Natürlich war es wieder Leireth, die sie abholen kam. Ylaria seufzte, als sie das energische Klopfen vernahm. Nur Leireth polterte so gegen ihre Tür, um sie dann ohne auf Antwort zu warten ganz selbstverständlich ebenso energisch aufstiess. Mit verschränkten Armen kam sie im Türrahmen zu stehen und musterte Ylaria mit kaum versteckter Abscheu. Ihre Lippen, die sich zu einem höflichen, aber falschen Lächeln verzogen hatten, konnten darüber nicht hinwegtäuschen.
„Guten Tag, Ylaria. Bist du bereit für deinen.. Ausgang?“, sprach Leireth und behielt ihr Lächeln aufrecht.
„Gleich.. Nur noch meine Hose“, murmelte Ylaria. Sie sass noch halb angezogen auf dem Bett. Es war nicht das erste Mal, dass Leireth sie halbnackt angetroffen hatte, einfach weil sie es als nicht nötig erachtete, nach dem Klopfen mit dem Eintreten zu warten. Ylaria hatte es aufgegeben, sie darum zu bitten. Leireth sah in ihr wohl eine Art Gefangene in einer Zelle. Bei Gefangenen musste man nicht auf eine Antwort warten. Bei Gefangenen trat man einfach in die Zelle.
Ylaria verzog ihr Gesicht zu einem schiefen Grinsen, als ihr dieser Gedanke kam. In gewisser Weise war sie eine Gefangene. Eine Wache war vor ihrer Tür postiert, Tag für Tag, stunde für Stunde. < Zu eurer Sicherheit >, gingen ihr Tyballins Worte durch den Kopf. < Zu meiner Sicherheit.. oder zu eurer? > , dachte sie zum wiederholten Mal. Zurzeit drohte ihr ja wohl am ehesten Gefahr von Leireth, wenn das so weiterging.
Die Hose lag immerhin schon neben ihr auf dem Bett. Ylaria griff danach, und schlüpfte hinein, versuchte gleichzeitig, Leireths Blick aus dem Weg zu gehen. Es schmerzte sie, Leireths unverhohlene Verachtung zu spüren. Mit Hass wäre sie klargekommen, aber nicht mit dieser Verachtung. Vor allem nicht dann, wenn sie sie nicht verdiente. Mit Leireth zu argumentieren hatte sich allerdings als ebenso unsinnig erwiesen wie die Bitte, dass sie vor der Tür kurz innehalten möge. Leireth lächelte alle ihre Argumente zuckersüss weg und nickte wie selbstverständlich. Die Verachtung in ihren Augen blieb weiter bestehen, Ylaria konnte noch so sehr beteuern, sie wäre keine Verräterin oder Blutelfensympathisantin. Mehr als einmal hatte sie darüber gerätselt, woher Leireths glühender Hass gegen die Blutelfen kam. Zu fragen hatte sie nicht gewagt. Vermutlich hätte sie sich umso verdächtiger gemacht dadurch.
„Du weisst schon, dass du grade deine Zeit vertrödelst? Mir ist's ja egal, aber du hast zwei Stunden, keine Minute mehr“, unterbrach Leireth ihre Gedankengänge. Ylaria nickte und zischte „Danke“, ehe sie schnell in ihre Schuhe schlüpfte und den hölzernen Stock in die eine Hand nahm. Sie benötigte ihn beim Gehen schon seit zwei Tagen nicht mehr, aber es kam ihr seltsam vor, ohne ihn in die Öffentlichkeit zu treten.
„Bin bereit“, sagte sie. Brionna hatte sie ermahnt, ihr geheiltes Bein nicht länger zu entlasten als nötig. Es musste stark werden. Dennoch stützte sie sich auf den Stock ab, als sie Leireth folgte, die wie immer anfangs viel zu schnell lief. Sie machte sich keine Illusionen – sobald sie den Stock ablegen würde, wüsste auch der allerletzte Bewohner oder Gast des Allianzquartiers in Dalaran, dass sie nicht wegen ihrer Verletzung jeden Tag in den Garten eskortiert wurde. Dann würden alle wissen, dass sie eine Gefangene war. „Zu meinem eigenen Schutz, ja ja“, murmelte sie leise, so dass Leireth sie nicht hören konnte.
