Unzerschlagen

Asinat

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World of Warcraft: The Burning Crusade
Unzerschlagen
von Mickey Neilson
Alles, was existiert, lebt.
Die Worte sind in seinem Geist zu einem Mantra geworden, eine ständige Bestärkung in seinem neu gefundenen Verständnis. Sie waren eine göttliche Eingebung, der Schlüssel zu einem völlig neuen Universum an Wissen. Und diese Eingebung war der Grund, warum er hier war.
Die Worte trösteten Nobundo, als er langsam durch den Wald aus riesigen Pilzen der Zangarmarschen wandelte und das grüne und rote Leuchten der Sporen den frühen Morgennebel erhellte. Er überquerte die knarrenden Holzbrücken, die sich über das flache Wasser der Marschen erstreckten. Nur wenige Augenblicke später war er an seinem Ziel angelangt und blickte zu der strahlenden Unterseite eines Pilzes hinauf, neben dem alle anderen zwergenhaft erschienen. Dort oben auf seiner Kappe erwartete ihn Telredor, die Siedlung der Draenei.
Beklommen ging er weiter und stützte sich schwer auf seinen Gehstock ab. Er verfluchte die Schmerzen in seinen Gelenken als er auf die Plattform trat, die ihn nach oben bringen würde. Die Besorgnis lag ihm schwer auf der Seele, denn er wusste nicht, wie die anderen reagieren würden. Einst gab es eine Zeit, in der Seinesgleichen die Siedlungen der Unberührten nicht einmal betreten durften.
Sie werden mich nur auslachen.
Er füllte seine Lungen mit der kühlen, nebligen Luft der Marschen und bat sie um Mut für seine bevorstehende Herausforderung.
Die Plattform hielt an und Nobundo schleppte sich vorsichtig durch den bogenförmigen Eingang, einige schmale Stufen hinab bis hin zu der Terrasse, die den kleinen Marktplatz der Siedlung überblickte und auf der sich die Versammlung bereits zusammengefunden hatte.
Er blickte in die verhärteten Gesichter der verschiedenen Draenei, die mit Verachtung und Hochmut in den Augen zu ihm heraufstarrten.
Schließlich war er Krokul: "Zerschlagen".
Ein Zerschlagener zu sein bedeutete, ausgestoßen und abgewiesen zu sein. Es war weder richtig noch gerecht, aber das war die Realität, die er gezwungenermaßen akzeptieren musste. Viele seiner unberührten Brüder und Schwestern konnten nicht verstehen, wie es zu der Verkümmerung der Krokul kommen konnte und vor allem, wie Wesen, die einst so vom Licht beschenkt und gesegnet waren, wie auch Nobundo, so tief fallen konnten.
Auch wenn Nobundo nicht genau wusste, wie es passiert ist, so wusste er jedoch wann. Mit überraschender Klarheit erinnerte er sich exakt an den Moment, an dem seine persönliche Verkümmerung begonnen hatte.

