Veyilla016
Quest-Mob
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Es gibt viele Wege zu gehen. Und manchmal reicht ein einziges Leben dafür nicht aus. Als sich der junge Mann am frühen Morgen von seiner Familie verabschiedete, funkelte die Kühle der Nacht im satten Grün der Wiesen, und sein Herz klopfte wild vor Aufregung und den Schmerzen der Trennung.
Seine Mutter versuchte ihn nicht mehr umzustimmen. In den Tagen zuvor hatte sie ihn immer wieder beschworen: "Bleib doch hier! Lerne lieber etwas Sinnvolles! Nimm dir eine Frau und gründe eine Familie!" Aber der junge Mann war durch nichts zu überzeugen. In dieser kleinen Stadt kannte er jeden Winkel, den Staub der Strassen, die hektische Betriebsamkeit, die täglichen Lügen und das falsche Lachen, wenn die Menschen miteinander Geschäfte machten. Hier kam ihm alles so sinnlos vor. Er würde den Sinn seines Lebens irgendwo anders finden, davon war er überzeugt.
Die Freundlichkeit des Vaters war schon seit Tagen zerbrochen. Er hatte fest damit gerechnet, dass sein Sohn den Handelsbetrieb übernehmen würde. Auch am heutigen Morgen ließ er sich nicht sehen. Der Vater seines Vaters jedoch nahm ihn zum Abschied fest in die Arme und wünschte ihm alles Gute.
Der junge Mann wanderte den ganzen Tag, den nächsten und den darauffolgenden. Die Sonne brannte und die Straße war einsam und staubig. Sie lag da wie eine lange, tote Schlange in einer dürstenden, vor Hitze flimmernden Steppe. Sie schien ihm bald ohne Anfang und ohne Ende. Am Abend des dritten Tages, im schwachen Licht der untergehenden Sonne, entdeckte der junge Mann eine Hütte am Wegesrand. Auf einer Holzbank vor der Tür saß eine alte Frau und schälte kleine, wilde Kartoffeln. Als er vor ihr stand, erhob sie sich und wischte die Hände an der fleckigen Schürze ab. Dann bat sie ihn ins Haus. Auf dem einfachen Tisch stellte sie inzwischen Brot, Käse und Sauermilch bereit. Nach dem Essen, bei dem kein Wort gesprochen wurde, fragte sie:" Was führt dich durch die Steppe, mein Junge? Es ist sehr selten, dass hier jemand vorbeikommt." "Ich bin unterwgs um den Sinn des Lebens zu finden. Ich weiß zwar nicht, wo ich danach suchen soll, aber mir wird schon etwas einfallen, wenn ich nur lange genug darüber nachdenke."
Die Alte wischte mit der Hand einige Brotkrümel vom Tisch. "Wenn du eine Zeitlang hier bleibst, werde ich Dir den Sinn des Lebens zeigen", sagte sie dann. Natürlich willigte der junge Mann ein, und so blieb er bei der alten Frau. Er arbeitete für sie auf den steinigen Feldern, sorgte für die zwei mageren Kühe, fütterte ihren zahmen Falken und begleitete sie in die Steppe, um Heilkräuter zu suchen. An den Abenden erzählte ihm die Alte Geschichten und berichtete von längst vergangenen Zeiten.
Doch nach einem Jahr hatte er von der Frau noch immer nichts über den Sinn des Lebens gehört. Der junge Mann beschloss deswegen weiterzuziehen und sprach die Frau an: "Seit einem Jahr bin ich nun bei dir. Ich habe für dich gearbeitet. Du hast mir Geschichten erzählt und ich habe Dinge erfahren, die mir bisher fremd waren. Aber du hast nie vom Sinn des Lebens zu mir gesprochen. Morgen werde ich aufbrechen, um weiter zu suchen."
Die Alte seufzte und wischte sich die Hände an der fleckigen Schürze ab. "Ein ganzes Jahr warst du nun hier und hast nicht begriffen, was der Sinn des Lebens ist?" Der junge Mann starrte ein wenig verlegen in den Himmel, an dem die ersten Sterne das Tageslicht besiegt hatten: "Nein", flüsterte er. "Schau nicht in den Himmel, mein Sohn!" Die Alte stupste ihn mit dem Ellebogen. "Dort hinaus mußt du sehen!" Sie deutete mit beiden Armen in einer weitausholenden Bewegung über das Land. "Na,was siehst du da?" "Die Steppe! Sonst eigentlich nichts." Der junge Mann wurde trotzig. Was sollte das? Seit einem Jahr sah er diese Steppe. "Sonst nichts, sagst du?" Die Alte lächelte, und um ihren Mund legte sich eine kleine Spottfalte. "Sonst nichts? Die Steppe hat Dir jeden Tag den Sinn des Lebens gezeigt! Ist sie nicht grenzenlos, unendlich fast? Sie ist weit. Sie atmet Freiheit mit jedem Windhauch - das ist der Sinn des Lebens! Wie die Steppe muß das Leben sein, sonst hast du es verfehlt!" Daraufhin nahm die Alte wieder eine Kartoffel aus dem Korb, schälte sie und sprach kein Wort mehr.
Am nächsten Morgen verabschiedete sie sich jedoch herzlich von dem jungen Mann, gab ihm Brot, Käse und eine Wasserflasche mit. Als er sich schon abwenden wollte, hielt sie ihn zurück: "Nimm den Falken mit", sagte sie. "Er hat sich an dich gewöhnt und außerdem soll er dich immer an das erinnern, was ich dir gestern gesagt habe. Der Falke ist ein Kind der Steppe."
