Kurzgeschichte "Ihr Tee"

Khanor

Dungeon-Boss
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In den letzten Tagen war es ungewöhnlich kalt geworden. Die Wolken am Himmel zeigten ihr eine unheimliche Menge an Bildern. Dämonen, Tiere, die Mischung aus beidem, oder manchmal einfach nur so banale Dinge wie eine Teekanne. Doch das hatte sie schon vor vielen Jahren gelernt.

Tee, ein heißer Tee, das wäre jetzt genau das richtige. Etwas Fenchel mit einem Schuss Rum. Ja, das liebte sie. Dieser leicht bittere Geschmack, der ihr die Illusion gab von innen kräftig gewärmt zu werden. Sie wußte, dass es in Wirklichkeit nicht so war, aber was machte das schon, solange man sich dabei wohl fühlte? Sie wurde davon jedenfalls nicht gestört.

Mit ihrem Gatten zelebrierte sie das tägliche Teetrinken förmlich. Er blickte jeden Tag, beinahe auf die Minute genau, von seiner Zeitung auf, zu ihr hinüber. Auch wenn sie nicht hinsah, diesen Blick spürte sie, wie eine liebevolle Berührung in ihrem Nacken, wie ein zärtlicher Kuss auf die Stirn, oder wie einen jugendlichen Klapps auf den Po. Dieser Blick war wie so vieles, und sie genoss es jeden Tag. Mit einem Lächeln hatte sie immer von ihrem Rätselheft aufgeblickt, war seinem Blick begegnet. Wer behauptete, dass Liebe im Alter durch Gewohnheit ersetzt wurde? Dieser Blick strafte diese Behauptung jeden Tag aufs neue Lügen. Seit fast 25 Jahren, seitdem ihre Kinder aus dem Hause waren, hatte sich dieses Ritual immer in gleicher Weise abgespielt, und erinnerte mit jedem neuen Tag an die letzten 25 Jahre, und lies auch manchmal einen Blick auf die 30 Ehejahre davor fallen. Schöne Jahre, zwar nicht ganz ohne Auseinandersetzungen und Fehler, aber eben diese waren es, die ihnen zeigten, wie man miteinander umzugehen hatte, und eben diese liessen sie lernen. Ja, man lernte nie aus.

Sie hatte gelernt, was dieser Blick ihres Mannes, zugleich flehend und liebend, zu bedeuten hatte, sie hatte heraus gefunden, wie er den Tee am liebsten hatte, Fenchel mit einem Schuss Zitrone. Sie hatte gelernt, welche Temperatur ihn zufrieden stellte. Sie hatte gelernt, dass es durchaus eine Art Tradition geworden war, mit der man nicht brechen durfte. Sie hatte gelernt, dass während dieser kurzen Zeit, die sie gemeinsam den Tee genossen, nichts außer ihnen beiden zählte. Sie hatte gelernt beinahe unmerklich den Fernseher auszuschalten, das Radio verstummen zu lassen, oder die Zeitungen ohne ein Rascheln beiseite zu legen. Ja, man lernte niemals aus, und von ihm, und für ihn lernte sie gern, bis ans Ende aller Tage.

Auch heute war es wieder soweit, endlich war es die richtige Uhrzeit. Sie wendete den Blick vom Fenster ab, und schaute zum Sessel ihres Gatten. Die Zeitung lag schon auf dem Tisch neben seinem Sessel. Sie erwiderte sein ewiges Lächeln. Diese Wärme, die nach so langer Zeit trotzdem noch in ihr Herz strömte, wenn sie dieses Lächeln sah.

Eilig ging sie in die Küche. So eilig es ihre Beine noch zuliessen, denn sie waren nun schon 87 Jahre alt, und längst nicht mehr so flink wie in ihrer Jugend. Am Ziel angekommen setzte sie den Topf auf, den sie bis zu Hälfte mit Wasser füllte. Sicher, es gab schnellere, und einfachere Wege das Wasser zu erhitzen, aber dann wäre es nicht das selbe. Sie hatte einmal in einem Restaurant einen Tee getrunken, wie sie beide ihn liebten. Die junge Bedienung war sogar sehr freundlich gewesen, und hatte ihrer Bitte, ihn genauso zuzubereiten wie sie selbst, entsprochen. Sie hatte es genauso gemacht, wie sie sollte. Erst das Wasser in die Tasse, die nicht mehr, aber auch nicht weniger als 0,185 Liter fassen durfte. Danach eineinhalb Teelöffel Zitronensäure, frisch gepresst versteht sich, in die Tasse und eine halbe Minute lang umrühren. Erst dann für genau sechseinhalb Minuten den Teebeutel hinein. Aber das Wasser. Das Wasser mußte wirklich in einem Topf erhitzt werden, nicht mit diesen modernen Wasserkochern. Der Kochtopf nahm dem Wasser nicht sein unvergleichliches Aroma, das wußte doch jeder. Das hatte das junge, unerfahrene Ding falsch gemacht. Aber was sollte es schon? Sie war bereits damals in einem Alter gewesen, in dem man der Jugend keinen Fehler übel nehmen konnte. Und jugendlich war sie gewesen. Höchstens achtzehn Jahre jung. Sehr hübsch obendrein, doch was sollte das schon heißen?