* * * * * *
Der Himmel weinte, als die Orcs Shattrath belagerten.
Viele lange Monate war es her, seit das Land Draenor zuletzt mit Regen gesegnet wurde, doch nun zogen düstere Wolken herauf, als wollten sie sich gegen die drohende Schlacht auflehnen. Sanfte Schauer nieselten auf die Stadt und die Armee außerhalb ihrer Mauern nieder und wurden langsam zu einem gleichmäßigen Regenguss. Beide Seiten beobachteten und warteten.
Es müssen Tausende sein, schätzte Nobundo grimmig von seinem Platz hoch oben auf dem inneren Bollwerk. Jenseits der äußeren Mauer tanzten Schatten zwischen den mit Laternen erleuchteten Bäumen der Wälder von Terokkar. Wenn die Orcs sich mehr Zeit mit der Planung gelassen hätten, hätten sie vielleicht das umliegende Gebiet für ihren Angriff gerodet, doch die Orcs machten sich in diesen Zeiten nicht viel aus Strategie. Für sie zählte nur freudige Erwartung auf die Schlacht und die sofortige Befriedigung durch das Blutvergießen.
Telmor war gefallen, genauso wie Karabor und Farahlon. So viele der einst so majestätischen Städte der Draenei lagen nun in Schutt und Asche. Nur noch Shattrath war übrig.
Langsam nahmen die versammelten Orcs Stellung ein. Sie weckten in Nobundo das Bild einer großen, mit Fangzähnen bewehrten Schlange, die sich in Vorbereitung auf den Angriff wand… ein Angriff, der mit Sicherheit das Ende der Verteidiger von Shattrath bedeuten würde.
Als wäre unser Tod nicht ohnehin schon vorbestimmt.
Er war sich sehr wohl bewusst, dass er und die anderen, die sich heute Nacht hier versammelt hatten, als Opfer gedacht waren. Sie hatten sich freiwillig gemeldet, um zurückzubleiben und die letzte Schlacht zu schlagen. Die unweigerliche Niederlage würde die Orcs so sehr zufrieden stellen, dass sie die Draenei als quasi ausgestorben betrachten und ihre Verfolgung aufgeben würden. Diejenigen, die an anderen Orten Zuflucht gefunden hatten, würden überleben und eines Tages, wenn die Mengenverhältnisse besser wären, zurückschlagen.
So sei es denn. Mein Geist wird weiterleben und eins mit der Herrlichkeit des Lichts werden.
Mit neuem Mut richtete Nobundo sich zu seiner vollen Größe auf. Sein starker und athletischer Körper spannte sich an, bereit für das, was kommen mochte. Sein kräftiger Schweif schwang nervös hin und her, als er sein Gewicht gleichmäßig auf seine löwenartigen Beine verlagerte und die Spitzen seiner Hufe in das steinerne Mauerwerk grub. Er atmete tief durch und schloss seine Hände fest um seinen vom Licht gesegneten Kristallhammer.
Doch ich werde nicht leise gehen.
Er und die anderen Verteidiger, heilige Krieger des Lichts, würden bis zum Letzten kämpfen. Er warf einen Blick auf seine Brüder, die in regelmäßigen Abständen auf dem Absatz der Mauer postiert waren. Wie auch er standen sie gelassen und entschlossen da. Sie waren im Frieden mit dem Schicksal, das sie erwartete.
Außerhalb der Stadt waren die Kriegsmaschinen eingetroffen. Katapulte, Rammen und Ballisten – Belagerungsmaschinen aller Arten flackerten kurz im Fackelschein auf. Die schweren Konstruktionen knirschten und knarrten, als sie innerhalb der Reichweite der Mauer in Position geschoben wurden.
Trommelschläge erklangen, zuerst nur vereinzelt, dann immer mehr und mehr, bis der ganze Wald von einem Rhythmus erfüllt wurde, der sanft wie Regen begonnen hatte und nun zu einem andauernden Donnerschlag anschwoll. Nobundo flüsterte ein Gebet und bat das Licht um Kraft.
Ein dunkles Grollen ging durch die finsteren Wolken am Himmel und antwortete den rasenden Trommelschlägen. Einen Moment lang fragte sich Nobundo, ob das Licht wohl sein Gebet erhört hatte. Es schien, als wolle es seine unbändige Macht und seinen Zorn zur Schau stellen, eine Macht die größer war als alles, was er sich jemals zu rufen erträumt hätte und die die gesamte, rohe und blutdurstige Armee mit einem mächtigen Strahl heiligen Lichts auf einen Schlag auslöschen würde.
Es folgte in der Tat eine Zurschaustellung, aber nicht der heiligen Macht des Lichts.
Die Wolken donnerten, wirbelten umher und brachen auf, als riesige flammende Geschosse sie durchschlugen, die so schnell wie Meteore und mit einer Kraft, die Knochen zum Bersten brachte, zum Boden rasten.
Ein markerschütterndes Getöse dröhnte in Nobundos Ohren. Eines der Geschosse rauschte gefährlich nahe an ihm vorbei und zertrümmerte einen nahegelegenen Pfeiler, sodass Nobundo von den umherfliegenden Splittern getroffen wurde. Als ob sie nur auf dieses Signal gewartet hätte, stürmte die Menge draußen nach vorne. Ohrenbetäubende Kampfschreie donnerten über der Stadt, als sie sich mit einem einzigen Ziel vorschoben: alle, die ihnen in den Weg kamen, zu vernichten.
Der Regen wurde immer stärker und die äußersten Mauern zitterten unter den Einschlägen gewaltiger Steine, die die barbarischen Katapulte auf die Stadt schleuderten. Nobundo wusste, dass die äußeren Mauern nicht standhalten würden. Man hatte sie in aller Eile erbaut: die Mauern um den abgesenkten Boden des äußeren Rings wurden erst im letzten Jahr errichtet. Die methodische Ausrottung seines Volkes durch die Orcs machte diese Maßnahme notwendig. Schon da wussten sie, dass die Stadt einst ihre letzte Bastion sein würde.
Mehrere grobschlächtige Oger machten sich daran, einen Teil der Mauer zu durchbrechen, der durch die Meteoreinschläge bereits deutlich mitgenommen war. Zwei der hünenhaften Bestien bearbeiteten die Haupttore der Stadt mit einem riesigen Rammbock.
Nobundos Brüder starteten mehrere Angriffe auf den Feind. Doch immer, wenn einer der Draenei einen der Eindringlinge niedergestreckt hatte, nahmen zwei neue seinen Platz ein. Der beschädigte Teil der Mauer begann nun, vollständig in sich zusammenzufallen. Auf der anderen Seite grölte die Menge tobender Orcs und kletterte von blindem Blutdurst getrieben wild übereinander hinweg.
Die Zeit war gekommen. Nobundo erhob seinen Hammer gen Himmel, schloss die Augen und befreite seinen Geist von dem alles verschlingenden Missklang der Schlacht. Sein Geist rief. In seinem Körper fühlte er, wie die vertraute Wärme des Lichts ihn erfüllte. Der Hammer begann zu leuchten. Er konzentrierte sich auf sein Ziel und ließ die reinigenden heiligen Mächte auf die Oger unter sich herabfahren.
Ein greller Blitz erhellte für einen kurzen Augenblick das gesamte Schlachtfeld. Die Orcs an vorderster Front bellten überrascht auf, als das heilige Licht sie durchflutete, sie zum Schweigen brachte und gerade lange genug lähmte, damit die Draeneikrieger einen der riesenhaften Oger niederstrecken konnten.
Das kurze Gefühl der Erleichterung, das sich in Nobundo breitmachte, wurde schlagartig von dem Geräusch splitternden Holzes vertrieben. Unter einem letzten Schwung des Rammbocks zerbarst das Haupttor. Nobundo sah zu, wie die Verteidiger des unteren Viertels angestürmt kamen, um sich der Flut von Orcs und Ogern entgegenzustellen, und sofort niedergemetzelt wurden. Erneut rief Nobundo das Licht an und richtete seine heilenden Kräfte auf alle, die er erreichen konnte, doch die feindliche Übermacht war einfach zu groß. Sobald er einen verletzten Draenei geheilt hatte, musste derselbe Krieger nur Sekunden später erneut schwere Angriffe einstecken.
Immer mehr Oger machten sich an der geschwächten Stelle in der Mauer zu schaffen. Schließlich gelang es ihnen, sie zu durchbrechen. Die hoffnungslos unterlegenen Verteidiger gerieten auf allen Seiten in Bedrängnis.
Die Orcs waren wie wahnsinnig, betrunken von ihrer Blutlust. Als sich immer mehr von ihnen in den äußeren Ring drängten, konnte Nobundo ihre Augen sehen. Sie leuchteten und brannten vor blutrotem Zorn, der faszinierend und zugleich Furcht einflößend war. Nobundo und die anderen Verteidiger änderten ihre Taktik von Heilung auf Reinigung. Erneut wurde die Stadt in strahlende Helligkeit getaucht, als die Masse der Orcs vom Licht getroffen wurden. Für einen Moment erlosch das blutrote Leuchten in ihren Augen und sie stolperten nach vorne, wo die übrig gebliebenen Draeneikrieger sie bereits erwarteten.
Kra-wumm!
Die Mauer erzitterte und Nobundos Hufe gerieten auf dem regennassen Stein ins Rutschen. Er fand sein Gleichgewicht wieder und blickte hinab. Einer der Oger hieb mit einer Keule, die so groß wie ein Baumstamm war, auf einen der Pfeiler links von ihm ein. Nobundo hob seinen Hammer zum Himmel und schloss die Augen, doch seine Konzentration wurde schnell von einem anderen Geräusch gestört…
Kra-KABUMM!
Dieses Mal war es nicht der Oger, sondern eine Explosion, die von irgendwo unter ihm stammte, die Nobundo aus dem Gleichgewicht brachte. Er rollte sich auf die Seite und spähte über die Kante. Eine Wolke aus feinem rotem Staub breitete sich in Richtung des unteren Viertels aus. Die wenigen noch übrig gebliebenen Verteidiger brachen sofort hustend und würgend zusammen. Sie krümmten sich auf dem Boden und viele ließen ihre Waffen fallen. Die barbarischen Orcs metzelten die sich windenden Krieger rasch nieder. Ihre unbändige Freude an dem Blutbad war nicht zu übersehen.
Als das Massaker vorüber war, starrten sie nach oben. Ein tollwütiges Verlangen, die Verteidiger auf der Mauer in Stücke zu reißen, glänzte in ihren Blicken. Mehrere Orcs kletterten auf die Rücken der Oger und versuchten mit bloßen Händen die Mauer zu erklimmen. Ihre Aggressivität und ungezügelte Wildheit waren atemberaubend. Der Nebel hatte sich inzwischen über das gesamte untere Viertel ausgebreitet, stieg langsam auf und warf einen Schleier auf die Grausamkeit am Boden.
Nobundo vernahm einen Tumult hinter sich. Mehreren Orcs war es auf irgendeine Weise gelungen, durch die Verteidigung des inneren Rings zu brechen und auf den Absatz zu stürmen.
Kra-wumm!
Die Mauer erzitterte erneut und Nobundo verfluchte den Oger, der sich offensichtlich wieder dem Pfeiler zugewandt hatte. Eine zweite Salve flammender Meteore regnete vom Himmel herab, während Nobundo sich bereit machte, um der nahenden Flut von Angreifern entgegenzutreten.
Er richtete den Zorn des Lichts direkt auf den ersten Orc. Die Augen des grünen Biests trübten sich und der Orc fiel auf die Knie. Nobundo ließ seinen Hammer mitten auf den Schädel des Gegners herabfahren, riss ihn wieder in die Höhe und schwang ihn nach links, bis er das befriedigende Knacken vernahm, als die Rippen des Orcs brachen. Er drehte sich um die eigene Achse und führte den Hammer in einem Bogen nach unten, direkt auf das Bein eines anderen Orcs, und zertrümmerte seine Kniescheibe. Das Biest schrie vor Schmerzen auf und fiel kopfüber von dem Bollwerk.
Der Nebel hatte sich inzwischen den Weg zur Terrasse gebahnt, wo er sich ausbreitete und den steinernen Boden wie ein Teppich bedeckte. Er reichte ihnen schon bis zur Brust, doch Nobundo und seine Mitstreiter kämpften weiter, bis der Staub ihnen schließlich beißend in Augen und Lungen brannte.
Nobundo hörte die Todesschreie seiner Verbündeten, konnte sie jedoch in dem dichten roten Dunst nicht mehr erkennen. Zum Glück schienen die Angriffe auf ihn nachzulassen. Er taumelte einen Schritt zurück und unterdrückte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Sein Schädel fühlte sich an, als würde er gleich bersten.
Da vernahm er einen Kampfschrei aus dem Nebel, der so schrecklich war, dass ihm das Blut in den Adern gefror.
Ein Schatten kam auf ihn zu. Nobundo strengte sich an, um etwas zu erkennen, während sein Körper von Krämpfen geschüttelt wurde. Verzweifelt versuchte er, den Atem anzuhalten, als ein tätowierter Schrecken mit feurigen Augen aus dem blutroten Schleier trat... ein hünenhafter Orc, der über und über mit dem blauen Blut der Draenei besudelt war. Atemlos und mit einer bösartig aussehenden Zweihandaxt in den Händen stand er vor ihm. Sein rabenschwarzes Haar klebte ihm an Schultern und Brust, sein Unterkiefer war schwarz bemalt, was seinem Gesicht das Aussehen eines Schädels verlieh.
Hinter ihm strömten die Orcs auf den Absatz. Nobundo wusste, dass das Ende gekommen war.
Kra-wumm!
Ein weiteres Mal zitterte die Mauer. Der alptraumhafte Orc stürmte los. Nobundo versuchte auszuweichen. Die Klinge schnitt ihm in die Brust und beschädigte seine Rüstung. Seine linke Seite fühlte sich taub an. Nobundo konterte mit einem Schwung seines Hammers, der dem Orc die Finger seiner rechten Hand zertrümmerte und somit seine Waffe nutzlos machte. Und dann, zu Nobundos Entsetzen, begann die schreckliche Kreatur zu lächeln.
Der Orc packte ihn mit seiner guten Hand. Die beiden glühenden Feuer in seinen Augen bohrten sich in Nobundo hinein... bohrten sich durch ihn hindurch. Nobundo musste nach Luft schnappen. Er fühlte, wie die oberste Schicht seines eigenen Willens weggerissen wurde. Es war, als wäre eine dunkle, dämonische Magie am Werk, als ob ein Teil seiner eigenen Essenz vernichtet würde. Und er wusste nicht, was er diesem Angriff entgegensetzen könnte.
Kra-wumm!
Nobundo erbrach dickes Blut auf das Gesicht und die Schultern des Orcs. Er schloss die Augen, rief verzweifelt das Licht an und flehte, dass es den Orc nur für einen Augenblick außer Gefecht setzen möge, damit er sich verteidigen könne. Er rief...
Und zum allerersten Mal, seit er das Bündnis mit dem Licht eingegangen war und mit seinem heiligen Schein gesegnet wurde...
Erhielt er keine Antwort.
Starr vor Schreck öffnete er die Augen und blickte in die wahnsinnige, flammende Glut des Orcs, der seinen Mund öffnete und brüllte, sodass alle Geräusche umher verschlungen wurden und Nobundos Trommelfelle zu platzen drohten. Es schien, als wäre er plötzlich in einen schrecklichen, stillen Alptraum getaucht. Das Biest bog sich nach hinten und rammte seinen Kopf gegen Nobundos Gesicht. Nobundo stolperte mit wedelnden Armen nach hinten. Der Regen prasselte herab und der Anblick der glühenden Augen brannten sich in ihn, während er fiel... tiefer, tiefer, tiefer, durch den Nebel, und schließlich auf etwas Hartem aufschlug, das grunzte, als es unter ihm zusammenbrach.
Noch immer in seinem stummen Alptraum gefangen, sah Nobundo das Gesicht des Orcs von der Kante der Mauer verschwinden. In der Nähe gaben die beschädigten Pfeiler nach. Ein großer Teil der oberen Mauer stürzte ein, stahl im die Sicht auf den Regen und den Himmel und tauchte Nobundo in eine Welt aus stiller Dunkelheit.
Während er dort lag, dachte er an all diejenigen, die sich versteckt hatten. Diejenigen, von denen er hoffte, dass sie dem Gemetzel entkommen würden, diejenigen, die er liebte und schätzte, diejenigen, für die er sich geopfert hatte...