Gerne nahm der Mann den Falken mit. Meist flog dieser hoch über ihm, kreiste manchmal bis zum fernen Horizont, kam aber immer zurück auf die ausgestreckte Hand des jungen Wanderers. Nach vielen Tagen hatte er die Steppe hinter sich gelassen und stand am Fuße eines hoch aufragenden Gebirges. Die wilden Schluchten und schroffen Felsen schreckte ihn. Trotzdem ließ er sich in seinem Weg nicht beirren. Er wagte sich in die geheimnisvolle Stille einer engen Schlucht, die den Himmel über ihm auszulöschen schien. Nur das Echo seiner eigenen Schritte und das gelegentliche Krächzen des Falken, der ein wenig ängstlich auf seiner Schulter saß, begleiteten ihn auf dem engen felsigen, verwirrend verschlungenen Pfad. Als es Abend wurde, entdeckte er unter einem mächtigen Felsvorsprung ein kleines, schiefergedecktes Haus. Der Wind wirbelte durch den dünnen, weißen Rauch, kaum daß er aus dem kleinen Schornstein kam.
Der junge Mann klopfte an die schwere Holztür, und nach einiger Zeit öffnete sich diese knarrend und ächzend, gerade so, als hätte sie sich schon lange nicht mehr bewegt. Ein weißhaariger Alter schaute ihn verwundert an. "Ein fremder Wanderer? Hier?" Er schien sich zu wundern, aber gleichzeitig lachte Freude aus seinen Gesichtsfalten. "Es ist lange her, seit jemand an diese Tür geklopft hat. Komm herein, sei willkommen und ruh dich aus."
Nachdem sich der Junge am Ofen aufgewärmt hatte, erklärte er, warum er unterwegs ist. "Wenn du bei mir bleibst", sagte der Alte und rieb sich dabei die Hände über dem Ofen,"werde ich dich lehren, den Sinn des Lebens zu finden."
Der junge Mann zögerte nicht einen Atemzug. Dankbar nahm er die Einladung des Alten an. Er versorgte dessen Schafe, lernte Butter stampfen, sammelte Holz für die harten Wintermonate, und an stillen Abenden erzählte ihm der Alte Geschichten.
Es war einer dieser Abende. Sie hatten gegessen, die Schafe blökten leise im Stall hinter dem Haus, und der Hund des Alten zuckte im Schlaf mit den Pfoten. schließlich stellte der junge Mann die Frage, auf deren Antwort er schon seit drei Jahren wartete: "Als ich hier ankam", begann er ein wenig unsicher, " wolltest du mich den Sinn des Lebens lehren. Nun war ich drei Jahre lang bei dir und habe viel erlebt und gelernt - den Sinn des Lebens hast du mir jedoch nie gelehrt!"
"Hab ich das nicht?" Der Greis fuhr sich mit einer Hand durch das schüttere, weiße Haar." Oder hast du einfach deine Augen nicht aufgemacht? Der Sinn des Lebens wird doch täglich gezeigt! Die Steine, die Felsen, die Grate, die Schluchten, das ganze Gebirge hier zeigt dir doch jeden Tag den Sinn des Lebens." "Das verstehe ich nun aber wirklich nicht." Der junge Mann schüttelte den Kopf und war ziemlich enttäuscht.
"Nicht?" Der Mann schloß müde die Augen. Dann flüsterte er: "Der Sinn des Lebens ähnelt diesem Gebirge hier. Deshalb habe ich auch meine Hütte hier gebaut. Schau das Gebirge ist fest und hart. Alles hat seinen Platz, ist unveränderlich und beständig. So muß das Leben sein. Erst wenn du beständig wirst und fest, hast du den Sinn des Lebens gefunden!" Verwirrt erzählte der junge Mann dem Alten, was ihm die Frau in der Steppe über das Leben gesagt hatte. "Papperlapapp!" fuhr der Alte ihn ärgerlich an, und seine Augen sprühten plötzlich wütende Funken.
"Das Leben hat nur einen Sinn, wenn es etwas Festes, Beständiges, Bleibendes hat. was sollen Grenzenlosigkeit und Unendlichkeit? Das Leben würde sich ja darin verlieren! Vergiß schnell die Flausen, die dir diese Alte in den Kopf gesetzt hat!" Er wühlte eifrig in einer großen Kiste und fand darin einen schweren, schwarzweiß gefleckten Stein. "Hier, ich gebe dir diesen Stein mit auf den Weg. Er soll dich immer an das erinnern, was ich dir über das Leben sagte." Der junge Mann nahm den Stein. Er wog schwer in seiner Hand.
Am nächsten Morgen, noch ehe die Sonne ihre ersten tastenden Fühler über die Kämme des Gebirges streckte, zog er weiter. Der Falke schwebte wie schwerelos im morgentlichen Himmel, wo ein frischer Wind einige Wolken vor sich herjagte. Der Stein des Alten ließ den Wanderer beim Aufstieg schwitzen. Aber er wollte ihn nicht wegwerfen - zu sehr liebte er die Erinnerung an den alten Mann. Höher und höher kletterte er, bis er schließlich den Paß erreichte. Danach führte ihn ein schmaler Pfad langsam wieder bergab. Ein paar Tage später war das Gebirge nur noch ein leichter Schatten am Horizont, und der nächste Morgen hüllte es in einen leichten Nebelschleier.