Wenig später waren sie im kleinen Garten angekommen, der nahe an der Mauer gebaut worden war, die das Allianzquartier umgab. Dort, wo der Garten angelegt worden war, grenzte die Mauer das Quartier nur noch vor der Luft ab. Im alten Dalaran wäre diese Mauer wohl nicht nötig gewesen, aber nun, da die Stadt so hoch über dem Kristallsangwald schwebte, umgab sie die ganze Stadt. Direkt an der Mauer standen einige Sonnenfruchtbüsche, deren Blätter an der Spitze braun verfärbt waren. Ylaria trat zu einem der Büsche, wie sie es oft getan hatte in den letzten Tagen, seit sie hierherkommen durfte. Jeden Tag entdeckte sie mehr Blätter, die diese Verfärbung trugen. „Was das wohl ist?“, wunderte sie sich.
Leireth hatte sich nahe von ihr postiert, ungefähr einen Meter entfernt. „Die Kälte“, gab sie zur Antwort, schaute Ylaria dabei aber nicht an.
„Wirklich? Hm.. nun ja, das ist nachvollziehbar. Es ist viel kälter hier“, antwortete Ylaria. „Könnte es nicht auch eine Krankheit oder so sein?“
Leireth antwortet nichts, trat allerdings näher zum Busch und nahm eines der Blätter in die Hand, zerrieb es zwischen den Fingern. „Im Sommer geht es ihnen besser als im Winter. Ich glaube nicht, dass es eine Krankheit ist“, sagte sie. Für einmal schwang in ihrer Stimme keine Verachtung mit. Sie zuckte mit den Schultern.
„Du kennst dich gut damit aus“, stellte Ylaria fest.
„Ein bisschen.“ Leireth drehte sich wieder um und ging wieder zu ihrer vorherigen Position zurück.
Ylaria seufzte und erhob sich aus der halb knienden Position, die sie eingenommen hatte, um die unteren Blätter zu begutachten. Ihre Knie knacksten unangenehm, als sie sich in Bewegung setzte, und eine Runde auf den mit Kies bestreuten Wegen drehte. Trotz des kalten Wetters hatte ein eifriger Gärtner Beete mit verschiedenen Gewächsen angelegt. Ylaria hatte bereits bei ihrem ersten Besuch ein Beet mit Friedensblumen, Silberblattsträuchern und Erdwurzelranken ausgemacht. Bei dem Gärtner musste es sich um einen Menschen gehandelt haben, waren es doch Kräuter, die in den menschlichen Gebieten sehr oft vorkamen und für allerlei Zwecke verwendet wurden. Weiter hinten im Garten befand sich ein Beet mit weiteren Nutzpflanzen, die allerdings eher in den nördlicheren Gebieten der östlichen Königreiche vorkamen. Ein weiteres Beet war mit Kräutern aus dem Süden bepflanzt worden, die allerdings längst nicht mehr gediehen. Und dazwischen überall: Blumen. Verschiedenfarbige Rosensträucher, kleine Wilddornrosenranken, die sich um die zwei Bäumen rankten, Blumen mit blau-violetten Blütenkelchen und kleine, runde, rote Blüten, die direkt über dem Boden hingen, und die Ylaria nicht kannte. So viele Blumen, denen sie noch nie begegnet war, aber auch viele, die sie aus Quel'thalas kannte.
Es war nicht das erste Mal, dass Ylaria die Schönheit dieses Gartens bewunderte. Sie strich zwischen den Beeten umher, den Stock hatte sie längst auf eine der steinernen Sitzbänke gelegt. Ihr Bein tat nicht mehr weh, und hier sah sie niemand ausser Leireth, deren Kommentare ihr gerade egal waren. Nur manchmal dachte sie, ihren starren Blick auf sich zu spüren, aber auch das kümmerte sie gerade nicht. Tief sog sie die frische Luft in sich ein, die so kurz nach dem Mittag nicht mehr beissend kühl war.
Allzu lange machte ihr Bein die ungewohnte Bewegung nicht mit. Lange bevor Ylarias Bewegungsdrang gesättigt war, musste sie sich auf eine der Steinbänke setzen. Sie hatte das bohrende Gefühl, dass die wenige Bewegung, die sie hatte, dafür mitverantwortlich war, dass sie ihr Bein noch keine längere Zeit belasten konnte.
