Pures Kino oder der B-Movie-Bastard, der heute die Landschaft beherrscht.

win3ermute

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"Pure Cinema" - das ist ein Begriff, den eventuell Hitchcock geprägt hat. Würde man heute 10 Leute fragen, was "pures Kino" bedeutet, dann würde man mit Sicherheit fast mehr als 9 Male zu hören bekommen: "Ey, geile Bilder! Ey!"

Diese Leute haben nicht mal unrecht. Das "pure cinema" ist eben die Kunst, selbst komplizierteste Sachverhalte ohne Dialog, sondern eben rein durch Bilder darzustellen!

Der Stummfilm kannte keine Dialoge; er mußte auf Zwischentitel zurückgreifen. Dementsprechend gab es einen "inoffiziellen Wettbewerb": Der beste Film war jener, der keinerlei erklärende Texttafeln einblendete, sondern die Handlung ganz alleine durch Bilder vermitteln konnte.
Murnaus "Der letzte Mann" - ein sehenswertes Drama, das abseits der Bilder lediglich zwei Zwischentitel bietet - dürfte hier der klare Gewinner sein.

Hitchcock - meines Erachtens nach der größte Regisseur, den die Welt bisher jemals hatte - sammelte seine ersten Erfahrungen im Stummfilmbereich. Sein "The Lodger" mutet mit seiner Schnittweise trotz des "Verfalldatums" verdammt modern an: Vom Vorspann an ist da ein Gespür von filmischer Erzählweise zu spüren, das bis heute ihresgleichen sucht. Dialog ist hier unwichtig; die Bilder sind alles.
So läßt er eine alte Frau nach oben zur Decke schauen, wo der "Untermieter" - höchstwahrscheinlich "Jack the Ripper" persönlich - rastlos des Nachts umherläuft.
Wie löst man sowas ohne jeden Ton?

Einfach und genial und in weniger als 5 Sekunden: Die alte Frau ängstigt sich und blickt nach oben. Die Decke ist aus Glas; dort läuft der "Untermieter" seine Runden. Ganz wenige Sekunden der Filmgeschichte, die deutlich machen, wie sehr die damaligen "Handwerker" ihr Geschick verstanden.

Wieviel Schnitte, Gegenschnitte, Location-Wechsel und Dialog würde ein moderner Regisseur benötigen, um eine so einfache Szene abzufertigen?

Beachten wir Genies wie Murnau oder Dreyer erst mal gar nicht und springen direkt in den Tonfilm. Ein junger Radio- und Theatermacher, dessen Erfahrung in Sachen "Film" sich auf eine Handvoll Kurzfilme beschränkt, bekommt absolute Kontrolle über seinen ersten Film. Ich will gar nicht darauf eingehen, in wievielen Bereichen der Mann das bis zu dem Zeitpunkt etablierte Kino aufsprengte und damit überhaupt erst den "modernen Film" möglich machte; darüber sind mehr als ein Buch geschrieben worden.

1941 betrat Orson Welles die Filmbühne. Orson Welles war damals ganze 26 Jahre alt - und hatte bereits das Radio mit seinem "War of the Worlds" komplett revolutioniert. Für seinen ersten Film genoß er das letzte Mal in seinem Leben komplette Freiheit.
Heraus kam "Citizen Kane". Damals ein Flop und das Ende von Welles' künstlerischem Freiraum - heute gilt er bei vielen Kritikern als "bester Film aller Zeiten"!

Wieso gilt er als so gut? "Tiefenschärfe" und die gleichzeitige Erzählung von mehreren Handlungsträngen in einem Bild ist ein beliebtes Stichwort; die völlig unkonventionelle und selbst heute noch als "modern" einzustufende nicht chronologische Abfolge der Geschehnisse ein anderes. Es gab nach "Citizen Kane" kaum ein anderes Werk, daß das moderne Kino nicht nur beeinflußt, sondern überhaupt erst möglich machte!

Wie genial Welles hier zu Werke ging, mag vielleicht folgende Szenenbeschreibung verdeutlichen:

Wie stellt man in nicht mal 2 Minuten dar, daß eine Heirat über Jahre in die Brüche geht?

Ganz einfach: Man nimmt das selbe Paar und zeigt nur mit Musik unterlegt, wie sie sich am Frühstückstisch verhalten. Die Mode und das Verhalten der Hauptpersonen ändert sich: Von der stürmischen Begrüßung bleibt erst mal nur noch Smalltalk, bis sich beide Protagonisten nichts mehr zu sagen haben und sich hinter ihren Zeitungen verstecken.
Diese absolut geniale Szene wurde übrigens nicht von Welles inszeniert, sondern von seinem Regieassistent Robert Wise. Jupp. Jener Wise, der später "The Haunting" nach ähnlichen "bilderzählerischen Gesichtspunkten entwickelte" - und "Star Trek - The Movie" verbrach! Der superbe "Andromeda Strain" ist übrigens auch von ihm!

Hitchcocks Filme wimmeln selbstverständlich vom "Pure Cinema". Selten sind bei ihm Dialog überhaupt wichtig; in wichtigen Szenen wie z. B. "Erpressung" - seinem ersten Tonfilm - steht der Dialog völlig entgegengesetzt zu den Ereignissen im Bild und wird absolut unwichtig.
Hitch hat vielleicht das wichtigste Statement zu Dialog im Film überhaupt herausgegeben: Es gibt nix langweiligeres auf der Leinwand als "sprechende Köpfe". Die gehören auch meiner Ansicht nach nicht auf die Leinwand, sondern ins Theater!

Vielleicht ist damit auch meine Ansicht zum besten Film der letzten Jahre definiert: In "Drive" wird nicht gesprochen, sondern durch die Bildkomposition als auch durch Kameraführung, Ausstattung und Schnitt (und Ryan Gosling) deutlich gemacht, was die einzelne Szene zu sagen hat.

"Pure Cinema" ist eben die Zusammensetzung aus Schriftstellerei, Malerei, Fotografie, Musik, Schauspiel und eben das meisterhafte Können des Regisseurs, für so ziemlich jede Szene Dialog durch reine Bilder zu ersetzen!

Es ist unglaublich, was man in dieser Hinsicht in "ollen" Streifen entdecken kann - und umso ernüchternder, inwiefern das "moderne Kino" solche Dinge komplett ignoriert und nur noch zu Schauwerten verkommt!

Beispiele für "modernes Pure-Cinema" sind die Filme von Snyder (grandios: Watchmen; weniger grandios, aber mehr als nur gut: Sucker Punch) oder auch David Fincer, der bei "Se7en" dem Hitchcock'schen Ansatz von Suspense entgegenwirkte.

Das "Pure Cinema" lebt heute noch in kleinen Produktionen weiter - leider ist "großes Kino" mittlerweile zu einem reinen Kommerzprodukt verkommen - und offensichtlich möchte das heutige Publikum das kaum anders, als daß der gezeigte Streifen "Event-Charakter" hat...
 
du wintermute haste filmologie mal studiert oder wie kommst zu den ganzen fachwissen ?
 
Sowas behalte ich aus irgendeinem Grunde sofort - aber frag' mich mal nach lebenswichtigen Dingen :D. Gegen die richtigen Filmnerds ist mein Wissen aber tatsächlich noch recht beschränkt.
 
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