Der junge Mann wanderte viele Wochen. Schließlich erreichte er einen großen Wald. Nicht einmal einen Fußpfad konnte er in dem dichten Gewirr von ungestürzten Bäumen, Schlingpflanzen, Blüten und Blättern ausmachen. Mit aller Kraft bahnte er sich trotzdem einen Weg. Es roch nach Zerfall. Obwohl die Sonne kaum den feuchten Boden erreichte, keimte und sproß es überall.
Am Abend kam er müde und erschöpft an eine Lichtung. Vor einer Hütte saß eine Frau und sang ein Lied in die wispernden Bäume. Als sie den Mann sah, lächelte sie, ließ sich aber nicht unterbrechen. Er wartete schweigend, bis die Frau ihn heranwinkte: "Ich freue mich, dass du gekommen bist", lächelte sie.
"Hast du mich denn erwartet?" Der junge Mann trat erstaunt einen Schritt zurück. "Aber ich wußte doch selbst nicht, dass ich hierher kommen würde!" "Aber ich", sagte die Frau, und ihr Lachen war so herzlich und offen, dass der junge Mann mitlachen mußte. "Du suchst den Sinn des Lebens, nicht wahr? Deshalb bist du unterwegs." "Woher weißt du das?" "Ich wußte es schon immer." Die Frau sprach sehr bestimmt. "Wenn du den Sinn des Lebens erfahren willst, bleibe hier."
Der junge Mann blieb bei der Frau in dem wild wuchernden Urwald. Sie bereitete ihm ein warmes, weiches Lager, und er half ihr die Felder zu bestellen und bei der Jagd. Nach fünf Jahren sagte sie eines Tages zu ihm: "Morgen wirst du weiterziehen. Es ist Zeit!" Der Mann war damit überhaupt nicht einverstanden. weshalb sollte er weitergehen? Ihm gefiel es hier. Er hatte alles was er brauchte. Er wollte nicht weg. "Hast du vergessen, weshalb du unterwegs bist? Du hast mich nie mehr nach dem Sinn des Lebens gefragt. Hast du ihn inzwischen gefunden?" Der Mann schüttelte den Kopf und war auf einmal sehr bedrückt.
"Schau dir diesen dichten Wald an. Er ist, wie ich mir das Leben wünsche. Hier gibt es ein ständiges Werden und Vergehen. Pflanzen und Bäume sterben und tausendfach werden andere neu geboren. Der Wald ist Kraft und ständige Erneuerung. So soll mein Leben sein, und deshalb lebe ich hier. Aber ich spüre auch, dass du nach etwas anderem suchst. Deshalb mußt du weiterziehen." Sie reichte dem Mann ein kleines Lederbeutelchen: "Hier, nimm diese Samenkörner mit. Wenn du gefunden hast was du suchst, säe sie aus. Sie werden aufgehen und dich ein wenig an diese Zeit deines Lebens erinnern."
Obwohl er gerne bei der Frau geblieben wäre, packte der Mann am nächsten Morgen seine wenigen Habseligkeiten zusammen und machte sich wieder auf den Weg. Lange irrte er durch den Wald, der immer dichter und wilder wurde. Oftmals sah er nur von einem mächtigen Baum zum anderen, seine Beine versanken im morastigen Boden, und seine Arme kämpften mit den herabhängenden Schlingpflanzen. Abends, wenn er zerschunden und müde seine Decke ausrollte, um sich schlafen zu legen, zerzauste oft ein kühler Westwind die Wipfel der Baumriesen. Dieser trug etwas mit sich, einen feinen Geruch, den der Mann noch nicht kannte, der ihn aber neugierig machte. Also folgte er dem abendlichen Wind, und eines Tages wob vor ihm ein blaues Meer ein weiches Tuch aus Wellen. Der Mann wußte jetzt, was ihn hergeführt hatte.
Den ganzen Tag wanderte der Mann am warmen Strand, und die Wellen umschäumten seine Füße. Als die Sonne den Horizont berührte, entdeckte er eine kleine Hütte am Rande der Dünen. Unten am Meer entwirrte ein Fischer sein Netz und begrüßte den Mann: "Hier halte mal das Netz. Die Fäden sind ziemlich durcheinander." Der Wanderer gehorchte, während der Fischer sich mit den verworrenen Fäden beschäftigte. Höflich fragte er den Fischer, ob er heute Nacht in seiner Hütte schlafen könne. "Natürlich" erwiderte der Fischer." Das Bett ist schon bereitet, und auf dem Herd steht eine Suppe."
"Hast du mich denn erwartet?" Der Wanderer blickte ihn mit großen, hellen Augen an. "Alle kommen zu mir - früher oder später", murmelte der Fischer und blickte hinaus auf das Meer. Der Mann blieb sieben Jahre in der Hütte am Rande der Dünen. Er lernte Netze auswerfen und einholen, half dem Fischer sie zu entwirren und zu flicken. Er begriff, dass er auch vom Meer etwas über den Sinn des Lebens erfahren konnte, obwohl der Fischer nie darüber sprach.
Am Abend bevor er wieder aufbrechen wollte, sagte er zum Fischer: "Ich habe hier viel gelernt. Du hast nie darüber gesprochen, aber für dich ist das Meer wie das Leben. es ist mächtig und immer in Bewegung. Jede Welle ist anders. Manchmal brüllt es wild im Sturm und dann streichelt es wieder zärtlich den Strand. Es gibt alles was man braucht, aber es läßt sich zu nichts zwingen." Der Fischer legte das Netz zur Seite und sah dem Mann in die Augen: "So ist es", meinte er dann, "ich kann dich nichts mehr lehren. Schön, dass du es selbst erfahren hast. Wenn du morgen weiter ziehst, nimm diese Muschel mit. Wenn du sie an dein Ohr hälst, wirst du immer das Rauschen des Meeres hören."