Es vergingen nur wenige Momente, ehe Leireth neben ihr stand. Von ihrem Beobachtungsposten hatte sie keinen guten Blick auf die Bank gehabt, die Ylaria sich ausgesucht hatte. Ylaria hatte sie natürlich mit Absicht ausgesucht, aber gleichzeitig war sie sich bewusst, dass Leireth ihr sofort folgen würde.
„Schon fertig mit deinem Spaziergang?“, fragte Leireth. Ylaria wusste nicht, wie sie es tat, aber sie schaffte es, dass das Wort „Spaziergang“ wie etwas sehr Schlimmes klang.
„Ja, mein Bein tut weh“, erwiderte sie nur und ging auf die Provokation nicht ein.
„Du solltest es mehr bewegen“, grinste Leireth. „Oh, ich vergass, du darfst ja nicht raus“, setzte sie mit geheuchelter Anteilnahme nach.
Ylaria seufzte. „Weisst du, je öfters du es wiederholst, desto abgegriffener wird es. Und treffen kannst du mich damit schon gar nicht mehr.“
„Ich würde dich doch niemals damit treffen, woll-“
Ylaria schnitt ihr das Wort ab. „Drachenfalkenpisse. Erzähl keinen Unsinn. Warum meldest du dich eigentlich ständig für diesen Bewachungsdienst, wenn du mich doch so sehr verabscheust? Und glaub' ja nicht, ich sehe nicht hinter dein falsches Lächeln“, sprudelte es aus Ylaria heraus. Bisher hatte sie sich jeden Tag der vergangenen Woche zurückgehalten, in der Leireth sie in ihren „Freigang“ eskortiert hatte.
Das Lächeln verlor sich von Leireths Lippen. „Ich wurde zugeteilt“, gab sie verärgert zur Antwort.
„Das ist nicht wahr. Brionna hat mir gesagt, dass sie mich gerne weiterhin begleitet hätte. Und auch Verian sagte, dass du dich freiwillig gemeldet hast. Natürlich dachte er, du willst dich mit mir vertragen. Das habe ich auch gedacht, aber es scheint nicht so.“
Leireth drehte den Kopf und stützte sich etwas auf ihren Magierkampfstab, den sie mit sich trug. Unnötigerweise, wie Ylaria fand. Sie würde ja kaum abhauen können, mit ihrem noch nicht belastbaren Bein und den Nachwirkungen des Blutdistelpulvers, die ihr zu schaffen machten. „Ich traue niemandem zu, dich gut zu bewachen.“
„Leireth“, seufzte Ylaria. „Ich bin doch keine.. Schwerverbrecherin.“
„Ach.. Nicht? Erzmagister Tyballin sieht das anders.“
„Er denkt nur, ich wüsste, wo sich dieses dämliche Artefakt befindet“, erklärte Ylaria nicht zum ersten Mal.
„Was du ja auch tust“, antwortete Leireth giftig. Sie hatte mittlerweile jegliche geheuchelte Freundlichkeit aufgegeben.
„Natürlich“, Ylaria rollte mit den Augen. „Und sobald ihr mich nicht mehr beobachtet, springe ich auf den erstbesten Windreiter, hole es aus dem Versteck – das ihr übrigens bereits gründlich durchsucht habt, nehme ich an – und laufe dann über zu den Sin'dorei, zu denen ich urplötzlich aufgrund einer einzigen Begegnung eine grosse Sympathie hege, obwohl ich dem Silberbund und den Quel'dorei seit dem Fall Quel'thalas loyal diene. Das klingt sehr logisch, natürlich.“
Leireth schnaubte nur.
„Du glaubst das wirklich?“, seufzte Ylaria. Bei Leireth waren wohl Hopfen und Malz verloren.
„Wer weiss, wie lange du schon hinter den Kulissen für die verdorbenen Elfen gearbeitet hast“, sprach sie langsam und wandte ihren Blick wieder Ylaria zu. „Nur wegen dir ist unsere ganze Mission doch gescheitert!“
Ylaria starrte sie an. Sie hatte schon einige Anschuldigungen von Leireths Lippen gehört, aber diese noch niemals. Sie war so absurd, dass sie direkt aus einem der intrigenhaften Theaterkomödien hätte stammen können, die man früher am Hofe des Königs in Silbermond so gerne aufgeführt hatte.
