Harolds letzter Arbeitstag

Varghoud

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Es ist eine späte und düstere Stunde, perfekt geeignet für diese Kurzgeschichte.
Ich arbeite momentan an meinem 3.Fantasy-Roman, und zwischendurch schreibe ich Kurzgeschichten. Diese hier entstand für die Schule; hab sie bereits in mehreren Foren veröffentlicht. Es basiert auf der Kurzgeschichte "Geier" aus unserem Deutschbuch, die von einem ruhelosen Mann handelt, der nur fürs Arbeiten lebt. Als seine Arbeiterkollegen ihm seinen Posten entreißen wollen, arbeitet er sich wortwörtlich zu Tode...
In unserem Aufsatz sollten wir seinen letzten Arbeitstag rekonstruieren, und diesen möchte ich euch nun hier präsentieren. Über konstruktive Kritik o. Kommentare wäre ich äußerst erfreut
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MfG, Varghoud

Harolds letzter Arbeitstag
Der Regen prasselte unablässig gegen die Windschutzscheibe, feine Wassertropfen rannen das kalte Glas hinab und hinterließen feuchte Spuren.
Harolds Hände umklammerten fest das Lenkrad, seine Knöchel stachen weiß hervor. Die Müdigkeit lastete wie ein zentnerschwerer Stein auf ihm, ließ seine Arme erlahmen und seine Gedanken langsamer rotieren.
Wenn du müde bist, darfst du nicht fahren, redete er sich ständig ein, wie eine ewige Litanei. Doch eine leise Stimme wisperte ihm ständig zu, er solle es trotzdem tun. Sie belauerten ihn – sie wollten ihm mit gierigen Klauen seinen Posten entreißen. Dies war der Grund weshalb er nun todmüde am Steuer saß und kaum noch die Augen aufhalten konnte – er wollte seine hart erkämpfte Stellung nicht an sie abtreten.
Die Ampel flammte rot lodernd auf, und Harold blieb an dem Zebrastreifen stehen. Leute eilten geduckt, die Mäntel hochgeschlagen um sich vor dem Regen zu schützen, vorbei. Er nahm sich die Zeit nachzudenken, wie ein kostbarer Schluck eines Elixiers, das er nur selten genießen konnte.
Gestern Abend hatte er bis spät in die Nacht gearbeitet. Einen Kaffee nach dem anderen in hatte er in sich hineingestürzt, und während die heiße Flüssigkeit seinen Hals hinab geronnen und seinen Körper immer wieder von neuem belebt hatte, flogen seine Finger geschwind über die Tastatur, hämmerten auf die Knöpfe ein und griffen immer wieder zur Tasse.
Er war eine Kämpfernatur, ehrgeizig und unablässig. Wenn er einmal ein Ziel in Sicht hatte, nahm er jede Last, jede Aufgabe auf sich um es zu erreichen. Doch nun war es leider der Fall, dass er zu weit über das Ziel hinausgeschossen war. Er hatte seinen Posten erobert, und nun musste er ihn auch gegen seine lauernden Arbeitskollegen verteidigen, wie eine von Feinden belagerte Festung.
Er sah den Neid in ihren Augen, er spürte, wie sie hofften dass er jeden Moment aufgab und sich zur Ruhe setzte, damit sie sich vorarbeiten konnten. Doch diesen Sieg wollte er ihnen nicht schenken – sie würden sich daran eine blutige Nase holen, das schwor er sich jedes Mal aufs Neue.
Der Gedanke, jeden Moment seinen Posten verlieren zu können, haftete wie eine Sucht an ihm – ständig trieb sie ihn dazu bis spät in die Morgenstunden, wenn die Sonne beim Aufgang als flammender Feuerball den Himmel rot verfärbte vor dem Computer zu sitzen.
Während er über all dies nachdachte keimte ihn ihm wie ein heimtückisches Geschwür ein Gefühl auf, das ihn dazu bewegte das Lenkrad herumzureißen und mit quietschenden Reifen stehen zubleiben. Er blieb bei einer Einfahrt stehen, wo bedrohlich ein mit roten Kreuzen versehenes blaues Schild in die Höhe ragte, doch das störte ihn in diesem Moment nicht. Sein Kopf sank herab, seine Hände glitten vom rutschigen Leder. Verzweiflung begann an ihm zu nagen und seine Seele mit scharfen Zähnen zu durchbohren. Seine Brust hob und senkte sich unregelmäßig, im Takt eines ungleichmäßigen Liedes. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen, während um ihn herum die Welt zu einem zähen Brei zerfloss. Er war allein mit seinen Gefühlen, der ständigen bohrenden Angst und Panik vor den Arbeitskollegen, die wie ein gewaltiger Schatten permanent hinter ihm lauerte.