Am nächsten Morgen brach der Mann früh auf. Der Falke tobte wild in der Luft, der Stein aus dem Gebirge wog immer noch schwer im Gepäck, die Samenkörner waren gut verpackt, und auch die Muschel hatte er nicht vergessen. es war eine lange Wanderung. Er vermied das hektische Lärmen der Städte und den geschwätzigen Plausch der Dörfer. Sein Weg führte ihn in immer einsamere und stillere Gegenden. Schließlich erreichte er eine große, steinige Wüste. Es gab keine Wege mehr. Der Mann schloß die Augen. Er hörte nichts. Kein Windhauch fächerte die heiße Luft. Selbst der Falke schwieg und rührte sich nicht von seiner Schulter.
Den ganzen Tag wanderte er durch die Wüste. das grelle Licht der Sonne blendete ihn, der heiße Sand brannte an seinen Fußsohlen. Aber was kümmerte es ihn? Er hatte die Augen fast geschlossen - außer dem Atem und dem gleichmäßigen Pochen seines Herzens gab es keine Geräusche. Am Abend, sein Schatten wanderte ihm schon lange Zeit voraus, hörte er eine Stimme. Er blickte sich um und bemerkte eine winzige Hütte. Im Schatten des weitausladenden Daches saß eine Gestalt. Langsam ging der Wanderer auf die Hütte zu. Die Gestalt war still, und der Mann wußte plötzlich, dass er hier die Antwort auf seine Frage finden würde. Inzwischen war die Nacht wie ein kühler Schatten über die Wüste gefallen.
Als der Mann die Hütte erreichte, war es bereits so dunkel, dass er die Gestalt nur noch schemenhaft erkennen konnte. "Sei mir gegrüßt, fremder Wanderer. Ich teile Brot, Salz und Wasser mit dir." Die Stimme der dunklen Gestalt war wie das Wispern des Abendwindes in der Steppe. "Hier enden alle Wege", hörte er die Gestalt wieder. Jetzt klang die Stimme wie das Atmen des morgentlichen Windes, wenn die Sonne in den Tautropfen glitzert. "Und hier beginnen auch alle Wege wieder". War es wirklich die dunkle Gestalt, die zu ihm sprach? Oder hörte er die Melodie eines kleinen klaren Bergbaches? Immer noch versuchte der Wanderer das Gesicht der Gestalt zu erkennen, aber die Schatten unter dem Dach waren zu dunkel. Nur manchmal konnte er im Widerschein des Mondes zwei helle Augen blitzen sehen.
"Ich habe eine Frage", begann der Wanderer. Aber die Gestalt unterbrach ihn: "Die Frage hat dich", und die Stimme war fröhlich wie das Spiel kleiner Wellen, die sich an Uferfelsen brechen. "Deswegen bist du doch schon so lange unterwegs." "Was ist der Sinn des Lebens?" Der Mann stand regungslos in der Stille der nächtlichen Wüste und wagte kaum zu atmen.
"Du warst in der Steppe und im Gebirge. Du hast im Urwald gelebt und am Meer. Jahrelang hast du dir dein Gehirn zermartert - und weißt es immer noch nicht?" Der Wanderer sah hinaus in die Wüste, wo der Mond sanfte Schatten in den Sand zeichnete. Er lauschte in die Stille und erwiederte schließlich: "Nein, ich weiß es immer noch nicht. Überall wurde mir ein anderer Sinn gelehrt. Immer hörte es sich richtig und gut an, und doch schien auch immer etwas zu fehlen." Die dunkele Gestalt nickte leicht. "Dein Weg mag hier enden - oder nicht", hörte der Wanderer die Stimme, oder war es das Geräusch der Sandkörner, die sich an den Steinen der Wüste rieben?
"Was ist nun der Sinn des Lebens?" rief der Wanderer verzweifelt. "Ich finde einfach keine Antwort!" Die Gestalt hob einen Arm. Der Falke wurde unruhig auf der Schulter des Wanderers und erhob sich schließlich mit einem kurzen Flügelschlag, um auf dem Arm der Gestalt zu landen. "Gib mir den Stein, die Samenkörner und die Muschel", befahl sie. Der Wanderer legte das Gewünschte auf den Tisch. "Der Sinn des Lebens, fremder Wanderer, ist die Steppe, das Gebirge, der Urwald, das Meer und die Wüste - und doch keines von allem." Die Stimme war jetzt sanft wie der Tanz schillernde Farben eines Regenbogens.
"Der Sinn des Lebens, Wanderer, ist das Leben!" dann erhob sich die dunkle Gestalt, steckte Stein, Samenkörner und Muschel unter den weißen Umhang und ging langsam und gebückt, den Falken auf der Schulter, in die kleine Hütte. Der Mann saß die ganze Nacht vor der Tür in der Wüste. Der Mond und die Sterne zogen über ihm ihre Bahn - und zum ersten Mal in seinem Leben dachte er an nichts. Er hörte das ruhige Schlagen seines Herzens und sein Atem wurde tief. Als ich der Morgen mit frischer, kühler Feuchtigkeit auf seine Haut legte, erhob er sich, um seinen Weg zu suchen. Er brauchte jetzt nicht mehr nachzudenken und zu grübeln. Vielleicht würde ihm dies manchmal helfen auf dem weiten Weg, der vor ihm lag - doch finden würde diesen Weg allein sein Herz.