„Du.. spinnst doch wohl. Erkläre mir mal, wie ich bitteschön einen Frostwyrm auf mein Kommando hätte aufwecken können, ja?“ Ylaria tippte sich an die Stirn.
„Du hast dir die Kommandos der Wyrmjäger der Festung Wintergarde besorgt und uns dann zielsicher in die Lockroute der Wyrmjäger gelockt!“, keifte Leireth.
Ylaria wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. „Ach ja.. Weil ich ja auch die Anführerin unserer Gruppe war“, gab sie schwach zurück. Langsam wurde sie richtig wütend auf Leireth. Bisher hatte sie meistens so getan, als bewirkten Leireths Bemerkungen und giftige Worte bei ihr nichts, aber sie hatte es allmählich satt.
„Du hast sicher Feuerblüte bestochen!“, fuhr Leireth fort. Ylaria fragte sich, ob ihr überhaupt bewusst war, wie sehr sie sich in ihren eigenen Beschwörungstheorien verwickelte. Und sie fragte sich zum zweiten Mal an diesem Tag, warum Leireth einen solchen Hass verspürte, dass sie irrational wurde.
Noch bevor sie eine Antwort geben konnte, legte sich eine Hand auf ihre Schulter, übte sanften Druck aus. „Streitet ihr schon wieder?“, sagte Verian und lächelte die beiden an. Leireth entfuhr nur ein „Hrmpf“, dann versuchte sie sofort, Verian anzulächeln. Es sah irgendwie missglückt aus, stellte Ylaria nicht ohne eine gewisse Genugtuung fest.
„Wir streiten nicht, wir unterhalten uns nur“, sagte Ylaria und lächelte ihren besten Freund an, der sich mittlerweile Leireth genähert hatte, und eine Hand auf ihren Rücken legte.
„Warum setzt du dich nicht zu Elorn in die Taverne und trinkst ein Glas Wein? Ich kann das hier für dich übernehmen, du hattest doch noch Nachtschicht. Du bist bestimmt müde“, sagte er und strich mit der Hand mehrmals auf und ab, liebkoste auch ihren Nacken.
„Ich muss sie aber bewachen“, gab Leireth zurück. „Ach komm, du weisst, dass du mir vertrauen kannst. Ich würde zudem gerne ein wenig mit ihr plaudern, das ist nicht verboten, das weisst du.“ Leireths Lippen verzogen sich zu zwei dünnen Strichen. „Komm, ich massiere dich auch nachher, wenn wir beide heute Abend zusammen sind“, sprach Verian lockend weiter. Ylaria fand, dass er mit seiner Stimme und seinem Körper ebenso überzeugend wirken konnte, wie Leireth, wenn er es denn wollte. Nur machte er weniger oft davon Gebrauch.
„Aber du darfst sie nicht aus den Augen lassen“, versuchte Leireth sich noch zu wehren und blickte Verian versucht streng an. „Natürlich nicht. Ich will sie doch auch beschützen, genau wie du, meine Liebe.“
„Wie.. natürlich will ich sie beschützen.. Wir wollen doch nicht, dass ihr etwas Böses geschieht.“ Bei den letzten Worten wandte sie ihren Blick zu Ylaria.
< Du Lügnerin. Du bist doch schon dabei zu überlegen, wie du mich am schmerzhaftesten töten kannst, und dabei gleichzeitig möglich lange dein Vergnügen daran findest>, ging es Ylaria durch den Kopf. Sie blickte zur Seite.
„Also gut. Aber bleib nicht zu lange bei ihr. Ich habe noch etwas vor mit dir“, säuselte Leireth und stolzierte hüftschwingend davon.
Verian wandte sich zu Ylaria. Sein ehrliches, freundliches Lächeln war eine Wohltat. „Guten Abend übrigens“, sagte er und trat zu ihr, reichte ihr eine Hand. „Darf ich die Dame zu ihrem Gemach begleiten?“
„Wenn du hier eine Dame siehst.. Dann gerne.“ Ylaria schmunzelte, ergriff seine Hand und liess sich hochziehen. „danke, dass du mich vor ihr gerettet hast“, sagte sie gleich darauf und seufzte. „Ich weiss echt nicht, wie sie das schafft, dich anzulächeln und gleichzeitig mich mit Blicken zu ermorden.“
Verian schmunzelte. „Ach, du übertreibst. So schlimm kann es doch nicht sein.“
„Verian.. Ich.. sage lieber nichts genaues, aber.. doch. Ich weiss echt nicht, warum sie sich freiwillig meldet, mich zu eskortieren.“
Verian antwortete nichts, führte sie aus dem Garten heraus und durch die Gänge des Allianzquartiers, bis sie schliesslich vor ihrer Kammer im Gang der Silberbundler standen. Verian hielt ihr die Tür auf.