Leben. Aus irgendeinem Grund klammerte er sich immer noch ans Leben.
Nobundo tauchte aus der schwarzen Ewigkeit der Bewusstlosigkeit auf und fand sich in einem erdrückenden, blinden Gefängnis wieder. Sein Atem war nur ein hastiges, zitterndes Nach-Luft-Schnappen, aber er war am Leben. Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war seit... seit die Mauer eingestürzt war, seit...
Er ließ seinen Geist wandern. Sicher hatte er im Tumult der Schlacht es einfach nur nicht geschafft, sich stark genug zu konzentrieren, um das Licht zu erreichen. Aber jetzt, jetzt könnte er eine Verbindung herstellen. Jetzt könnte er es gewiss...
Nichts.
Keine Antwort.
Nobundo hatte sich noch nie zuvor so hilflos und einsam gefühlt. Wenn das Licht für ihn unerreichbar war und er hier sterben würde, was würde dann aus seinem Geist? Würde das Licht ihn dennoch aufnehmen? Wäre seine Essenz dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit durch die Leere zu wandeln?
Er hatte sein Leben in Ehre gelebt. Und doch... könnte das eine Art Bestrafung sein?
Während sein Geist nach Antworten suchte, streckte er die Hand aus und traf sofort auf kalten Stein. Er wurde sich langsam bewusst, dass er in einer merkwürdigen Position dalag, dass eine weichere, aber dennoch feste Masse dicht neben ihn gedrängt war und dass sein Bein mit Sicherheit gebrochen war.
Er rollte sich auf die rechte Seite und atmete tief ein. Den Schmerz in seinen Rippen und in seinem Bein versuchte er zu ignorieren. Ohne die Hilfe des Lichts konnte er sich nicht heilen, daher musste er fürs Erste mit dem Schmerz leben. Wenigstens war das Gefühl in seine rechte Seite zurückgekehrt. Und... er konnte die gedämpften Geräusche hören, die seine Bewegungen verursachten. Sein Hörvermögen war also ebenfalls wiederhergestellt.
Die Tatsache, dass er Luft einatmete, musste bedeuten, dass sie von irgendwoher zu ihm dringen musste. Als seine Augen sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er ein stecknadelgroßes Loch im Stein erkennen. Dahinter sah er kein Licht, jedoch war die Dunkelheit dort etwas heller als um ihn herum. Er ließ seine Hand am Boden entlang wandern und bekam einen vertrauten, zylinderförmigen Gegenstand zu fassen: den Schaft seines Hammers.
Mit der wenigen Kraft, die ihm noch übrig geblieben war, packte er den Griff direkt unter dem Kopf, hob den Hammer hoch und schleuderte ihn auf das Loch zu. Die steinernen Brocken gaben nach und eröffneten einen nur schwach erkennbaren Durchgang, der von den gefallenen Steinblöcken geschaffen worden war.
Sofort wurden seine Ohren mit dem Klang gedämpfter Schreie begrüßt. Angsterfülltes Wehklagen schallte aus einiger Entfernung zu ihm her. Er benutzte den Hammer, um seinen Oberkörper durch das Loch zu ziehen und sich in den schmalen Freiraum zu winden. Während er das tat, vernahm er ein tiefes Ächzen aus den Tiefen des Gerölls hinter ihm.
Die letzten ihm verbliebenen Kräfte sammelnd zog er sich vollständig in den Durchgang. Er erstickte einen Schrei, als sein gebrochenes Bein über den gezackten Steinrand schleifte und ein unerträglicher Schmerz durch seinen gesamten Körper jagte. Noch immer hörte er das gequälte Ächzen. Die Steine um ihn herum bewegten sich. Sand und Dreck rieselten durch die Ritzen herab. Er schleppte sich schnell zu einem unförmigen Ausgang, hinter dem er meinte, Licht ausmachen zu können.
Das Stöhnen des Wesens unter dem Geröll schwoll an. Nobundo ging davon aus, dass es sich um einen Oger handeln musste, und dass dieser verzweifelt versuchte, sich zu befreien. Nobundo rollte sich auf den Rücken und schob sich mit seinen Ellenbogen hinaus in die Nachtluft, während der Oger einen erneuten entschlossenen Versuch unternahm. Nobundo konnte jetzt den gesamten Schutthaufen sehen. Der Oger brüllte ein letztes Mal vor Zorn. Dann brach die gesamte Masse in sich zusammen. Staub wirbelte in alle Richtungen und kündete vom Scheitern seiner Bemühungen.
Sofort folgte ein weiterer Schrei aus einiger Entfernung: der Schrei einer verängstigten Frau.
Nobundo drehte sich um. Den Anblick würde er niemals vergessen, so sehr er es auch seit diesem Tag versuchen möge.
Die gesamte Fläche des unteren Viertels, das vom Mond und flackerndem Feuer beleuchtet vor ihm lag, war eine Lagerstätte der Leichen abgeschlachteter Draenei geworden. Der Regen hatte aufgehört, doch die Leichenhaufen glänzten feucht von Erbrochenem und Blut.
Eine unsichtbare eiskalte Hand krampfte sich um Nobundos Herz, als er Kinder unter den Toten erkannte. Trotz ihrer Jugend hatten viele sich freiwillig gemeldet, um bei ihren Eltern zurückzubleiben. Sie wussten nur zu gut, dass die Orcs misstrauisch würden, wenn sie eine Draeneistadt ohne Kinder vorfänden. Sie hätten sie gejagt, bis sie sich sicher wären, alle ausgerottet zu haben. Und doch hatte ein Teil von Nobundo mit aller Macht gehofft und gebetet, dass die Kinder verteidigt werden könnten, dass sie in ihren Verstecken, die man hastig in die Berge gegraben hatte, sicher sein würden. Eine törichte Hoffnung, das wusste er, doch er hatte sie dennoch nicht aufgegeben.
Kann es etwas Sinnloseres als das Töten von Kindern geben?
Erneut drangen die Schreie einer Frau an sein Ohr, begleitet von Hohn und Spott. Die Orcs feierten und schwelgten in ihrem Sieg. Er schaute nach oben und entdeckte die Quelle des Lärms: hoch oben ragte aus der Hügelwand die Aldorhöhe heraus. Die Orcs quälten eine arme Draeneifrau.
Ich muss versuchen, sie aufzuhalten.
Aber wie? Allein mit einem gebrochenen Bein gegen Hunderte... einer, der vom Licht verlassen und nur mit seinem Hammer bewaffnet war. Wie konnte er diesen wachsenden Wahnsinn dort oben aufhalten?
Ich muss einen Weg finden!
Wie im Rausch kletterte er über die Leichen, rutschte in den Flüssigkeiten aus und schob den Gestank der Fäulnis und der Gedärme weit aus seinem Kopf. Er kämpfte sich um den äußeren Ring des unteren Viertels hin zum Fuß der Klippen, wo die Mauer auf den Berg traf. Er würde einen Weg finden, dort hinaufzuklettern. Er würde...
Die Schreie verstummten. Er blickte hinauf und sah Umrisse im Mondlicht. Sie trugen eine leblose Gestalt zum Rand des Ausblicks, schwangen sie hin und her und schleuderten die tote Fracht in die Tiefen. Mit einem dumpfen Aufprall schlug sie unweit der Stelle auf, an der Nobundo reglos verharrte.
Er kroch vorwärts und hielt nach Lebenszeichen der Frau Ausschau... Shaka, das war ihr Name, stellte er fest, als er nahe genug gekrochen war, um ihre Gesichtszüge erkennen zu können. Er hatte sie schon oft gesehen, aber nur selten mit ihr gesprochen. Er hatte sie immer als angenehm und bezaubernd empfunden. Nun lag sie verletzt und geschlagen vor ihm, die Kehle durchschnitten und ihres Lebensblutes beraubt. Zumindest für sie war das Leiden zu Ende.
Von oben erklang ein weiterer Schrei, die Stimme einer weiteren Frau. Zorn stieg in Nobundo auf. Zorn und Frustration und ein unbändiger Durst nach Rache.
Du kannst nichts tun.
Verzweifelt umklammerte er den Hammer und versuchte noch einmal, das Licht anzurufen. Mit seiner Hilfe könnte er vielleicht etwas tun. Irgendetwas... Doch wieder begegnete ihm nichts als Stille.
Etwas in ihm drängte ihn, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden und die anderen, die sich versteckt hatten, zu finden, zu leben... um eines Tages ein höheres Ziel zu erfüllen.
Das ist feige. Ich muss einen Weg finden. Ich muss.
Doch tief in seinem Inneren wusste Nobundo, dass die Schlacht geschlagen war. Wenn ihn tatsächlich ein höheres Schicksal erwarten sollte, musste er unverzüglich fliehen. Er würde nur einen sinnlosen Tod sterben, wenn er versuchen würde, die Anhöhe zu erreichen. Erneut zerschnitten Schmerzensschreie die Nachtluft. Nobundo ließ seinen Blick zu einem Stück der äußeren Mauer wandern, das teilweise zerstört war. Ein gefährliches Hindernis, aber kein unüberwindbares. Und es war nicht bewacht.
Es ist an der Zeit. Du musst dich entscheiden...
Es war eine Chance. Eine Chance zu leben und eines Tages vielleicht wieder etwas verändern zu können.
Du musst es dort hindurch schaffen. Du musst weitermachen.
Wieder erklang ein langgezogenes Jammern, aber dieses Mal wurde es gnädigerweise abgeschnitten. Dann drangen orcische Stimmen von jenseits der inneren Mauer zu ihm. Es klang, als würden sie die Leichenhaufen durchwühlen, auf der Suche nach etwas oder jemandem. Seine Zeit war abgelaufen.
Nobundo nahm seinen Hammer. Auch wenn es beträchtlich viel Zeit und Anstrengung brauchte und er völlig ausgelaugt war, schaffte er es, sich über die restlichen Leichen und durch die Lücke in der Mauer zu hieven.
Als er langsam und voller Schmerzen in die Wälder von Terokkar taumelte, begannen die Schreie auf der Aldorhöhe von neuem.