Seine Mutter versuchte ihn nicht mehr umzustimmen. In den Tagen zuvor hatte sie ihn immer wieder beschworen: "Bleib doch hier! Lerne lieber etwas Sinnvolles! Nimm dir eine Frau und gründe eine Familie!" Aber der junge Mann war durch nichts zu überzeugen. In dieser kleinen Stadt kannte er jeden Winkel, den Staub der Strassen, die hektische Betriebsamkeit, die täglichen Lügen und das falsche Lachen, wenn die Menschen miteinander Geschäfte machten. Hier kam ihm alles so sinnlos vor. Er würde den Sinn seines Lebens irgendwo anders finden, davon war er überzeugt.
Die Freundlichkeit des Vaters war schon seit Tagen zerbrochen. Er hatte fest damit gerechnet, dass sein Sohn den Handelsbetrieb übernehmen würde. Auch am heutigen Morgen ließ er sich nicht sehen. Der Vater seines Vaters jedoch nahm ihn zum Abschied fest in die Arme und wünschte ihm alles Gute.
Der junge Mann wanderte den ganzen Tag, den nächsten und den darauffolgenden. Die Sonne brannte und die Straße war einsam und staubig. Sie lag da wie eine lange, tote Schlange in einer dürstenden, vor Hitze flimmernden Steppe. Sie schien ihm bald ohne Anfang und ohne Ende. Am Abend des dritten Tages, im schwachen Licht der untergehenden Sonne, entdeckte der junge Mann eine Hütte am Wegesrand. Auf einer Holzbank vor der Tür saß eine alte Frau und schälte kleine, wilde Kartoffeln. Als er vor ihr stand, erhob sie sich und wischte die Hände an der fleckigen Schürze ab. Dann bat sie ihn ins Haus. Auf dem einfachen Tisch stellte sie inzwischen Brot, Käse und Sauermilch bereit. Nach dem Essen, bei dem kein Wort gesprochen wurde, fragte sie:" Was führt dich durch die Steppe, mein Junge? Es ist sehr selten, dass hier jemand vorbeikommt." "Ich bin unterwgs um den Sinn des Lebens zu finden. Ich weiß zwar nicht, wo ich danach suchen soll, aber mir wird schon etwas einfallen, wenn ich nur lange genug darüber nachdenke."
Die Alte wischte mit der Hand einige Brotkrümel vom Tisch. "Wenn du eine Zeitlang hier bleibst, werde ich Dir den Sinn des Lebens zeigen", sagte sie dann. Natürlich willigte der junge Mann ein, und so blieb er bei der alten Frau. Er arbeitete für sie auf den steinigen Feldern, sorgte für die zwei mageren Kühe, fütterte ihren zahmen Falken und begleitete sie in die Steppe, um Heilkräuter zu suchen. An den Abenden erzählte ihm die Alte Geschichten und berichtete von längst vergangenen Zeiten.
Doch nach einem Jahr hatte er von der Frau noch immer nichts über den Sinn des Lebens gehört. Der junge Mann beschloss deswegen weiterzuziehen und sprach die Frau an: "Seit einem Jahr bin ich nun bei dir. Ich habe für dich gearbeitet. Du hast mir Geschichten erzählt und ich habe Dinge erfahren, die mir bisher fremd waren. Aber du hast nie vom Sinn des Lebens zu mir gesprochen. Morgen werde ich aufbrechen, um weiter zu suchen."
Die Alte seufzte und wischte sich die Hände an der fleckigen Schürze ab. "Ein ganzes Jahr warst du nun hier und hast nicht begriffen, was der Sinn des Lebens ist?" Der junge Mann starrte ein wenig verlegen in den Himmel, an dem die ersten Sterne das Tageslicht besiegt hatten: "Nein", flüsterte er. "Schau nicht in den Himmel, mein Sohn!" Die Alte stupste ihn mit dem Ellebogen. "Dort hinaus mußt du sehen!" Sie deutete mit beiden Armen in einer weitausholenden Bewegung über das Land. "Na,was siehst du da?" "Die Steppe! Sonst eigentlich nichts." Der junge Mann wurde trotzig. Was sollte das? Seit einem Jahr sah er diese Steppe. "Sonst nichts, sagst du?" Die Alte lächelte, und um ihren Mund legte sich eine kleine Spottfalte. "Sonst nichts? Die Steppe hat Dir jeden Tag den Sinn des Lebens gezeigt! Ist sie nicht grenzenlos, unendlich fast? Sie ist weit. Sie atmet Freiheit mit jedem Windhauch - das ist der Sinn des Lebens! Wie die Steppe muß das Leben sein, sonst hast du es verfehlt!" Daraufhin nahm die Alte wieder eine Kartoffel aus dem Korb, schälte sie und sprach kein Wort mehr.
Am nächsten Morgen verabschiedete sie sich jedoch herzlich von dem jungen Mann, gab ihm Brot, Käse und eine Wasserflasche mit. Als er sich schon abwenden wollte, hielt sie ihn zurück: "Nimm den Falken mit", sagte sie. "Er hat sich an dich gewöhnt und außerdem soll er dich immer an das erinnern, was ich dir gestern gesagt habe. Der Falke ist ein Kind der Steppe."