Sie selbst war auch einmal sehr hübsch gewesen. Doch eines Tages war ihre jugendliche Schönheit etwas gewichen, dass man nicht sofort erkannte. Sie war noch immer schön, auf diese ganz besondere Weise. Das goldene Haar war grau, und bald weiß geworden. Ihre einst so straffe Haut hatte sich im Kampf gegen die Jahre lange gewehrt, aber irgendwann doch den Sieg abgeben müssen. Ihr zierlicher und bildhübscher Körper war nun etwas gebeugt, und in ihrer Brust schlug nun das Herz einer alten und beruhigten Frau, nicht mehr das einer beliebten Schulsprecherin mit den Vorzügen, die sagenhafte Schönheit nun einmal mit sich brachte.

Auf dem Wasser tänzelten seit nunmehr zwei Minuten kleine Bläschen. Noch eine weitere Minute und es war an der Zeit. Die Minute verstrich, und sie machte sich an die gewohnte Arbeit. Es waren nun schon beinahe neun Jahre, die sie in den Tee keine eineinhalb Teelöffel Zitrone mehr einwirken liess. Noch drei Monate und zwei Wochen, dann waren es genau neun Jahre. Neun Jahre. Vor neun Jahren, es war ein ebenso kalter Nachmittag wie der heutige. Neun Jahre war es nun her, da das Netz mit ungespritzten Zitronen auf ihrem Einkaufszettel einer Flasche Hansen Rum gewichen war. Neun Jahre, in denen in der Tee keine zaghaften eineinhalb Teelöffel Zitrone flossen, sondern eineinhalb Schluck Rum sich den Weg durch den Geschmack getrockneter Teeblätter bahnten. Doch es schmeckte, hervorragend sogar, und auf eine unbestimmte Art auch tröstend. Warm von innen.

Mit beiden Tassen in den Händen machte sie sich auf den Weg ins Wohnzimmer. Endlich war es soweit. Der Duft ihres Tees stieg ihr in die Nase, und erweckte in ihr die Lust ihn genüßlich in ihrer Kehle hinabgleiten zu lassen. Das war schon immer so gewesen, und auch heute würde sie der Versuchung widerstehen, bis sie in ihrem Sessel saß, und einen liebevollen und auffordernden Blick zu ihrem Gatten herüber warf.

Sie stellte seine Tasse auf sein Tischchen, neben seine Zeitung. Dann drehte sie sich um und ging zu ihrem Sessel, in den sie sich seufzend setzte. Das war schon immer so gewesen.

Es war eine dieser Traditionen mit denen man nicht brechen durfte. Ein wenig schauderte es ihr davor, wenn ihr Gatte einmal merken würde, dass in ihrem Tee seit bald neun Jahren keine Zitrone mehr, sondern dieser bittere Rum, Platz gefunden hatte. Sie blickte von ihrer Tasse auf, und lächelte zu dem Platz ihres Gatten hinüber, und fing sein ewiges Lächeln auf, welches in ihre Richtung, und nur an sie gerichtet war. Diese Geste war ein stumm vereinbartes Zeichen, den ersten Schluck des Tees genießen zu dürfen. Das hatte sie gelernt, und man lernte ja nie aus.

Und wieder einmal war es dieser Moment, in dem sie seit acht Jahren und acht Monaten und zwei Wochen feststellte, dass es noch weitaus mehr zu lernen gab. Und wieder einmal war es dieser Moment, der sich in drei Monaten und zwei Wochen zum neunten Male jährte, in dem sie sich fest vornahm noch mehr zu lernen. Besonders, dass es seit diesem Tag vor über achteinhalb Jahren nur noch eine Tasse Tee war, die sie kochen mußte.




Geschrieben ca. 2001
 
Wow ... wirklich schön *schnüff*
 
.... das ist echt total schön... ich wusste bis ganz zum schluss nicht wie es ausgehen könnte, obwohl ich tausend ideen hatte.
 
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