Aufreger der Woche :Made my Day powered by Antisemitismus

d2wap

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Ich war ja nun leider längere Zeit krank.
Das war verbunden mit einem täglichen Besuch beim Onkel Doktor.
Wenn man morgens im Wartezimmer sitzt kommt das typische Klientel (Ja, man schreibt es so!) einer Arztrunde zusammen: Ältere Menschen die Dauergäste zu sein scheinen, so wie ich für kurze Zeit, Jugendliche die sich quickfidel einen Wisch abholen wollen für die Schule um legal schwänzen zu können da sie sich bester Gesundheit erfreuen… und natürlich Leute wie meine Wenigkeit: Die richtig krank sind – egal ob Grippe, Fußbruch oder sonst was. Sehr amüsant teilweise. Aber meist öde.

Doch am Mittwoch letzter Woche schoss ein älterer Herr den Vogel ab.
Er wurde vor das Behandlungszimmer gerufen, so wie ich. Er setzte sich mit seinem trägen Gang neben mich hin, stierte zu mir rüber und fragte unverblümt, wie ich sein Alter wohl einschätze.
Seine faltige Haut, lederigen Hände und dominante Stimme sagten mir: Sei höflich. Und spiel mit. Ein alter Mann der Unterhaltung sucht.
Höflich wie ich bin antworte ich: Zweiundachtzig.
Er lacht. Er verrät mir, dass er 88 einhalb (und das betonte er mehrfach) ist und hängte einen SS-Soldatenspruch hinterher, den ich hier nun nicht näher ausführen möchte.

Weitere Kommentare über meine fast genauso alte Großmutter habe ich mir erspart. Ich wusste ab diesem Zeitpunkt, dass Herr…. Oh. Halt. Seinen Namen mag ich nicht nennen. Aber aus dem Grund, dass das nachfolgende Gespräch von Kriegsdramen und Antisemitismus geprägt sein wird (spoiler!!!!) kann ich verraten, dass sein Namen höchst Urdeutsch ist. So wie: Im-Wald-lebender-Wild-Hund und Der-Berufszweig-der-dem-Bäcker-das-Mehl-mahlt. Also sehr urdeutsch.
Er fing also an zu erzählen, ich war noch so halb bei der Sache dabei, wollte ja höflich sein, dass er in diesem Jahr schon drei Operationen hatte. Diese schilderte er mir genauestens. Auch die vorherigen Dinge, weswegen er operiert wurde. Inzwischen sidn gefühlte 3 Jahre vergangen. Er kam schon beim Jahr 1944 an.
Mist. Noch immer sitzen er und ich draußen und keiner von uns wird in die Sprechstunde gerufen.

Er fing an vom Krieg zu erzählen. Seiner Funktion als Soldat, Pilot und Aufklärer. Er schilderte, wie wir den Einbruch im Osten über Russland besser strategisch organisieren hätten sollen und kam nach seinem Briefing zu der Besten Sache. Antisemitismus und allgemeinem Rassismus. Ich höre zu, wollte höflich sein.
Aber da platzte mir der Kragen. Ich suchte zwei Minuten in mir nach den richtigen Worten um ihn weder zu verletzen, ihm aber klar zu machen, dass wir in einer anderen, moderneren, die-Zeit-hinter-uns-gelassen-Welt leben.
Er redete in der Zeit darüber, dass die ganzen Italiener, Türken und weiß der Geier (nähere Rassenbeschreibungen habe ich weggelassen, denn das möchte ich keinem zumuten), wie sie in unser Land kamen, was sie machten und wo sie hin gehörten oder mit ihnen angestellt werden sollte. Doch da schwenkte er um:
Er redete, wie er „Dem Russen“ entkommen ist, sich versteckte, zurück lief, Potsdam und andere Orte besuchte um nicht festgenommen zu werden um in ein Arbeitslager zu kommen.. doch dann fing die antisemitistische Komponente wieder an.
Ich sagte in einem lauten, bestimmenden Ton, dass ich das nicht hören wolle. Das all das in der Vergangenheit liegt und rassistische Äußerungen und Nazi-Verbundenheit im Jahre 2010 Dinge sind, die von Inkompetenz und Wahrnehmungstrübung zeugen.
Er nickte und grummelte, “ja, so sind sie, die Ausländer“.
Ich sagte ihm, dass ich kein deutscher sei (was nicht stimmt, ich aber zum Testen verwendete, weil mir die Reaktion wichtig war). Er sagte daraufhin gleich, dass er sich das schon dachte und bevor er ansetzen konnte was zu sagen, verriet ich ihm, dass ich doch deutscher bin und mir seine Reaktion den Tag verschönert hatte.
So ein einfältiger Mensch ist mir selten begegnet. Das sagte ich ihm. Und, dass ich nun kein Wörtchen mehr über ein Thema hören möchte. Immer noch bestimmend.

