2 Jahre Nachtdienst - die Nachbetrachtung

grandmastr

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Als ich mit meinem Studium in Soziale Arbeit angefangen habe, suchte ich einen Nebenjob in dem Bereich. Ich habe mich auch bei anderen Stellen beworben, unter anderem auch in einer Tankstelle. Dennoch ist es natürlich besser direkt ein wenig Praxiserfahrung zu sammeln.

Ich fand auch eine Stelle, bei der ich jetzt seit mehr als 2 1/2 Jahren tätig bin. Ich wurde als Krankheitsvertretung in einer Einrichtung für psychisch behinderte Menschen eingestellt. Nach etwa einem halben Jahr kam dann der Mitarbeiter zurück, den ich vertreten habe.

Im Mai 2011 wechselte ich in den aktiven Nachtdienst, so nenne ich es zumindest. Das bedeutet, dass ich nachts wach bleiben muss und nicht schlafen kann (im Gegenzug dazu die Schlafbereitschaft).

Nun bin ich mit meinen 30 Jahren durchaus schon bei der einen oder anderen kulturellen Veranstaltung gewesen, habe viele auch mitorganisiert. Nahezu jeder kennt es mal eine Nacht durchzumachen, sei es irgendwo auf einer Party oder beim Zocken, beim quatschen mit Freunden oder sonstwo. Es ist aber überhaupt nicht vergleichbar mit dem Nachtdienst.

Wenn man irgendwo eine Nacht durchmacht ist es zunächst einmal nur eine Nacht und nicht mehrere hintereinander. Zum anderen muss man, zumindest hier, ständig konzentriert bleiben und auf Geräusche und ähnliches achten, dazu später mehr. Nachtdienste, um es allgemein zu sagen, sind für einen Körper schlicht sehr anstrengend. 9 Stunden am Stück wach bleiben (plus Hinfahrt und Rückfahrt) während es draußen dunkel ist und man normalerweise selbst tief schläft...gerade wenn man mehrere Nachtdienste hintereinander hat fällt es schon sehr auf. Der Tagesablauf sieht dann so aus, dass man nach der Arbeit heimfährt, ein wenig schläft und sich wieder vorbereitet auf die nächste Schicht.

Das zweite Problem an dem Nachtdienst in dieser Einrichtung ist etwas schwer zu beschreiben. In der Einrichtung wohnen etwa 3 Dutzend Bewohner, vielleicht auch etwas mehr. Die Bewohner haben unterschiedliche psychische Behinderungen, von Suchtproblemen über suizidale Gedanken und Psychosen ist wirklich alles dabei. Nun kannte ich die Bewohner durch meinen Tagdienst schon ein wenig, nur ist man nachts halt alleine und muss sich alleine um alles kümmern (außer bei sehr schweren Fällen). Richtig vorbereiten kann man sich darauf kaum (weder Tagdienst noch Nachtdienst). Dafür ist die Bandbreite möglicher Probleme einfach zu groß, es gibt immer wieder etwas neues. Egal ob es nun die (Neben)wirkungen von Waschpulver-durch-die-Nase-ziehen ist oder ein verbundener Arm von Borderlinern, Psychosen oder auch die Frage ob man so lieb sei einem kurz das Genick zu brechen...Die Probleme nehme ich ernst und kümmere mich auch darum aber sie sorgen ansonsten nur für ein Schulterzucken. Ab und zu gibt es dann auch selbst
für erfahrene Mitarbeiter dann doch noch Überraschungen, das bleibt nicht aus. Klienten, die auf die Idee kommen ihre Schulden wegen Fahrraddiebstahl und Schwarzfahren zu bezahlen indem sie Drogen aus den Niederlanden kaufen (der Versuch endete beim Kaufhausdetektiv, dem die Drogen angeboten wurden) bringen einen trotz aller Dramatik immer noch zum schmunzeln.

Aber selbst bei ruhigen Tagen, die es durchaus auch gibt, kann es immer wieder Störungen geben. Die Einrichtung ist eine Art "Touristenmagnet" für die Assi-Kids und Assi-Jugendlichen aus der Umgebung. Im Internet kursieren Videos und Berichte, die mit "dumm" noch höflich umschrieben sind. Die meisten Storys entstehen aus Unwissenheit oder sind schlicht gelogen (Kindergräber, Bewohner mit Zwangsjacken, schwarze Messen und Opferrituale). Besonders in der Ferienzeit im Sommer kommt es beinahe täglich zu Störaktionen, egal ob einfaches Hupen, schreien (auch durch Megafone), Böllerschmeißen oder auch Steine gegen Fenster. Ziel ist dabei klar die Provokation der Bewohner und sonst nichts. Die Gegenmaßnahme ist das Anzeigen von solchen Aktionen bei der Polizei, die auch erfreulicherweise schon einige erwischt hat. Dennoch halte ich die Situationen auch so für gefährlich und zwar nicht nur wegen der provozierten Bewohner. Steine schmeißen gegen Fenster, teilweise auch mehr als 10 Leute gleichzeitig auf dem Gelände
und dann alkoholisiert...das kann auch bei "normalen" Menschen übel enden.

Was bleibt nach den knapp zwei Jahren im Nachtdienst noch zu sagen?

Ich freue mich schon sehr auf den Tagdienst. Alleine schon um wieder eine gesunde Tagesstruktur zu haben und nicht mehr wie ein Zombie durch die Uni zu laufen. Ich freue mich auf darauf wieder mehr von meiner Woche zu haben (im Nachtdienst verliert man bei 1 Nachtdienst 2 Tage, bei 2 Nachtdiensten 3 Tage, usw.). Die Zeit will ich dennoch nicht vermissen. Ich habe in den zwei Jahren sehr viel dazu gelernt und bin auch ruhiger geworden gegenüber vielen anderen Dingen. Etwas anders formuliert habe ich mir eine kleine LMAA Mentalität zugelegt und bin durchaus in der Lage besser vorherzusagen was passieren kann.

Ich freue mich auch sehr darauf nicht mehr ganz so paranoid auf jedes kleine Geräusch zu achten. Das wird noch ein wenig dauern, ich habe mir in der Zeit angewöhnt selbst auf kleinste Geräusche zu achten weil sie auch bedeuten können, dass wieder einer der Bewohner rumschleicht. Meine Augen gehen ständig nach links und rechts, kontrolieren unbewusst die Umgebung nach Bewegung und möglichen Problemen.

Und ich freue mich ebenfalls auf eine gesündere Ernährung. Um nachts wach zu bleiben habe ich eine recht ungesunde Mischung an Essen und Trinken dabei, meistens Pepsi, Tee, Kekse, Minisalami und zwei Brötchen.
 
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