Gerne nahm der Mann den Falken mit. Meist flog dieser hoch über ihm, kreiste manchmal bis zum fernen Horizont, kam aber immer zurück auf die ausgestreckte Hand des jungen Wanderers. Nach vielen Tagen hatte er die Steppe hinter sich gelassen und stand am Fuße eines hoch aufragenden Gebirges. Die wilden Schluchten und schroffen Felsen schreckte ihn. Trotzdem ließ er sich in seinem Weg nicht beirren. Er wagte sich in die geheimnisvolle Stille einer engen Schlucht, die den Himmel über ihm auszulöschen schien. Nur das Echo seiner eigenen Schritte und das gelegentliche Krächzen des Falken, der ein wenig ängstlich auf seiner Schulter saß, begleiteten ihn auf dem engen felsigen, verwirrend verschlungenen Pfad. Als es Abend wurde, entdeckte er unter einem mächtigen Felsvorsprung ein kleines, schiefergedecktes Haus. Der Wind wirbelte durch den dünnen, weißen Rauch, kaum daß er aus dem kleinen Schornstein kam.
Der junge Mann klopfte an die schwere Holztür, und nach einiger Zeit öffnete sich diese knarrend und ächzend, gerade so, als hätte sie sich schon lange nicht mehr bewegt. Ein weißhaariger Alter schaute ihn verwundert an. "Ein fremder Wanderer? Hier?" Er schien sich zu wundern, aber gleichzeitig lachte Freude aus seinen Gesichtsfalten. "Es ist lange her, seit jemand an diese Tür geklopft hat. Komm herein, sei willkommen und ruh dich aus."
Nachdem sich der Junge am Ofen aufgewärmt hatte, erklärte er, warum er unterwegs ist. "Wenn du bei mir bleibst", sagte der Alte und rieb sich dabei die Hände über dem Ofen,"werde ich dich lehren, den Sinn des Lebens zu finden."
Der junge Mann zögerte nicht einen Atemzug. Dankbar nahm er die Einladung des Alten an. Er versorgte dessen Schafe, lernte Butter stampfen, sammelte Holz für die harten Wintermonate, und an stillen Abenden erzählte ihm der Alte Geschichten.
Es war einer dieser Abende. Sie hatten gegessen, die Schafe blökten leise im Stall hinter dem Haus, und der Hund des Alten zuckte im Schlaf mit den Pfoten. schließlich stellte der junge Mann die Frage, auf deren Antwort er schon seit drei Jahren wartete: "Als ich hier ankam", begann er ein wenig unsicher, " wolltest du mich den Sinn des Lebens lehren. Nun war ich drei Jahre lang bei dir und habe viel erlebt und gelernt - den Sinn des Lebens hast du mir jedoch nie gelehrt!"
"Hab ich das nicht?" Der Greis fuhr sich mit einer Hand durch das schüttere, weiße Haar." Oder hast du einfach deine Augen nicht aufgemacht? Der Sinn des Lebens wird doch täglich gezeigt! Die Steine, die Felsen, die Grate, die Schluchten, das ganze Gebirge hier zeigt dir doch jeden Tag den Sinn des Lebens." "Das verstehe ich nun aber wirklich nicht." Der junge Mann schüttelte den Kopf und war ziemlich enttäuscht.
"Nicht?" Der Mann schloß müde die Augen. Dann flüsterte er: "Der Sinn des Lebens ähnelt diesem Gebirge hier. Deshalb habe ich auch meine Hütte hier gebaut. Schau das Gebirge ist fest und hart. Alles hat seinen Platz, ist unveränderlich und beständig. So muß das Leben sein. Erst wenn du beständig wirst und fest, hast du den Sinn des Lebens gefunden!" Verwirrt erzählte der junge Mann dem Alten, was ihm die Frau in der Steppe über das Leben gesagt hatte. "Papperlapapp!" fuhr der Alte ihn ärgerlich an, und seine Augen sprühten plötzlich wütende Funken.
"Das Leben hat nur einen Sinn, wenn es etwas Festes, Beständiges, Bleibendes hat. was sollen Grenzenlosigkeit und Unendlichkeit? Das Leben würde sich ja darin verlieren! Vergiß schnell die Flausen, die dir diese Alte in den Kopf gesetzt hat!" Er wühlte eifrig in einer großen Kiste und fand darin einen schweren, schwarzweiß gefleckten Stein. "Hier, ich gebe dir diesen Stein mit auf den Weg. Er soll dich immer an das erinnern, was ich dir über das Leben sagte." Der junge Mann nahm den Stein. Er wog schwer in seiner Hand.
Am nächsten Morgen, noch ehe die Sonne ihre ersten tastenden Fühler über die Kämme des Gebirges streckte, zog er weiter. Der Falke schwebte wie schwerelos im morgentlichen Himmel, wo ein frischer Wind einige Wolken vor sich herjagte. Der Stein des Alten ließ den Wanderer beim Aufstieg schwitzen. Aber er wollte ihn nicht wegwerfen - zu sehr liebte er die Erinnerung an den alten Mann. Höher und höher kletterte er, bis er schließlich den Paß erreichte. Danach führte ihn ein schmaler Pfad langsam wieder bergab. Ein paar Tage später war das Gebirge nur noch ein leichter Schatten am Horizont, und der nächste Morgen hüllte es in einen leichten Nebelschleier.
Der junge Mann wanderte viele Wochen. Schließlich erreichte er einen großen Wald. Nicht einmal einen Fußpfad konnte er in dem dichten Gewirr von ungestürzten Bäumen, Schlingpflanzen, Blüten und Blättern ausmachen. Mit aller Kraft bahnte er sich trotzdem einen Weg. Es roch nach Zerfall. Obwohl die Sonne kaum den feuchten Boden erreichte, keimte und sproß es überall.