Ylaria setzte sich auf ihr Bett, während Verian die Kammer abschloss. „Ich wäre gerne noch länger draussen geblieben“, seufzte sie und schlüpfte aus den Schuhen, massierte ihren rechten Unterschenkel.
„Sie tut es, weil sie dir den Tag vermiesen will, schätze ich“, sagte Verian, während er sich einen Stuhl nahm, ihn nahe bei Ylarias Bett hinstellte und darauf Platz nahm. „Mach dir nicht zu viele Gedanken darüber. Sie ist... manchmal etwas irrational.“
„Etwas ist gut“, gab Ylaria zurück. „Sie dachte, ich hätte Feuerblüte bestochen.“
„Ich habe es gehört“, sagte Verian ruhig. „Ich werde mit ihr sprechen heute Abend. Sie wird dann hoffentlich etwas netter zu ihr sein.“
„Danke“, murmelte Ylaria. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie zerrissen sich Verian fühlen musste. Er liebte Leireth schon so lange, und nun, da sie ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte, musste er sie plötzlich vor seiner langjährigen Freundin rechtfertigen. „Wie.. geht es sonst so mit ihr?“, fragte Ylaria. Eigentlich wollte sie es nicht wissen. Verian hatte nur wenig von der Beziehung zwischen ihm und Leireth erzählt, die sich seit der Rückkehr nach Dalaran immer mehr entwickelt hatte. Ylaria vermutete, dass dies mehr aus Rücksicht zu ihr geschah, denn aus dem Grunde, dass er nicht erzählen wollte. Sie war es ihm schuldig, zu fragen.
„Ich weiss es zu schätzen, dass du fragst“, antwortete Verian. „Auch wenn du es eigentlich nicht wissen willst.“ Auf seinen Lippen lag ein leichtes Schmunzeln.
Ylaria zog sich stöhnend die Decke über den Kopf. „Bah.. warum kennst du mich so gut?“
Verian lachte schallend, ehe er an ihrer Decke zog, und ihren Kopf wieder zum Vorschein brachte. „Warum nur.. Das ist eine gute Frage“, schmunzelte er. „Nun, wenn du es wissen möchtest – es läuft sehr gut. Auch wenn sie ab und an über dich herzieht, ich habe es ihr verboten, dich in meiner Anwesenheit des Verrats zu bezichtigen. Und.. nun ja.. sie ist sehr anhänglich“, fuhr er ernster fort. „Aber wir müssen nicht über sie sprechen, wenn du nicht willst. Ich würde lieber gerne wissen, wie es dir geht.“
„Willst du das wirklich wissen?“, gab Ylaria zurück. „Wie es halt jemandem geht, der zu Unrecht verdächtigt wird, eingesperrt ist, mit Schmähungen konfrontiert wird, Nachwirkungen des Pulvers..“ Noch bevor sie ihren Satz beenden konnte, sprach Verian dazwischen.
„Nicht diese äusseren Umstände. Darüber hast du dich schon mehrmals beklagt. Ich möchte wissen, wie du dich fühlst. Ich meine.. wirklich fühlst. Wir beide wissen, dass du auf dieser Reise nicht nur eine Verletzung erlitten hast.“
„Wie meinst du das?“, fragte Ylaria.
Verian rutschte auf seinem Stuhl etwas hin und her. „Gesetzt den Fall, der .. Spion wäre kein Spion gewesen, sondern ein normaler Quel'dorei, was wäre dann wohl passiert?“
„Wir sind zu alt für das 'Was-wäre-wenn'-Spiel“, murmelte Ylaria. Warum fragte Verian sie das? Sie hatte sich diese Frage doch schon genügend oft gestellt. Eigentlich wollte sie sich nicht mehr daran erinnern, auch wenn sie damit nicht sehr erfolgreich war.