Er war ruhig. Zwei Minuten lang. Ich schaute gerade aus auf den Gang. Noch keiner von uns wurde in die Sprechstunde gerufen.
Dann fing er wieder an.
Doch bevor er seinen Satz beenden konnte, wurde er ins Behandlungszimmer gerufen. Vom Arzt persönlich.
Als er begrüßt wurde, fing er mit dem an, wo er bei mir aufhörte zu reden.
Der Arzt bat den Herrn Im-Wald-lebender-Wild-Hund und Der-Berufszweig-der-dem-Bäcker-das-Mehl-mahlt in sein Behandlungszimmer, doch bevor er die Tür schloss, drehte er sich zu mir um, schaute zu mir, verdrehte die Augen und sprach mir mit seinem Gesichtsausdruck danach mein Mittleid aus, dass ich ihn so lange habe ertragen müssen aus.

Made my Day.
 
die abstrusität und verkorkstheit in kombination mit einföltigkeit UND dem blick des arztes, der mir beipflcihtete, dass dem so ist verleitete zu "made my day"
 
Wartezimmer sind eine wahre Hölle. Man wird mit wildfremden Leuten auf engen Raum zusammengepfercht und ist ihnen wahllos ausgeliefert.
Als ich vor einigen Wochen wegen meiner Grippe beim Doc war, hatte ich auch so einen Horroraufenthalt. Ich komm ins Wartezimmer, nehme neben einer ca 70 jährigen Platz. Setz mich hin, sie grüßt und gafft mich an. Ich nehm eine Zeitschrift, sie gafft mich weiter an o.O
Dann fing sie an auf die Uhr zu sehen und genervt aufzustöhnen. Unsere Blicke kreuzten sich kurz, man konnte genau sehen wie sie erwartete, dass ich jetzt frag wie lange sie denn schon wartet oder so...
Ich tat nichts dergleichen, vertiefte mich wieder in meine Zeitschrift. Dann streckte sie ihren Kopf, guckte zur Rezeption, dann wieder auf die Uhr, stöhnte wieder genervt auf.
Kurz später kam noch eine alte Frau ins Zimmer. Das Mütterchen neben mir witterte die Gelegenheit auf Konversation und zog ihr "Gaffen, auf die Uhr gucken und stöhnen" Spiel bei der anderen alten Frau ab. Die sprang sofort drauf an und schon war ein wildes Geflame, Geläster und Geschimpfe über die Ärzte, Wartezeiten und ihre wertvolle, verschwendete Zeit entbrannt.

Ich finds immer wieder furchtbar, wie verbittert, frustriert oder sogar boshaft die Leute sind.

Das mit dem Antisemitismus etc ist dabei noch mal eine andere Sache. Auf der einen Seite geht das natürlich gar nicht. Auf der anderen Seite denke ich, ist es für alte Leute schwer, die mit dem Krieg aufgewachsen sind. Wenn ich zB meine Oma nehme, mit der hab ich mich mal drüber unterhalten, dass immernoch so viele älter Leute an dem Kram von damals festhalten. Da meinte sie, es ist halt für viele schwer umzudenken. Ihnen wurde die gesamte Kindheit über das Gewäsch aus der Nazizeit eingetrichtert, Hitlerjugend hier, BDM da, Propaganda wann man den Radio auch nur einschaltete. Fast jeder ist böse und schlecht, nur der Deutsche ist die Krönung der Schöpfung.
Und als der Krieg vorbei war, sollten sie von einem Tag auf den anderen sofort vom Gegenteil überzeugt sein. Und nunja, die einen haben es geschafft umzudenken, die anderen nicht.
Das ist natürlich keine Entschuldigung oder sonst was, aber eine Sichtweise bzw ein Ansatz, der das ein etwas anderes Licht auf die Sache wirft.
 
Das Grundproblem wird auch die Zeit nicht lösen. Wie hier schon richtig angemerkt wurde gibt es eigentlich nur einen vernüntigen Weg. Nicht verteufeln sondern damit auseinandersetzten und Lernen. Es kann eigentlich nur ein Miteinander geben.
Leider haben wir da alle noch viel zu lernen (wenn man sich so in der Welt umschaut).
Wir, die uns darüber Gedanken machen sind somit schon den ersten Schritt gegangen.
 
Die Diskussionen und Debatten der letzten Wochen haben doch mal wieder eindrücklich gezeigt, dass das kein Phänomen alter Generationen ist, sondern dass die Angst vor der Fremde durch vielschichtige Gründe tief in Gesellschaften verwurzelt ist.
Ich bin froh, dass ich keinen Krieg miterleben musste und "nur" in einem bizarren System aufgewachsen bin.
 
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