Am Abend kam er müde und erschöpft an eine Lichtung. Vor einer Hütte saß eine Frau und sang ein Lied in die wispernden Bäume. Als sie den Mann sah, lächelte sie, ließ sich aber nicht unterbrechen. Er wartete schweigend, bis die Frau ihn heranwinkte: "Ich freue mich, dass du gekommen bist", lächelte sie.
"Hast du mich denn erwartet?" Der junge Mann trat erstaunt einen Schritt zurück. "Aber ich wußte doch selbst nicht, dass ich hierher kommen würde!" "Aber ich", sagte die Frau, und ihr Lachen war so herzlich und offen, dass der junge Mann mitlachen mußte. "Du suchst den Sinn des Lebens, nicht wahr? Deshalb bist du unterwegs." "Woher weißt du das?" "Ich wußte es schon immer." Die Frau sprach sehr bestimmt. "Wenn du den Sinn des Lebens erfahren willst, bleibe hier."
Der junge Mann blieb bei der Frau in dem wild wuchernden Urwald. Sie bereitete ihm ein warmes, weiches Lager, und er half ihr die Felder zu bestellen und bei der Jagd. Nach fünf Jahren sagte sie eines Tages zu ihm: "Morgen wirst du weiterziehen. Es ist Zeit!" Der Mann war damit überhaupt nicht einverstanden. weshalb sollte er weitergehen? Ihm gefiel es hier. Er hatte alles was er brauchte. Er wollte nicht weg. "Hast du vergessen, weshalb du unterwegs bist? Du hast mich nie mehr nach dem Sinn des Lebens gefragt. Hast du ihn inzwischen gefunden?" Der Mann schüttelte den Kopf und war auf einmal sehr bedrückt.
"Schau dir diesen dichten Wald an. Er ist, wie ich mir das Leben wünsche. Hier gibt es ein ständiges Werden und Vergehen. Pflanzen und Bäume sterben und tausendfach werden andere neu geboren. Der Wald ist Kraft und ständige Erneuerung. So soll mein Leben sein, und deshalb lebe ich hier. Aber ich spüre auch, dass du nach etwas anderem suchst. Deshalb mußt du weiterziehen." Sie reichte dem Mann ein kleines Lederbeutelchen: "Hier, nimm diese Samenkörner mit. Wenn du gefunden hast was du suchst, säe sie aus. Sie werden aufgehen und dich ein wenig an diese Zeit deines Lebens erinnern."
Obwohl er gerne bei der Frau geblieben wäre, packte der Mann am nächsten Morgen seine wenigen Habseligkeiten zusammen und machte sich wieder auf den Weg. Lange irrte er durch den Wald, der immer dichter und wilder wurde. Oftmals sah er nur von einem mächtigen Baum zum anderen, seine Beine versanken im morastigen Boden, und seine Arme kämpften mit den herabhängenden Schlingpflanzen. Abends, wenn er zerschunden und müde seine Decke ausrollte, um sich schlafen zu legen, zerzauste oft ein kühler Westwind die Wipfel der Baumriesen. Dieser trug etwas mit sich, einen feinen Geruch, den der Mann noch nicht kannte, der ihn aber neugierig machte. Also folgte er dem abendlichen Wind, und eines Tages wob vor ihm ein blaues Meer ein weiches Tuch aus Wellen. Der Mann wußte jetzt, was ihn hergeführt hatte.
Den ganzen Tag wanderte der Mann am warmen Strand, und die Wellen umschäumten seine Füße. Als die Sonne den Horizont berührte, entdeckte er eine kleine Hütte am Rande der Dünen. Unten am Meer entwirrte ein Fischer sein Netz und begrüßte den Mann: "Hier halte mal das Netz. Die Fäden sind ziemlich durcheinander." Der Wanderer gehorchte, während der Fischer sich mit den verworrenen Fäden beschäftigte. Höflich fragte er den Fischer, ob er heute Nacht in seiner Hütte schlafen könne. "Natürlich" erwiderte der Fischer." Das Bett ist schon bereitet, und auf dem Herd steht eine Suppe."
"Hast du mich denn erwartet?" Der Wanderer blickte ihn mit großen, hellen Augen an. "Alle kommen zu mir - früher oder später", murmelte der Fischer und blickte hinaus auf das Meer. Der Mann blieb sieben Jahre in der Hütte am Rande der Dünen. Er lernte Netze auswerfen und einholen, half dem Fischer sie zu entwirren und zu flicken. Er begriff, dass er auch vom Meer etwas über den Sinn des Lebens erfahren konnte, obwohl der Fischer nie darüber sprach.
Am Abend bevor er wieder aufbrechen wollte, sagte er zum Fischer: "Ich habe hier viel gelernt. Du hast nie darüber gesprochen, aber für dich ist das Meer wie das Leben. es ist mächtig und immer in Bewegung. Jede Welle ist anders. Manchmal brüllt es wild im Sturm und dann streichelt es wieder zärtlich den Strand. Es gibt alles was man braucht, aber es läßt sich zu nichts zwingen." Der Fischer legte das Netz zur Seite und sah dem Mann in die Augen: "So ist es", meinte er dann, "ich kann dich nichts mehr lehren. Schön, dass du es selbst erfahren hast. Wenn du morgen weiter ziehst, nimm diese Muschel mit. Wenn du sie an dein Ohr hälst, wirst du immer das Rauschen des Meeres hören."