Verian seufzte und knetete seine Hände. Seine Finger waren etwas aufgedunsen, wie sie es oft nach einer langen Wachschicht waren. „Das sind wir wohl. Aber dennoch.. Ich weiss nicht, ob ich richtig liege, aber ich glaube, ich kenne' dich lang genug“, fuhr er fort. Er sprach langsamer als üblich, als müsse er die richtigen Worte finden. „Du wirkst traurig.“
„Ich wirke nicht nur traurig, ich bin traurig. Ich bin furchtbar genervt, aber das wärst du in diesen Umständen auch“, wiegelte Ylaria ab.
„Genervt, ja. Frustriert, ja. Beleidigt, ja. Aber traurig? Warum bist du traurig? In so einer Situation wäre ich nicht traurig. Ich würde protestieren, ich würde.. Versuchen, die anderen zu überzeugen. Aber du?“ Verian machte eine weit schweifende Geste mit der Hand. „Du bist sogar nett zu Leireth, obwohl die Ylaria, die ich kenne, solche Worte niemals zulassen würde“, sagte er etwas leiser. Seine Stimme klang besorgt.
Ylaria rieb sich die linke Schläfe, antwortete nichts.
„Also entweder.. muss ich annehmen, dass ein Teil der Beschuldigungen wirklich auf dich zutrifft und dass Tyballin dich zu Recht hier festh-“
„Was? Wie kannst du das glauben?“, fuhr Ylaria dazwischen.
„Scht.. lass mich ausreden. Also.. ich muss annehmen, dass Tyballin dich zu Recht hier festhält.. Oder, ich komme zum Schluss, dass dich etwas anderes mehr beschäftigt. Und mir fiele nichts anderes ein als.. Der Spion“, beendete er seinen Monolog. Dann lehnte er sich wieder zurück.
Ylaria blickte ihren besten Freund an. Verian redete gern, aber meistens waren seine Gesprächsthemen nicht derart tiefgründig. Klar konnte er gut über den Sonnenbrunnen und halb Azeroth philosophieren, aber er war niemals gut darin gewesen, Gefühle nachzuvollziehen oder gar zu besprechen. Eine Eigenschaft, die Ylaria bei vielen Männern bemerkt hatte. Und die wohl auch dazu geführt hatte, dass Verian gegenüber jegliche subtile Andeutung immun gewesen war, die zu äussern sich Ylaria getraut hatte. Als sie noch in ihn verliebt gewesen war, nicht in..
„Warum.. ist das so wichtig.. für dich?“, murmelte sie. Entsetzt spürte sie Tränen aufsteigen und blinzelte mehrmals. „Willst du dich darüber lustig machen?“ Sie tat ihm Unrecht mit diesem Vorwurf, das wusste sie. Aber in diesem Moment.. sie fühlte sich wie ein in die Ecke gedrängtes Bachtatzenweibchen, dass sich mit Zähnen und Krallen wehren musste.
Verian blickte sie ruhig an. „Du weisst, dass ich das nie tun würde. Ich sorge mich nur um dich. Warum frisst du es in dich hinein?“
Ylaria spürte die erste Träne ihre Wange herabrollen und drückte ein „Mist, verfluchter“, hervor. Sobald sie die Träne weggewischt hatte, sprudelten weitere aus ihr hervor. Sie schloss die Augen und barg das Gesicht in den Händen, kam sich erbärmlich vor. Es war so klischeehaft, wie sie hier als Gefangene sass, und dann fing sie auch noch an zu weinen.
Ein Arm legte sich um sie, und eine Hand griff nach der ihren, zog sie sanft von ihrem Gesicht weg. „Ich wollt' dich nicht zum weinen bringen“, sagte Verian sachte. „Aber ich kann dich nicht unglücklich sehen. Du bist sonst immer so fröhlich gewesen.“
„Ich kann nichts.. machen, Verian. Was soll ich denn tun? Ich versuch ihn ja, zu vergessen, aber.. das braucht halt seine Zeit.“ Ihre stimme zitterte, aber sie versuchte so klar zu sprechen wie möglich. „Bei der Sonne.. Ich will nicht weinen. Warum weine ich?“
„Weil du verletzt bist. Nicht nur am Bein. Glaube ich. Auch.. innen drin?“
„So ein Drachenfalkenmist“, murmelte Ylaria, während sie vergeblich versuchte, einige Tränen mehr aufzuwischen.