Ich verfalle, dachte er, während er die Hände vom Gesicht nahm und sie betrachtete, so, als würden sie jeden Moment auf Grund seiner finsteren Gedanken auseinander brechen. Ich verliere die letzten moralischen Bedenken, die einen Menschen von einer Maschine unterscheiden. Ich lebe nur noch für das Arbeiten – ich lebe nur noch für meinen Posten. Ich lebe nicht für Geld, nein, das ist es nicht wonach ich verlange. Meine ständige Angst vor den anderen, vor ihrem bohrenden Neid, sie ist es, die mich verfallen und zu einer Maschine mutieren lässt. Einem emotionslosen, nur noch arbeitenden Roboter. Ich kann das Leben nicht mehr als Mensch genießen.
Er wusste nicht wie er aus diesem Teufelskreis entkommen konnte. Es war zu spät für ihn – der bodenlose, dunkle Abgrund der Verzweiflung hatte sich in dem Moment aufgetan, als er sich zu viel an der Ampel über seine Arbeit nachgedacht hatte. Ein bitteres Lächeln huschte für einen Moment über sein Gesicht.
Zu denken ist meine einzige noch menschliche Handlung…
Er hatte es geahnt, von Anfang an, dass er an dieser Arbeit zugrunde gehen würde. Er hätte sich mit einem niedrigeren Posten begnügen können, doch er hatte so viel erreicht, und das wollte er jetzt nicht einfach so abgeben.
Doch jetzt wurde er sich der bleiernen Müdigkeit und Schwäche bewusst, die ihn langsam zersetzte. Lange würde er das nicht mehr durchhalten. Er sah bereits seinen eigenen, qualvollen Tod vor sich. Gestorben an Überstrapazierung.
Es gibt einfachere Wege zu sterben, dachte er, und lachte. Er wusste nicht warum, aber er lachte, ein zynisches, grausames Lachen, das seine Verzweiflung nur noch mehr demonstrierte. Getrieben von ihm unbekannten Gefühlen riss er die Autotür auf und stieg hinaus. Der Regen trommelte unbarmherzig auf ihn herab, doch die Geschicke dieser Welt interessierten ihn nicht mehr. Für ihn hatte sie sich längst in ein tristes Grau verwandelt. Er starrte zum Himmel empor und starrte den gewaltigen Wassermassen ergießenden Himmel an, während er die Hände zusammenballte und alle verdammten Götter dieser Welt verfluchte. Regen benetzte sein bleiches Gesicht und überzog wie ein feines Perlennetz, und als er den Kopf wieder senkte flogen seine klatschnassen Haare umher.
Er starrte zur Straße, wo Autos wie fliehende Schatten an ihm vorbeijagten. Dies war der Weg, den er jeden Morgen fuhr, jeden verfluchten Morgen seines armseligen Lebens.
Sein Leben war verwirkt – es war egal, wann er sterben würde. Seine Gedanken waren benebelt von Verzweiflung, seine Seele getränkt von dunklen Gefühlen, die ihn nun dazu trieben den Bürgersteig mit schlurfenden Schritten zu verlassen und auf die nasse Strasse zu treten. Wasser raste in schnellen Strömen am Gehsteig entlang, seine nicht wasserfesten Schuhe versanken darin, und er spürte wie sie sich mit Feuchtigkeit voll saugten.
Das Leben ist voller Wunder, dachte er, während er einen Moment unschlüssig neben seinem Auto stand und die vorbeischnellenden Fahrzeuge betrachtete. Doch gibt es überhaupt noch eine Chance für mich, sie noch einmal zu erleben? Mein Leben ist bereits verwelkt.
Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Der Verkehr auf der Straße war für einen kurzen Moment lang stillgelegt, das nächste Auto noch in einiger Entfernung. Noch ein wenig Zeit, sein Leben vor seinem inneren Auge ablaufen zu lassen.
Wie im Film, dachte er, doch das wahre Leben ist nicht so.
Die Scheinwerfer des Autos blendeten Harold. Er musste ihn wahrscheinlich für einen Fußgänger halten, der die Straße schnell noch mal überqueren wollte und sich bereits in der Mitte des Weges befand. Doch dieser setzte seinen Gang nicht fort, sondern drehte sich um und breitete die Arme aus.
Harold hörte die Bremsen quietschen, sah, wie der Wagen zu schlittern begann. Dann, als sich kurz vor seinem erhofften Tod seine düsteren Gedanken in Luft auflösten, zuckte eine Erkenntnis durch seinen Kopf.
Wenn ich jetzt sofort sterbe, habe ich verloren. Dann kriegen sie meinen Posten. Das war der dümmste Fehler, den ich begehen konnte!
Doch um umzukehren war es bereits zu spät. Er sah das erschreckte Gesicht des Fahrers, das Aufblitzen der Scheinwerfer – dann durchzuckte ein Schmerz seinen Körper, jagte von seinem Unterleib bis zu seinem Kopf und besprenkelte die Welt mit leuchtenden Punkten.
Er spürte sich für einen kurzen Moment seltsam leicht – die Geräusche setzten aus, der Regen schien nur noch leicht auf sein Gesicht zu prasseln. Es geschah alles so, als würde er durch eine zähe Masse kriechen.