Am nächsten Morgen brach der Mann früh auf. Der Falke tobte wild in der Luft, der Stein aus dem Gebirge wog immer noch schwer im Gepäck, die Samenkörner waren gut verpackt, und auch die Muschel hatte er nicht vergessen. es war eine lange Wanderung. Er vermied das hektische Lärmen der Städte und den geschwätzigen Plausch der Dörfer. Sein Weg führte ihn in immer einsamere und stillere Gegenden. Schließlich erreichte er eine große, steinige Wüste. Es gab keine Wege mehr. Der Mann schloß die Augen. Er hörte nichts. Kein Windhauch fächerte die heiße Luft. Selbst der Falke schwieg und rührte sich nicht von seiner Schulter.
Den ganzen Tag wanderte er durch die Wüste. das grelle Licht der Sonne blendete ihn, der heiße Sand brannte an seinen Fußsohlen. Aber was kümmerte es ihn? Er hatte die Augen fast geschlossen - außer dem Atem und dem gleichmäßigen Pochen seines Herzens gab es keine Geräusche. Am Abend, sein Schatten wanderte ihm schon lange Zeit voraus, hörte er eine Stimme. Er blickte sich um und bemerkte eine winzige Hütte. Im Schatten des weitausladenden Daches saß eine Gestalt. Langsam ging der Wanderer auf die Hütte zu. Die Gestalt war still, und der Mann wußte plötzlich, dass er hier die Antwort auf seine Frage finden würde. Inzwischen war die Nacht wie ein kühler Schatten über die Wüste gefallen.
Als der Mann die Hütte erreichte, war es bereits so dunkel, dass er die Gestalt nur noch schemenhaft erkennen konnte. "Sei mir gegrüßt, fremder Wanderer. Ich teile Brot, Salz und Wasser mit dir." Die Stimme der dunklen Gestalt war wie das Wispern des Abendwindes in der Steppe. "Hier enden alle Wege", hörte er die Gestalt wieder. Jetzt klang die Stimme wie das Atmen des morgentlichen Windes, wenn die Sonne in den Tautropfen glitzert. "Und hier beginnen auch alle Wege wieder". War es wirklich die dunkle Gestalt, die zu ihm sprach? Oder hörte er die Melodie eines kleinen klaren Bergbaches? Immer noch versuchte der Wanderer das Gesicht der Gestalt zu erkennen, aber die Schatten unter dem Dach waren zu dunkel. Nur manchmal konnte er im Widerschein des Mondes zwei helle Augen blitzen sehen.
"Ich habe eine Frage", begann der Wanderer. Aber die Gestalt unterbrach ihn: "Die Frage hat dich", und die Stimme war fröhlich wie das Spiel kleiner Wellen, die sich an Uferfelsen brechen. "Deswegen bist du doch schon so lange unterwegs." "Was ist der Sinn des Lebens?" Der Mann stand regungslos in der Stille der nächtlichen Wüste und wagte kaum zu atmen.
"Du warst in der Steppe und im Gebirge. Du hast im Urwald gelebt und am Meer. Jahrelang hast du dir dein Gehirn zermartert - und weißt es immer noch nicht?" Der Wanderer sah hinaus in die Wüste, wo der Mond sanfte Schatten in den Sand zeichnete. Er lauschte in die Stille und erwiederte schließlich: "Nein, ich weiß es immer noch nicht. Überall wurde mir ein anderer Sinn gelehrt. Immer hörte es sich richtig und gut an, und doch schien auch immer etwas zu fehlen." Die dunkele Gestalt nickte leicht. "Dein Weg mag hier enden - oder nicht", hörte der Wanderer die Stimme, oder war es das Geräusch der Sandkörner, die sich an den Steinen der Wüste rieben?
"Was ist nun der Sinn des Lebens?" rief der Wanderer verzweifelt. "Ich finde einfach keine Antwort!" Die Gestalt hob einen Arm. Der Falke wurde unruhig auf der Schulter des Wanderers und erhob sich schließlich mit einem kurzen Flügelschlag, um auf dem Arm der Gestalt zu landen. "Gib mir den Stein, die Samenkörner und die Muschel", befahl sie. Der Wanderer legte das Gewünschte auf den Tisch. "Der Sinn des Lebens, fremder Wanderer, ist die Steppe, das Gebirge, der Urwald, das Meer und die Wüste - und doch keines von allem." Die Stimme war jetzt sanft wie der Tanz schillernde Farben eines Regenbogens.
"Der Sinn des Lebens, Wanderer, ist das Leben!" dann erhob sich die dunkle Gestalt, steckte Stein, Samenkörner und Muschel unter den weißen Umhang und ging langsam und gebückt, den Falken auf der Schulter, in die kleine Hütte. Der Mann saß die ganze Nacht vor der Tür in der Wüste. Der Mond und die Sterne zogen über ihm ihre Bahn - und zum ersten Mal in seinem Leben dachte er an nichts. Er hörte das ruhige Schlagen seines Herzens und sein Atem wurde tief. Als ich der Morgen mit frischer, kühler Feuchtigkeit auf seine Haut legte, erhob er sich, um seinen Weg zu suchen. Er brauchte jetzt nicht mehr nachzudenken und zu grübeln. Vielleicht würde ihm dies manchmal helfen auf dem weiten Weg, der vor ihm lag - doch finden würde diesen Weg allein sein Herz.