**
„Euer Überleben muss ein Zeichen sein, eine Nachricht des Lichts.“
Rolc war Priester und ein langjähriger Freund. Er hatte Nobundos Wunden geheilt und war aufrichtig erfreut, ihn zu sehen, doch er konnte Nobundos Behauptung, dass das Licht ihn verlassen hätte, nicht verstehen.
„Es segnet jeden von uns in seiner eigenen Weise. Wenn die Zeit gekommen ist, werdet Ihr es wiederfinden.“
„Ich hoffe, dass Ihr Recht habt, alter Freund. Es ist... ich... ich empfinde das anders. Etwas in mir hat sich verändert.“
„Unfug. Ihr seid müde und verwirrt, und nach allem, was Ihr durchgemacht habt, ist das auch kein Wunder. Ruht Euch aus.“
Rolc verließ die Höhle. Nobundo lehnte sich zurück und schloss die Augen...
Schreie. Das verzweifelte Flehen der Frauen.
Nobundo riss schlagartig die Augen auf. Er war nun schon seit ein paar Tagen hier in einem der wenigen Lager derjenigen, die sich vor der Schlacht versteckt hatten. Er konnte die herzzerreißenden Schreie der Frauen, die er dem Tod überlassen hatte, nicht abschütteln. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, riefen sie nach ihm und flehten ihn an, ihnen zu helfen, sie zu retten.
Du hattest keine Wahl.
Aber war das wirklich die Wahrheit? Er war sich nicht sicher. In letzter Zeit fand Nobundo es äußerst schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. In seinem Kopf war alles verschwommen und zusammenhangslos. Er seufzte schwer, erhob sich von der Decke auf dem Steinboden und ächzte, als seine Gelenke protestierten.
Er trat in die neblige Luft des Marschenlandes und schleppte sich durch ein aufgeweichtes Schilffeld. Die Zangarmarschen waren ein ungastliches Gebiet, doch vorerst waren sie sein Zuhause.
Die Orcs mieden das Sumpfland in der Regel, und sie hatten einen guten Grund dafür. Das gesamte Gebiet war mit flachem, brackigem Wasser bedeckt, die meisten Vertreter der einheimischen Flora und Fauna waren giftig, wenn man sie nicht richtig zuzubereiten wusste, und viele der größeren Kreaturen des Sumpflandes fraßen alles, was sie nicht zuerst fraß.
Als Nobundo um mehrere turmhohe Riesenpilze herumging, hörte er aufgebrachte Stimmen: ein Tumult am Ende des Lagers.
Er beeilte sich um herauszufinden, was dort vor sich ging. Drei verletzte Draenei, zwei Männer und eine Frau, wurden von Mitgliedern des Lagers an den Grenzwachen vorbeigeführt. Ein weiterer, bewusstlos, wurde hinter ihnen hergetragen.
Nobundo warf einer der Wachen einen fragenden Blick zu, welche die stumme Frage beantwortete: „Überlebende aus Shattrath.”
Wie elektrisiert folgte Nobundo der Gruppe zu den Höhlen, wo die Überlebenden vorsichtig auf Decken niedergelegt wurden. Rolc legte seine Hände zuerst auf den Bewusstlosen, konnte ihn jedoch nicht aufwecken.
Die Frau, die offensichtlich benommen war, murmelte vor sich hin. „Wo sind wir? Was ist passiert? Ich fühle nicht — etwas ist...”
Rolc trat zu ihr und beruhigte sie. „Entspannt Euch. Ihr seid jetzt unter Freunden. Alles wird gut.“
Nobundo fragte sich, ob tatsächlich alles gut würde. Orcische Jäger hatten bereits eines der Lager entdeckt und dem Erdboden gleich gemacht. Und diese Vier... wie konnten sie überleben? Welche Schrecken müssen die Frauen durchgemacht haben? Was hat den Bewusstlosen in diesen katatonischen Zustand getrieben? Ihr Aussehen, ihr Verhalten... Nobundo fragte sich, ob ihre Verletzungen mehr als nur physisch waren. Sie schienen leer und ihres Geistes beraubt.
Sie sahen aus, wie er sich fühlte.
Einige Tage später hatten die Überlebenden sich ausreichend von ihren Verletzungen erholt, sodass Nobundo es wagte, ihnen Fragen über Shattrath zu stellen.
Die Frau, Korin, sprach zuerst. Ihre Stimme war brüchig, als sie von ihren Erlebnissen berichtete. „Wir hatten Glück. Wir sind tief im Berg, in einem der wenigen Verstecke geblieben, das sie nicht entdeckt haben... zumindest nicht gleich.“
Nobundo sah sie verständnislos an.
„Irgendwann hat uns eine Gruppe der grünhäutigen Monster gefunden. Der Kampf, der folgte, war... Ich habe so etwas noch nie gesehen. Vier von unseren Männern, die sich freiwillig gemeldet hatten, um uns zu verteidigen, wurden abgeschlachtet, aber sie haben auch viele der Orcs getötet. Schließlich waren nur noch Herac und Estes übrig. Sie haben die restlichen brutalen Kreaturen umgebracht. Es waren wilde Bestien. Und diese Augen, diese schrecklichen Augen...” Korin schauderte bei der Erinnerung daran.
Estes sagte: „Es gab eine Explosion. Augenblicke später drang giftiges Gas in unser Versteck, schnürte uns die Luft ab und verursachte in uns eine Übelkeit, die wir nie zuvor erlebt hatten.“
Nobundo dachte an den unnatürlichen roten Nebel und zwang die Erinnerung schnell wieder aus seinem Geist. Herac warf ein: „Es fühlte sich an, als ob wir sterben müssten. Die meisten von uns wurden ohnmächtig. Als wir aufwachten, war es Morgen. Die oberen Ebenen waren verlassen. Wir haben uns in die Hügelwand vorgekämpft und sind von dort aus nach Nagrand gezogen, wo man uns viele Tage später fand.“
„Wie viele wart ihr?”
Herac antwortete: „Zwanzig, vielleicht auch mehr. Hauptsächlich Frauen, ein paar Kinder. Tage später trafen weitere ein, so wie der, der bewusstlos in der Höhle liegt... Die anderen sagen, er hieße Akama. Wir haben gehört, dass er wohl mehr von dem Gas abbekommen haben soll, als viele andere Überlebende. Rolc ist sich nicht sicher, ob er jemals...“ Herac unterbrach sich und wurde still.
Estes fuhr fort: „Später wurden wir aufgeteilt und zu verschiedenen Lagern in den Zangarmarschen und Nagrand geschickt. Eine Vorsichtsmaßnahme, damit wir nicht alle getötet werden, falls die Lager von Orcs entdeckt würden.“
„Waren unter euch Priester oder Verteidiger - — jemand, der das Licht nutzt?”
Alle drei schüttelten den Kopf. „Ich kann nicht für Akama sprechen, aber Estes und ich sind einfache Handwerker, die sich nicht auf das Führen einer Waffe verstehen. Daher hat man uns zu den Höhlen geschickt, als letzte Verteidigungslinie.“
Korin fragte Nobundo, „Haben es noch andere geschafft, als Ihr entkommen seid? Gab es noch mehr Überlebende? Wir haben die Orcs auf den unteren Ebenen gehört, aber wir hatten Angst, entdeckt zu werden. Daher sind wir geflohen.”
Nobundo dachte an die Leichenberge im unteren Viertel... hörte das Flehen von der Aldorhöhe und versuchte, die gequälten Schreie in seinem Geist zum Schweigen zu bringen.
„Nein”, antwortete er. „Ich weiß von keinen weiteren Überlebenden.”
Die Jahreszeiten zogen vorüber.
Velen, ihr prophetischer Anführer, hatte sie vor zwei Tagen besucht... oder waren es vier? In letzter Zeit fiel es Nobundo immer schwerer, einige Dinge zu behalten. Velen war aus einem der benachbarten Lager gekommen. Sein genauer Aufenthaltsort war ein streng gehütetes Geheimnis, falls einer von ihnen gefangengenommen und gefoltert werden sollte. Die Draenei könnten keine Informationen verraten, die sie nicht kannten. Jedenfalls hatte Velen zu ihnen über ihre Zukunft gesprochen, dass sie sich für eine ganze Weile ruhig verhalten mussten, wahrscheinlich für Jahre, und beobachten und abwarten mussten, wie sich die Orcs verhalten würden.
Laut Velen hatten die Grünhäute mit dem Bau von etwas begonnen, dass ihre gesamte Zeit und ihre gesamten Ressourcen in Anspruch nahm. Dieses Projekt lenkte sie offensichtlich davon ab, die überlebenden Draenei zu jagen, zumindest fürs Erste. Was die Orcs unweit ihrer Zitadelle in den versengten Landen bauten, schien eine Art Tor zu sein.
Velen schien wesentlich mehr zu wissen, als er sagte, aber schließlich war er ein Prophet, ein Seher. Nobundo dachte, dass der edle Weise sehr viele Dinge wissen musste, die er und die anderen ohnehin nicht verstehen könnten, weil sie dafür nicht weise genug waren.
Nobundo beobachte Korin, die mit ihrem Fischspeer in das Wasser watete. Etwas an ihr war anders. Es schien, als hätte ihr Körper sich in den letzten paar Wochen verändert. Ihre Unterarme waren ein wenig länger geworden, ihr Gesicht sah ausgelaugt aus und ihre Haltung hatte sich verschlechtert. So unwahrscheinlich es auch klang, es sah aus, als wäre ihr Schweif geschrumpft.
Herac und Estes liefen vorbei, und Nobundo hätte schwören können, dass er bei ihnen ähnliche Veränderungen bemerkte. Er warf einen Blick auf seine eigenen Unterarme. Bildete er sich das nur ein oder sahen sie geschwollen aus? Schon eine ganze Weile fühlte sich etwas nicht richtig an, seit... seit jener Nacht. Aber er hatte angenommen, dass er sich im Laufe der Zeit schon erholen würde. Nun wurde er jedoch immer besorgter.
Korin kam auf ihn zu. „Ich bin fertig für heute. Ich muss mich ein wenig ausruhen.“ Sie reichte Nobundo ihren Speer.
„Geht es dir gut?” fragte er.
Korin schenke ihm ein wenig überzeugendes Lächeln. „Ich bin nur etwas müde“, antwortete sie.