Dann kam der Aufprall. Er fing sich instinktiv mit den Händen auf, rollte sich zur Seite ab und stürzte. Schwer schnaufend blieb er liegen und sah an seinem Körper hinab. Er erwartete, eine Blutlache zu entdecken, doch da war nichts. Er spürte nur ein dumpfes Pochen in seiner Hüfte, sonst nichts. Die Fahrertür des Autos, das ihn angefahren hatte, wurde aufgerissen, und ein sichtbar schockierter junger Mann stolperte hinaus.
„Oh nein…wie konnte das nur passieren…“, stammelte er verzweifelt und kam mit bebenden Schultern auf Harold zu.
Tränen rannen über das Gesicht des braunhaarigen Jungen, der kaum zwanzig Lenzen zählen musste, und seine grauen Augen waren milchig.
Harold hob beruhigend die Hand und lächelte. Doch in seinem Innern tobten die verschiedensten Gefühle in einem erbitterten Kampf gegeneinander.
Nicht einmal der Tod will mich, dachte er, während er sich aufrappelte und die Hilfeversuche des jungen Mannes betont freundlich ablehnte, meine geschundene Seele ist selbst für ihn zu armselig und traurig. Niemand will mit dieser Last konfrontiert werden.
„Kann ich…kann ich irgendetwas für Sie tun?“, fragte der verwirrte Mann, hinter dessen Auto sich bereits eine Schlange aus Fahrzeugen bis zur nächsten Kreuzung zog. Aufgeregtes Hupen erfüllte die von wütenden Rufen geschwängerte Luft. Wütende Fahrer stiegen aus ihren Autos und versuchten den jungen Mann zur Rede zu stellen, doch als sie dann den hinkenden Harold erblickten, schluckten sie ihre erregten Parolen hinunter. Einige wählten sogar den Krankenwagen, doch als sie immer zudringlicher wurden, entriss sich Harold ihrem Griff und stieg in sein Auto. Ohne sich umzudrehen brauste er los, seine Gedanken jagten genau wie sein Fahrzeug durch den von Regen erfüllten Morgen.
Er schluchzte nicht einmal im Auto, seine Gefühle waren erkaltet. Er stand sich einer müden Endgültigkeit gegenüber. Er hatte nichts mehr mit diesem Leben zu tun, es ging an ihm vorbei wie die Bäume, die am Fenster vorbeizogen. Er war nur noch eine wandelnde Puppe, dessen einziger Lebenssinn daraus bestand seinen Posten auf der Arbeit zu verteidigen.
Bis zum Tod, fügte er in Gedanken hinzu, ich werde meinen Posten verteidigen, bis dass mein Lebensfeuer wie eine flackernde Kerze ausgehaucht wird.
Und das könnte ziemlich bald sein. Seine Kräfte waren wie ein Kelch, in dem sich nur noch einige Tropfen Wasser befanden, ausgeschöpft, er fühlte, wie sie immer mehr erlahmten. Doch wenn er schon sterben würde, dann am Arbeitsplatz. Damit seine Arbeitskollegen sehen würden, wie ernst er es gemeint hatte und das dies alles ihre Schuld war.
Ihr habt mich dazu getrieben, dachte er vor Zorn erfüllt, während er wütend das Lenkrad herumriss und in die Straße zum Gebäude seiner Firma abbog, ohne euch wäre es nie so weit gekommen.
Und während er in weiter Ferne die Sirenen vom Krankenwagen hörte, die ihn, den mysteriösen Angestoßenen, der sofort wieder aufgestanden war um anderorts zu sterben, abholen sollte, durchzuckte ein Wort seine Gedanken.
Geier.
Sie werden warten, bis ich tot bin, und dann über meinen Posten herfallen, wie grausame Aasfresser. Mein Ehrgeiz hat mich in den Tod geführt. Oh ja, so oder so, wenn ich sterbe, fallen sie über mich her. Aber ich springe nicht von irgendeiner Brücke oder vor ein Auto, sondern werde es ihnen so schwierig wie möglich gestalten. Und dann werde ich endlich von alldem hier gelöst. Endlich keine Panik, kein Arbeiten bis tief in die Nacht hinein.
Der Regen tauchte die Welt in ein düsteres Grau, eine beinahe apokalyptisch wirkende Szenerie, durch die ein einsames Auto zwischen leeren, kahlen Häuserblocks fuhr.
Viele finden das Sterben grausam. Doch für mich bedeutet der Tod Erlösung.
©Maxime 2008

Falls euch manche Formulierungen merkwürdig vorkommen sollten...Deutsch ist nicht meine Muttersprache. Ich spreche stattdessen zuhause und in der Schule luxemburgisch, deutsch lerne ich nur während des Deutschunterrichts in der Schule. Schreiben und sprechen tue ich es hingegen ständig, mit meinen deutschen Internetfreunden, Geschichten, Forumsbeiträgen... Trotzdem könnten sich eventuell luxemburgische Formulierungen in die Geschichte reingemischt haben, die ich übersehen hab^^
 
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