„Ich war mir so sicher.. In allem, Verian. In meiner Loyalität. Ich habe die Blutelfen verachtet, aber.. wie kommt es.. Nur weil er sich als Hochelf ausgegeben hat, konnte ich mich in ihn verlieben? Wie soll das den.. ich hätte es doch spüren müssen. Sie sind doch soviel anders als wir, sagen alle. Aber er war.. Er war nicht anders.“ sie zog die Nase hoch, sprach dann schnell weiter, ohne Verian anzublicken. Jedes ihrer Worte wäre allein schon Verrat, zusammengenommen könnten sie ihr den Tod bringen. Dennoch musste sie ihre Gedanken loswerden, die in ihr gärten.
„Sag es mir.. War er anders? Ich konnte nichts erkennen. Oder bin ich wirklich eine Verräterin? Die unbewusst sowieso eine Sin'dorei sein will? Konnte ich mich nur deswegen zu ihm hingezogen fühlen?“
Verian strich ihr beruhigend über den Rücken, so wie er es im Garten bei Leireth getan hatte. „Nein. Er wirkte nicht anders. Ich habe es auch nicht geglaubt. Und .. auch Imara nicht. Wenn sie es nicht merkt, wie hättest es du merken können“, versuchte er sie zu beruhigen. „Bedenke, er war ein Spion. Spione müssen sich gut anpassen können.“
„Ich weiss, aber.. ach.. ich hätte es merken müssen.“
„Ylaria, wie hättest du es merken sollen?“, wiederholte Verian. „Wichtiger ist doch die Frage.. Was willst du jetzt tun?“
Ylaria schniefte, dann blickte sie ihn an. „Wie.. was meinst du?“
Verian zuckte mit den Achseln. „Ich mein.. Du kannst ja nicht immer.. hier sitzen und ihm nachtrauern.“
„Ich trauere ihm nicht nach!“, sprach sie energisch.
„Nein. Du trauerst ihm nicht nach. Du trauerst nicht um ihn“, entgegnete Verian kryptisch.
„Wie meinst du das?“, schniefte Ylaria.
Verian seufzte, strich mit der Hand auf und ab, antwortete mehrere Atemzüge lang nicht. Ylaria blickte ihn an, während sie versuchte, ihre Augen zu trocknen.
„Ich.. Also.. ich weiss nicht, wie ich anfangen soll. Ich stelle dir eine Frage, und du .. bitte beantworte sie so genau wie möglich. Versuch nicht darüber nachzudenken, was irgendjemand hören wollen würde da drauf, sondern antworte, was du antworten willst“, sagte er dann und umschloss mit der freien Hand eine von Ylarias Händen.
„Ist.. aber..was?“
Verian fuhr fort: „Gesetzt den Fall, ich würde dir erzählen, dass er... Ich meine, wenn ich wissen würde, dass er dich sehen wollen täte, würdest du ihn wiedersehen wollen? Oder kommt das für dich nicht in Frage?“
Ylaria blickte ihn ungläubig an. „Was ist das denn für eine Frage? Gesetzt den Fall? 'wissen würde', 'wollen täte'? Was jetzt, weisst du oder weisst du nicht?“
Verian seufzte abermals und räusperte sich. „Also gut. Er hat sich mit mir in Kontakt gesetzt.“
„Er hat.. was? Was hat er gesagt? Sprich!“
„Er hat nichts gesagt, Ylaria. Er hat mir Papier mit ein paar Zeilen für dich gegeben. Heute, während der Vormittagswache.“
Ylaria richtete sich etwas mehr auf, während Verian sprach.
„Ich hab mir den Zettel nicht angeguckt. Ich habe mir aber ehrlich überlegt, was ich tun sollte. Ich hätte es melden sollen. Dass er versucht, dich zu erreichen. Aber ich konnte nicht. Nicht nur, weil das ein schiefes Licht auf dich werfen würd', nein, ich wollte dich zuerst fragen.“
„Bitte, gib mir den Brief“, bat Ylaria.