Nobundo saß mit geschlossenen Augen auf den Bergen, die die Zangarmarschen überblickten. Er fühlte sich müde und die Erschöpfung kroch bis in seine Knochen. Er war hierher gekommen, um alleine zu sein. Korin hatte er schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen. Sie hatte sich mit den anderen beiden in einer der Höhlen verkrochen, und wenn er sich bei den anderen Lagerbewohnern nach ihrem Befinden erkundigen wollte, erhielt er nur ein unwissendes Achselzucken. Das gleiche galt auch für den, den sie Akama nannten. Trotz Rolcs ständigen Bemühungen war er immer noch nicht ansprechbar.
Etwas war gründlich falsch. Nobundo wusste es. Er hatte die Veränderungen an sich und den anderen Überlebenden, darunter auch Akama, gesehen. Der Rest des Lagers wusste es auch. Sie schienen nicht mehr so oft mit ihm sprechen zu wollen, sogar Rolc. Und kürzlich, als er mit ein paar kleinen Fischen ins Lager zurückgekehrt war, haben die anderen gesagt, dass sie genügend Fisch hätten und er ihn selbst essen solle... als ob diese unbekannte Krankheit, die ihn und die anderen befallen hatte, sich über das Essen, das er berührt hatte, ausbreiten könnte.
Das widerte Nobundo an. Zählten seine Dienste denn gar nichts? Inzwischen verbrachte er viel Zeit hier auf den Hügeln, dachte im Stillen nach und versuchte, seinen Geist zu konzentrieren. Verzweifelt versuchte er, das zu erreichen, was unmöglich war: eine Verbindung zum Licht. Es war, als hätte man ihm eine Tür vor der Nase zugeschlagen, als ob der Teil seines Geistes, der früher so leicht Kontakt herstellen konnte, nicht mehr funktionierte, oder noch viel schlimmer, nicht mehr existierte.
Sogar einfache Überlegungen wie diese bereiteten ihm Kopfschmerzen. In letzter Zeit wurde es immer schwieriger für ihn, seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen. Seine Arme waren weiter angeschwollen, und die Schwellung wollte einfach nicht abklingen. Seine Hufe wurden brüchig. Teile davon waren bereits abgesplittert und wuchsen nicht mehr nach. Und die ganze Zeit über die Alpträume... Alpträume, die nicht verschwinden wollten.
Wenigstens sah man die orcischen Späher immer seltener. Es wurde berichtet, dass das, was immer die Orcs auch bauen mochten, fast fertig gestellt war. Und es schien in der Tat eine Art Tor zu sein, genauso, wie Velen es vorhergesagt hatte.
Gut, dachte Nobundo. Ich hoffe, dass sie das Tor durchschreiten und direkt in ihrem Untergang landen.
Er erhob sich und machte sich langsam und bedächtig auf den Weg ins Lager zurück. Der Hammer war ihm zu einer Stütze geworden, für die er sehr dankbar war. In den letzten paar Wochen war er ihm so schwer geworden, dass er ihn mit dem Kopf nach unten tragen musste, und ihn meist als Gehstock benutzte.
Stunden später kam er an seinem Ziel an und beschloss Rolc aufzusuchen. Zusammen würden sie eine Versammlung einberufen und das Problem der wachsenden Intoleranz durch die...
Nobundo machte am Eingang zu Rolcs Höhle halt. Dort lag Korin auf einer Decke. Sie hatte sich inzwischen so sehr verändert, dass sie gar nicht mehr wie eine Draenei aussah, sondern wie ein verzerrtes Abbild ihres Volkes. Krank und ausgemergelt sah sie aus. Ihre Augen waren milchig und ihre Unterarme waren beträchtlich angeschwollen. Statt ihrer abgefallenen Hufe waren nur noch zwei knochige Höcker zu sehen. Ihr Schweif war nur noch ein kleiner Stummel. Trotz ihres schwächlichen Befindens wehrte sie sich in Rolcs Armen.
„Ich will sterben! Ich will einfach nur sterben! Ich will, dass der Schmerz vorbeigeht!“
Rolc hielt sie fest. Nobundo trat schnell näher und beugte sich zu ihnen hinunter.
„Sei nicht dumm!” Er schaute Rolc an. „Könnt Ihr sie nicht heilen?”
Der Priester sah seinen Freund finster an. „Ich habe es versucht!“

