, weil ihm nichts Besseres mehr einfiel.
"Dann wünsche ich euch dabei viel Glück", erwiderte Anachronos und musste herzhaft lächeln. Doch gleich darauf verdüsterten sich seine Züge wieder, als er Ari warnte. "Doch pass auf dich auf, kleine Drachin, du kannst immer noch zu dem werden, was heute hier besiegt wurde."
"Ich werde auf mich aufpassen", versicherte Ari ihm und ergriff Vi'ets Hand. "Ich habe ja jemanden, der auf mich aufpasst."