„Willst du ihn wirklich? Bist du sicher, dass das gut ist? Ich mein.. Du hast gerade geweint, weil du dich in ihn verliebt hattest?“
„Ich.. ja, ach.. bei Antonidas meterlangem Bart!“, fluchte Ylaria leise. „Ich.. dachte, er will mich.. er hätte mich nur benutzt.. Als Mittel zum Zweck, aber.. Was, wenn das wieder eine solche Finte ist, Verian?“
„Das könnte sein“, erwiderte er ruhig. „Das habe ich mir auch überlegt. Was wiederum die Frage aufgeworfen hat, warum er das tun sollte. Du bist ihm doch hier nicht mehr von nutzen. Es sei denn du weisst etwas, was ich nicht weiss?“ Verian blickte sie prüfend an.
„N.. nein, ich weiss nichts“, sagte Ylaria leise.
„Ich schätze, er ist entweder.. sehr töricht, oder sehr berechnend. Er hat sich mir kurz vor Mittag genähert, als ich Wache gestanden bin. Ich hätte ihn sofort töten oder festnehmen können. Er stand keinen Meter von mir entfernt und gab sich klar zu erkennen. Er wusste, was er tat. Ich frag' mich nur, zu welchem Zweck. Oder..“, er blickte Ylaria an, „er hatte keinen Zweck. Dann wäre er töricht. Oder.. verliebt.“
In Ylarias Kopf pochte dumpfer Schmerz. Noch immer waren ihre Augen feucht von den Tränen, die sie vergossen hatte.
„Ich weiss wirklich nicht.. Du bist mir sehr wichtig, Ylaria. Aber ich komme zu keiner klaren Entscheidung, was ich tun sollte. Ich weiss, was ich tun müsste, aber ich weiss nicht, ob ich das kann. Nicht, wenn ich damit riskiere, dass du noch trauriger sein wirst, als bisher. Vermutlich werde ich das bis zu meinem Lebensende bereuen, aber ich hätte s dir nicht verschweigen können.“ Verian liess Ylarias Hand los und ballte sie kurz zur Faust. „Vermutlich hat dieser verfluchte Spion das auch ganz genau gewusst, in welches Dilemma er mich da steckt“, brummelte er. Empörung schlich sich neben der Sorge in seine Stimme.
„Ach.. Verian.. Bitte, mach dir nicht zu viele Gedanken, ich.. Ich bin dir sehr dankbar, dass du es mir erzählt hast“, sagte Ylaria leise. Mittlerweile hatte sie ihre Stimme wieder im Griff.
„Wirklich? Und.. was möchtest du nun tun? Soll ich .. Oder was soll ich für dich tun?“
„Ich.. bitte gib mir den Brief. Ich möchte ihn zuerst lesen, bevor ich eine Entscheidung treffe. Du weisst nicht, was darin steht?“
„Ich schnüffle nicht in anderer Leute Post“, brummelte Verian, und griff in die lederverstärkte SSilberbundweste die er trug. „Ausserdem... Je weniger ich weiss, desto eher bringe ich mich selbst in Bedrängnis, sollte das hier böse enden.“
Ylaria schmunzelte. „Du bist sehr klug, habe ich dir das schon einmal gesagt?“
„Ich bin nicht klug. Ich riskiere hier meine Laufbahn und meinen Kragen!“, rief er in halb gespielter Empörung, ehe er das besagte zusammengefaltete Stück Papier aus seiner Uniform hervorzog und es ihr reichte. Als Ylaria danach griff, und es nehmen wollte, hielt er es noch kurz fest, beugte sich etwas vor und blickte ihr direkt in die Augen.
„Ylaria, ich bitte dich, lass nicht zu, dass er dich erneut benutzt. Sag mir bitte, sobald du denkst, dass er dich irgendwie benutzen will.“
„Ist gut“, versprach Ylaria. „Danke, Verian.“
Verian nickte, erhob sich vom Bett. „ich weiss, es ist dämlich das zu sagen, aber ich mach's trotzdem.. Wenn man verliebt ist, sieht man manchmal nicht alles, was man sehen sollte. Ich kenn'... ich kenn' das zu gut. Aber... Bitte. Versuchs trotzdem“, brummte er. Bevor Ylaria etwas antworten konnte, drehte er sich mit einem genuschelten „Bis später“ um, schloss die Tür auf, und verliess Ylarias Kammer.
Ylaria legte sich hin, atmete tief durch. Dann faltete sie die Nachricht auseinander.
XXXX
OOC: Vielen, vielen Dank für die Geduld, falls ihr die bis hierhin hattet.