„Lasst mich gehen! Lasst mich sterben!”
Da begannen Rolcs Hände auf einmal zu leuchten. Er beruhigte Korin und bändigte sie sanft, bis ihr Strampeln weniger wurde und schließlich ganz aufhörte. Sie brach in krampfhaftes Schluchzen aus und rollte sich auf der Decke zusammen. Rolc bedeutete Nobundo mit dem Kopf, die Höhle zu verlassen.
Sobald sie im Freien waren, blickte Rolc Nobundo ernst an. „Ich habe alles getan, was ich konnte. Es ist, als ob ihr Körper, wie auch ihr Geist, zerschlagen wurde.“
„Es muss etwas geben, was — einen Weg, um —“ Nobundo versuchte angestrengt, seine Gedanken in Worte zu fassen. “Wir müssen etwas tun!” platzte es schließlich aus ihm heraus.
Rolc wurde für einen Augenblick still. „Ich mache mir Sorgen um sie, um Euch. Es wurde uns berichtet, dass die Überlebenden aus Shattrath in den anderen Lagern ähnliche Veränderungen durchmachen. Was immer die Ursache sein mag, die Patienten sprechen auf keine Behandlung an und es geht auch nicht mehr weg. Unsere Leute fürchten, dass wir alle verloren sind, wenn wir keine Maßnahmen ergreifen.“
“Was sagt Ihr? Was ist passiert?”
Rolc seufzte. “Nur Gespräche. Fürs Erste. Ich habe lange Zeit versucht, für Euch und die anderen einzutreten. Und, um ehrlich zu sein, bin ich mir inzwischen nicht mehr sicher, ob ich das sollte.”
Nobundo war von seinem Freund bitter enttäuscht. Die einzige Person, von der er dachte, ihr vertrauen zu können, gab nun demselben engstirnigen Verfolgungswahn der anderen nach.
Sprachlose drehte Nobundo sich um und ging fort.
Korins Zustand verschlechterte sich weiter und schließlich wurde ein paar Tage später die Entscheidung getroffen, von der Rolc gesprochen und die Nobundo befürchtet hatte.
Nobundo, Korin, Estes und Herac standen vor den versammelten Mitgliedern des Lagers. Ihre Blicke waren zum Teil düster, zum Teil traurig und zum Teil ausdruckslos. Rolc sah aus, als befände er sich mit sich selbst im Widerstreit, und wirkte doch entschlossen. Fast wie ein Jäger, der lieber nicht töten würde, sich aber bewusst ist, dass er essen muss und sich darauf vorbereitet, seiner Beute den finalen Todesstoß zu versetzen.
Wie sich herausstellte, hatte das Lager Rolc zu seinem Sprecher gewählt. „Dies ist nicht leicht für mich, für keinen von uns...“ Er deutete mit einer Handbewegung auf die stumme Versammlung hinter sich. „Aber wir haben mit den Vertretern der anderen Lager gesprochen und sind gemeinsam zu einer Entscheidung gelangt. Wir glauben, dass es im besten Interesse für alle Beteiligten liegt, wenn diejenigen von Euch, die... betroffen sind, zusammen leben würden, jedoch getrennt von denen, die bei voller Gesundheit sind.“
Korin, die besonders hilflos aussah, fragte mit rauer und belegter Stimme: „Wir werden verbannt?“

Bevor Rolc Einspruch erheben konnte, schnitt Nobundo ihm das Wort ab. „Genau so ist es! Sie können unsere Probleme nicht lösen, also... also hoffen sie, dass sie uns ignorieren können! Sie wollen einfach, dass wir verschwinden!“
„Wir können euch nicht helfen!“ platze es aus Rolc heraus. „Wir haben keine Ahnung, ob euer Zustand ansteckend ist, und eure geminderten körperlichen Fähigkeiten und geschwächter Geist sind eine Bürde, die wir nicht tragen können. Es gibt nicht mehr genügend von uns, um Risiken eingehen zu können!“
„Was ist mit dem anderen, mit Akama?“ fragte Korin.
„Er wird hier in meiner Obhut bleiben, bis er erwacht”, antwortete Rolc. Dann fügte er hinzu: „Falls er erwacht.”
„Wie freundlich von Euch”, murmelte Nobundo. In seinen Worten schwang deutlicher Sarkasmus mit.
Rolc schritt vor und stellte sich trotzig vor Nobundo. Trotz seiner mangelnden Gesundheit richtete Nobundo sich auf und blickte Rolc direkt in die Augen.
„Ihr habt gesagt, dass ihr Euch fragt, ob das Licht Euch vielleicht für Euer Versagen in Shattrath bestrafen möchte”, sagte Rolc.
„Ich habe in Shattrath alles gegeben! Ich war bereit zu sterben, damit ihr alle leben könnt!“
„Ja, aber Ihr seid nicht gestorben.“
„Was soll — wollt Ihr behaupten, dass ich ein Deserteur bin?“
„Wenn das Licht Euch verlassen haben sollte, hat es das sicher nicht ohne Grund getan. Wer sind wir schon, die Wege des Lichts in Frage zu stellen?” Rolc blickte sich Unterstützung suchend zu den anderen um. Einige von ihnen schauten weg, aber viele erwiderten seinen Blick. „Was auch immer geschehen sein mag, ich glaube, dass es an der Zeit ist, dass ihr Euren neuen Platz im Gefüge der Dinge akzeptiert. Es ist an der Zeit, das Wohlergehen der anderen zu schützen...“
Rolc bückte sich und riss Nobundo den Hammer aus der Hand.
“Und ich glaube, dass es an der Zeit ist, dass Ihr aufhört etwas sein zu wollen, das Ihr nicht seid.”

***********
Es war ein Fehler hierher zu kommen. Nichts hat sich geändert. Du bist immer noch Krokul – du bist immer noch ein Zerschlagener.
Nein. Sie würden auf ihn hören. Er würde sie dazu bringen. Schließlich gab es noch seine Eingebung. Nobundo zwang sich, seinen Blick von der versammelten Gruppe auf den Brunnen in der Mitte des kleinen Platzes zu lenken. Er bat das Wasser um Klarheit.
Er spürte, wie seine Gedanken sich konzentrierten und dankte dem Wasser. Schwer auf seinen Gehstock gestützt blickte er widerwillig auf das Meer aus missbilligenden Blicken hinab. Einen Moment lang herrschte ein unangenehmes Schweigen.
„Das ist doch Blödsinn”, hörte er jemanden Flüstern.
Als er das erste Mal anfing zu sprechen, war seine Stimme leise und heiser. Selbst in seinen eigenen Ohren klang sie weit entfernt. Er räusperte sich und setzte erneut an, diesmal lauter. „Ich bin gekommen, um... um mit euch über —“
„Wir verschwenden nur unsere Zeit. Was kann ein Krokul uns schon zu sagen haben?“
Weitere Stimmen schlossen sich dem Ruf an. Nobundo zögerte. Sein Mund bewegte sich, aber seine Stimme versagte.
Ich hatte Recht. Es war ein Fehler.
Nobundo wandte sich zum Gehen und blickte in die gelassenen Augen ihres Propheten, ihres Anführers, Velen.
Der Seher schaute Nobundo fragend an. „Wollt Ihr uns so schnell schon wieder verlassen?“

***************

Nobundo saß auf einer der Klippen, die die versengten Lande überragten. Sie hatten sich kaum verändert, seit er... wie lange war es denn her, seit er das erste Mal hierher gekommen war? Fünf Jahre? Sechs?
Als er und die anderen zu dem neuen Lager der Krokul, wie man sie schließlich nannte, geschickt wurden, war Nobundo wütend, frustriert und deprimiert gewesen. Er ging so weit weg, wie es nur möglich war, und zwar in die einzige Richtung, die man ihm erlaubte. Er hatte sich schon immer vorgenommen gehabt, die Hügel am Rand der Zangarmarschen zu erkunden, aber am Fuße dieser Hügel waren die Lager der ‘Unberührten’, ein Gebiet, das von nun an für ‘Seinesgleichen’ Sperrzone war.
Und so reiste er durch die sengende Hitze, zu den Gipfeln hoch über den wohl trostlosesten Weiten von ganz Draenor: einer Wüste, über die sich einst grüne Wiesen erstreckt hatten, bevor die Orcs Hass und Mord brachten. Eine Wüste, die von den Hexenmeistern mit ihrer abartigen Magie erschaffen wurde.
Zumindest stellten die Orcs in diesen Tagen kein allzu großes Problem mehr da. Es gab zwar immer noch vereinzelt Patrouillen, die jeden Draenei, der ihnen in die Quere kam, sofort töteten, aber sie sind weniger geworden. Viele der grünhäutigen Wilden sind schon vor Jahren durch ihr Tor verschwunden und nie wieder zurückgekehrt.
Nobundo hatte gehört, dass sein Volk in Folge davon irgendwo in den Marschen eine neue Stadt errichtete. Auch egal, dachte er. Es ist eine Stadt, in der ich niemals willkommen sein werde.
Die Veränderungen an Nobundo und den anderen gingen weiter. Es wuchsen ihnen Fortsätze, wo zuvor keine waren. Flecken und Warzen und merkwürdige Auswüchse übersäten ihre Körper. Ihre Hufe, eines der typischsten Merkmale eines Draenei, waren ganz verschwunden und durch Dinge ersetzt worden, die missgebildeten Füßen ähnelten. Doch die Veränderung war nicht nur körperlich. Ihre Gehirne mussten sich immer mehr anstrengen, um höhere Funktionen aufrecht zu erhalten. Und einige von ihnen waren völlig verloren, wanderten ziellos umher und sprachen mit Gestalten, die nur in ihren Köpfen existierten. Einige dieser Verirrten wachten eines Tages auf und liefen einfach fort, ohne jemals wieder zurückzukommen. Der erste, bei dem dies geschah, war Estes. Nun hatte Korin nur noch einen Begleiter an der Seite, der die dunklen Zeiten in Shattrath mit ihr geteilt hatte.
Genug, dachte er sich. Hör auf, es hinauszuzögern. Tu endlich, weswegen du hierher gekommen bist.
Er zögerte es hinaus, weil ein Teil von ihm wusste, dass es dieses Mal nicht anders würde. Aber er würde es trotzdem tun. So, wie er es jeden Tag in den letzten paar Jahren getan hatte... weil ein Teil von ihm immer noch hoffte.
Er schloss die Augen, zwang alle störenden Gedanken aus seinem Kopf und griff nach dem Licht. Bitte, nur dieses eine Mal... lass mich wieder in deinen strahlenden Glanz eintauchen.
Nichts.
Versuch es stärker.
Er konzentrierte sich mit jeder Unze an Entschlossenheit, die ihm zur Verfügung stand.
„Nobundo.”
Fast wäre er vor Schreck aus der Haut gefahren. Er riss die Augen auf und stütze sich mit einer Hand ab, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Er schaute sich um, schaute zum Himmel.
„Ich habe dich gefunden!”
Er drehte sich um und sah Korin, atmete tief durch und schüttelte den Kopf.
Du hättest es besser wissen sollen als zu glauben, dass das Licht dir wieder gesonnen sei.
Sie kam zu ihm herüber und setzte sich neben ihn. Müde, verwittert und irgendwie verwirrt sah sie aus.
„Wie geht es dir?” fragte er.
„Nicht schlimmer als sonst auch.“
Nobundo wartete darauf, dass sie noch mehr sagen würde, aber Korin starrte nur die trostlose Aussicht an.
Die beiden bemerkten die Gestalt nicht, die sich hinter einer in der Nähe befindlichen gezackten Steinformation versteckte und sie beobachtete, sie belauschte.
„Wolltest du mir etwas sagen?”
Korin dachte einen Moment lang nach. „Oh ja!” rief sie schließlich. „Neues Lagermitglied ist heute angekommen. Sagte, dass die Orcs sich... neu sammeln. Bereiten sich auf irgendetwas vor. Sie werden von einem neuen... wie heißen die nochmal? Die, die dunkle Magie wirken?“
„Hexenmeister?”
„Ja, ich glaube, das war es.” Korin stand auf und trat einen Schritt nach vorne und blieb nur Zentimeter vom Rand der Klippe entfernt stehen. Lange Zeit schwieg sie still.
Unweit verschwand die Gestalt hinter den Steinen, so leise, wie sie gekommen war.
Korins Augen schienen in die Ferne zu starren. Ihre Stimme war rau und klang, als wäre sie nicht wirklich hier. „Was glaubst du wird wohl geschehen, wenn ich noch ein paar Schritte nach vorne gehe?”
Nobundo zögerte. Er war sich nicht sicher, ob sie Scherze machte. „Ich glaube, du würdest hinunterfallen.“
„Ja, mein Körper würde fallen. Aber manchmal denke ich, dass mein Geist... fliegen würde? Nein, das ist nicht das richtige Wort. Wie heißt das... wenn man nach oben und nach oben geht, so wie fliegen?“
Nobundo dachte nach. „Aufsteigen?”
„Ja! Mein Körper würde fallen, aber mein Geist würde aufsteigen.”

Tage später wachte Nobundo mit Kopfschmerzen und leerem Magen auf. Er beschloss nach draußen zu gehen und zu schauen, ob noch ein paar Fische vom gestrigen Mahl übrig waren.
Als er aus der Höhle heraustrat, bemerkte er, dass sich die anderen versammelt hatten. Sie schirmten die Augen gegen die Sonne ab und starrten nach oben. Er trat unter einem riesigen Pilz hervor und hob den Blick. Auch er musste seine Augen mit der Hand schützen. Sein Mund klappte auf vor Erstaunen.
Ein Riss durchzog den blutroten Morgenhimmel. Es sah aus, als hätte sich eine Naht geöffnet, ein Riss im Gewebe der Welt, durch den schwirrende Lichter und eine rohe, unsagbar mächtige Energie eindrangen. Der Riss zitterte und tanzte wie eine riesige, glitschige Schlange aus purem Licht.
Der Boden begann zu beben. Ein Druck machte sich in Nobundos Kopf breit und drohte, durch seine Ohren zu explodieren. Die Luft knisterte vor Elektrizität. Nobundos Körperhaare standen ab. Und für einen kurzen, wahnsinnig machenden Augenblick schien es, als sei die Realität selbst zerstört.
Während Nobundo zuschaute, schien es für den Bruchteil einer Sekunde, als teilten sich die versammelten Zerschlagenen in mehrere Spiegelbilder: einige älter, einige jünger, einige überhaupt keine Zerschlagenen, sondern gesunde, unberührte Draenei. Dann verschwand die Illusion wieder. Es ging ein Ruck durch den Boden, als ob Nobundo auf einem Wagen stünde, der plötzlich anfuhr. Er und die anderen wurden in den Matsch geschleudert und blieben dort liegen, während das Beben weiterging.
Nach einigen Momenten ebbte das Beben ab und hörte schließlich ganz auf. Korin starrte mit aufgerissenen Augen zu dem Riss hinauf, der sich nun selbst wieder schloss. „Unsere Welt geht zu Ende“, flüsterte sie.

Ihre Welt ging nicht zu Ende. Aber es war nahe dran.
Als Nobundo am folgenden Tag zu seinem vertrauten Platz auf den Berggipfeln ging, erblickte er einen vollkommen wahnsinnig gewordenen Horizont. Rauch wehte über den Himmel und warf einen schwarzen Schatten über das Land. Die Luft brannte in seinen Lungen. Am Fuß der Klippe, auf der er stand, hatte sich eine große Kluft aufgetan. Dampf stieg daraus empor, und als Nobundo sich nach vorne beugte, konnte er tief in der Erde ein schwaches Leuchten erkennen.
Große Brocken waren aus dem Boden der Wüste herausgeschlagen worden, und aus einem unerklärlichen Grund schwebten sie hoch oben in der Luft. Und Teile des Himmels sahen fast aus wie Fenster zu... irgendwas. Beinahe schien es Nobundo, als könne er in den Fenstern andere Welten erkennen, einige weit entfernt, einige ganz nahe. Doch ob das alles wahr oder nur ein Trugbild der Katastrophe war, konnte Nobundo nicht sagen.
Und überall, überall legte sich eine Stille über das Land, als ob alle Wesen gestorben oder in ein fernes Versteck geflüchtet wären. Und doch spürte Nobundo, dass er nicht alleine war. Einen Moment lang glaubte er, im Augenwinkel eine flüchtige Bewegung bemerkt zu haben. Er suchte mit den Augen die Umgebung ab und vermutete schon fast, Korin zu sehen.
Nichts. Sein verwirrter Geist hatte ihm einen Streich gespielt.
Noch einmal warf Nobundo einen Blick auf den alptraumhaften Anblick vor sich und fragte sich, ob die nahe Zukunft wohl das Ende von allem, was er kannte, bringen würde.
Doch die Zeit verging und das Leben ging weiter. Im Lager kamen Berichte an, die erzählten, dass ganze Gebiete vollkommen zerstört worden waren. Und doch überlebte die Welt.
Zerbrochen, verdreht und gequält... Die Welt überlebte, und so auch die Zerschlagenen. Sie ernährten sich von Nüssen und Wurzeln und den wenigen Fischen, die sie in den Marschen finden konnten. Sie kochten ihr Wasser und suchten Zuflucht vor Stürmen, wie sie sie noch nie zuvor erlebt hatten, aber sie überlebten. Die Jahreszeiten zogen vorüber und die Tiere kamen zurück. Darunter auch Arten, die zuvor nicht existiert hatten, aber die Tiere waren zurückgekehrt. Wenn den Zerschlagenen das Glück einer erfolgreichen Jagd zuteil wurde, hatten sie Fleisch zu essen. Sie überlebten.
Zumindest die meisten von ihnen. Vor ein paar Tagen war Herac verschwunden. Viele lange Monate schon war er abwesend und verwirrt, und auch wenn Korin nicht darüber reden wollte, wusste sowohl sie als auch Nobundo, dass er kurz davor stand, zu einem der Verirrten zu werden. Herac war der letzte von Korins Verteidigern aus Shattrath gewesen, und Nobundo fühlte mit ihr.
Nobundo sprach mit niemandem darüber, aber er fragte sich, ob auch er eines Tages sämtliche Kontrolle über seinen Geist verlieren und in die Fremde ziehen würde. Ob auch er eines Tages nie nieder zurückkehren und nur noch, wenn überhaupt, eine Erinnerung sein würde.
Er fuhr mit seiner täglichen Wache fort und pilgerte auf seinen abgelegenen Berggipfel. Noch immer trug er die Hoffnung in sich, dass er eines Tages seine Buße beglichen haben und das ehrbare Licht wieder auf ihn herabscheinen würde.
Jeden Tag kehrte er enttäuscht ins Lager zurück.
Und jede Nacht litt er unter demselben schrecklichen Alptraum.

Nobundo stand außerhalb von Shattrath und hämmerte verzweifelt mit den Fäusten gegen das geschlossene Stadttor, während die Schreie der Sterbenden die Nachtluft zerrissen. Unterbewusst verstand er, dass dies nur ein weiterer Traum war, ein weiterer Alptraum, und er fragte sich geistesabwesend, ob dieser wohl derselbe sein würde, wie all die anderen.
Er schlug immer und immer wieder gegen das Holz, bis seine geschundenen Hände zu bluten begannen. Auf der Innenseite starben Frauen und Kinder langsame, schreckliche Tode. Ein Schrei nach dem anderen erstarb, bis nur noch ein letztes gequältes Klagen blieb. Er erkannte diesen Schrei. Es war die Frau, deren Stimme durch die Wälder von Terokkar gehallt hatte, als er aus der Stadt geflohen war.
Bald verklang auch dieser Schrei und hinterließ nichts außer Stille. Nobundo trat von den Toren zurück und blickte an seinem schwachen, unnützen Körper hinab. Er zitterte und weinte und wartete auf sein unvermeidliches Erwachen.
Ein Quietschen ertönte, als die Tore sich langsam öffneten. Nobundo schaut auf, die Augen weit aufgerissen. Das war noch nie zuvor passiert. Das war neu. Was sollte es wohl bedeuten?
Hinter den massiven Türen lag ein leeres unteres Viertel. Die inneren Mauern und Bollwerke wurden nur durch ein einzelnes großes Feuer erleuchtet, das im inneren Ring brannte.
Nobundo trat, von der Wärme der Flammen angezogen, ein. Er schaute sich um, doch er konnte keine Leichen sehen. Nichts außer ein paar fallengelassener Waffen, die um das Feuer herum im Kreis lagen, ließ auf das Massaker schließen, welches hier stattgefunden hatte.
Donner grollte sanft und Nobundo spürte einen Regentropfen auf seinem Arm. Als er einen weiteren Schritt nach vorne trat, schlossen sich die Tore hinter ihm.
Dann hörte er Geräusche. Hinter dem Feuer erklang ein Schlurfen. Und es kam näher. Er trug keine Waffen bei sich, nicht einmal seinen Gehstock. Das Wissen, dass dies nur ein Traum war, konnte seine Furcht nicht mindern. Er bereitete sich schon darauf vor, ein Stück brennendes Holz aus dem Feuer zu nehmen, als er eine weibliche Draenei ins Licht treten sah.
Der schwache Regen hielt an.
Zuerst lächelte er und war erleichtert, dass jemand überlebt hatte. Doch sein Lächeln verschwand schnell, als er den langen, blutigen Schnitt an ihrer Kehle und die Verletzungen an ihrem Körper sah. Ihr linker Arm hing schlaff und leblos an ihrer Seite herab. Sie starrte ihn mit leeren Augen an, und doch war etwas an ihrem Verhalten... vorwurfsvoll. Als sie näher kam sah er, dass es Shaka war. Bald folgten ihr andere. Ganze Scharen von ihnen stolperten von allen Seiten herbei, die Augen trübe und die Körper mit schweren Wunden übersät.
Ein Windstoß kam und schürte das Feuer. Der Regen verwandelte sich in ein hartnäckiges Nieseln. Eine nach der anderen bückten sich die Frauen, hoben die verschiedenen Waffen vom irdenen Boden auf und kamen näher. Nobundo nahm eine Fackel aus dem Feuer.
Ich wollte euch retten! Ich konnte nichts tun, wollte er schreien, doch kein Wort verließ seinen Mund. Seine Bewegungen fühlten sich langsam und eingeschränkt an.
Der Wind wurde immer stärker und blies die Fackel in Nobundos Hand aus. Die erschlagenen Frauen kamen näher und erhoben ihre Waffen, während der raue Wind die Flamme des Feuers hin und her warf, bis auch sie erlosch. Nobundo war von völliger Dunkelheit umgeben.
Er wartete und lauschte... versuchte durch den strömenden Regen zu hören, wie sie auf ihn zukamen.
Plötzlich schloss sich eine eiskalte Hand um seinen Arm. Nobundo schrie...
Und wachte auf. Er fühlte sich ausgelaugt und müder als vor seinem Schlaf. Die Träume verlangten ihren Preis.
Er beschloss, dass die Morgenluft ihm gut tun würde. Vielleicht war Korin wach und er könnte sich ein wenig mit ihr unterhalten.
Er trat zu den anderen, die sich zum Frühstück versammelt hatten, und fragte eines der neueren Mitglieder des Lagers, ob Korin heute schon gesehen wurde.
„Sie ist fortgegangen.”

„Fortgegangen? Wohin? Wann?”
„Gerade eben. Sie hat nicht gesagt, wo sie hinwollte. Sie war irgendwie merkwürdig... sagte, sie wolle... wie heißt das nochmal?“
Der Zerschlagene dachte kurz angestrengt nach und nickte dann, als seine Erinnerung zurückkehrte.
„Genau! Sie sagte, sie wolle ‘aufsteigen’ gehen.”
Nobundo rannte so schnell ihn seine Beine trugen. Als er endlich die Berggipfel erreichte, brannten seine Lungen wie Feuer. Er hustete dicken grünen Schleim und seine Beine zitterten unkontrollierbar.
Auf der kleinen Anhöhe, die zur Klippe führte, sah er sie. Sie stand am Rand und schaute hinunter.
„Korin! Nicht!”
Sie blickte zu ihm herüber und schenkte ihm ein schwaches Lächeln. Dann drehte sie sich um, trat still einen Schritt nach vorne und versank in einer dicken Wolke aus Dampf.
Nobundo erreichte den Rand und blickte hinunter, doch er sah nichts außer dem schwachen Leuchten, weit, weit unter sich.
Du bist zu spät gekommen.
Und wieder hatte er versagt, so wie er dabei versagt hatte, die Frauen von Shattrath zu retten. Nobundo schloss die Augen und rief in Gedanken zum Licht: Warum? Warum hast du mich verlassen? Habe ich dir nicht stets treu gedient?
Wieder erhielt er keine Antwort. Nur eine sanfte Brise, die die Tränen auf seinen Wangen trocknete.
Vielleicht hatte Korin Recht. Tief in seinem Inneren wusste Nobundo genau, warum sie es getan hatte: sie wollte nicht so werden, wie die Verirrten. Vielleicht hatte sie den einzigen Ausweg gefunden.
In dieser Welt gab es nichts mehr für ihn. Es wäre so einfach, diese letzen Schritte zu gehen, über die Kante zu laufen und dem Elend ein Ende zu setzen.
Ganz in der Nähe trat eine Gestalt hinter den gezackten Felsen vor und machte sich bereit, laut zu rufen...
Doch selbst jetzt, da er von seinem eigenen Volk verstoßen wurde, vom Licht verlassen war und von den Seelen gequält wurde, die er nicht hatte retten können... konnte Nobundo nicht aufgeben.
Die Brise wandelte sich zu einem starken Wind, der die Dampfwolken zerriss und Nobundo kraftvoll vom Rand wegdrückte. In seinem Rauschen hörte er deutlich ein einzelnes Wort: Alles...
Nobundo lauschte angestrengt. Sicherlich hatte er jetzt ganz den Verstand verloren und sein Geist spielte ihm einen Streich.
Die Gestalt hinter den Felsen ging wieder in Deckung und beobachte weiter aus der Stille.
Der Wind wurde erneut stärker. Alles, was...
Mehr Worte. Welch Wahnsinn war das? Das war nicht das Werk des Lichts. Das Licht „sprach“ nicht. Es war Wärme, die den Körper erfüllte. Das war etwas Neues, etwas Anderes. Ein letzter Windstoß glitt über die Anhöhe und zwang Nobundo, sich zu setzen.
Alles, was existiert... lebt.
Nach all diesen Jahren des Flehens hatte Nobundo endlich eine Antwort bekommen. Eine Antwort, die nicht vom Licht kam...
Sondern vom Wind.

Nobundo hatte von Ritualen der Orcs gehört, die sich mit den Elementen befassten: Erde, Wind, Feuer und Wasser. Sein Volk hatte vor dem mörderischen Feldzug der Orcs einige der Mächte dieser “Schamanen” beobachtet, doch solche Dinge waren für die Draenei völlig fremdartig.
In den nächsten Tagen kehrte Nobundo täglich zu der Klippe zurück, auf der er das Flüstern im Wind vernommen hatte. Es war für ihn die Gewissheit, dass er nicht alleine war und ein verlockender Hinweis, dass ein Schatz an Wissen ihn erwartete. Manchmal war die Stimme im Wind sanft und beruhigend, manchmal eindringlich und energisch. Hin und wieder nagte der Zweifel an Nobundo und er fürchtete, dass er vielleicht doch dem Wahnsinn verfallen war.
Am fünften Tag, als er nahe am Rand der Klippe saß, hörte er ein krachendes Geräusch wie Donner, obwohl der Himmel klar war. Er öffnete die Augen und sah, wie eine große Feuersäule jenseits des Klippenendes aus der Kluft in die Höhe schoss. Die Flammen breiteten sich aus. In ihrem flackernden Tanz konnte Nobundo sich wiegende, nebelhafte Gestalten entdecken. Als das Feuer sprach, klang es wie ein großer, mächtiger Sturm.
Geht zu den Bergen von Nagrand. Hoch oben auf den Gipfeln werdet Ihr einen Ort finden... an dem Eure wahre Reise beginnen wird.
Nobundo dachte kurz darüber nach und antwortete: “Um dorthin zu gelangen muss ich die Lager der Unberührten durchqueren, die für meinesgleichen verboten sind.”
Das Feuer wurde mit einem Schlag größer. Er konnte die Hitze auf seinem Gesicht spüren. Stellt die Gelegenheit, die Euch geboten wurde, nicht in Frage!
Die Flammen erloschen.

Geht mit hoch erhobenem Haupt, denn Ihr seid nicht meh
 
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