Der Lauf des Lebens

Khanor

Dungeon-Boss
Mitglied seit
09.01.2008
Beiträge
672
Reaktionspunkte
0
Kommentare
1.795
Buffs erhalten
162
Draußen spuken dicke Nebelschwaden bei äußerst ernüchternden Temperaturen von ca. 3° C herum. Die Temperaturen sind denen der gesamten letzten Woche sehr ähnlich, was die Frage aufkommen lässt, was mit den frühherbstlichen Verhältnissen von vor einer Woche mit bis zu 22° geworden ist.

Ausgerechnet jetzt, wo die Vorlesungen auch an den letzten deutschen Hochschulen und Universitäten wieder begonnen haben und sich jeder Student damit beschäftigt hat seinen Kleidervorrat im kurzärmeligen Bereich aufzustocken haben die geringfügigen Temperaturen zu einem jähen Ende des Tragegenusses geführt. Somit heißt es nun wieder die dicken Klamotten aus dem Schrank heraus holen, Winterstiefel in die vordere Reihe, Mäntel an die Front, Handschuhe ftw.

Seit gut einem dreiviertel Jahr schiebe ich das Nähen von Opas schicken Lederhandschuhen vor mir her, doch gestern habe auch ich mich daran begeben Nadel und Faden hervor zu kramen und das endlich einmal zu erledigen. Sicher wäre es einfacher die dicken schneeballschlachterprobten Fäustlinge auszubuddeln oder ein paar Wollfetzen für 10 Euro zu erstehen, aber Opas Lederfingerschutz ist mir doch einfach der liebste Winterzeitbegleiter. Zum einen, da sie mir doch noch gewisse Fingerfertigkeit zugestehen, zum anderen aus dem schlichten Grund, dass Opa vor fast 24 Jahren verstorben ist und... Tja, ich weiß nicht genau. Es ist einfach der emotionale Wert.

Wer nun rechnen kann wird bemerken, dass ich bei Großvaters Tod nicht ganz 4 Jahre jung war. Dementsprechend reichhaltig sind auch meine Erinnerungen an ihn, doch hänge ich seit jeher an diesem Manne. Um genau zu sein fallen mir spontan gerademal drei "Szenen" mit meinem Opa ein.

Die erste ist, wie er beim Rasenmähen keinen strukturierten Weg abfuhr, sondern kreuz und quer Bahnen in den Rasen fuhr und wir lachend hinter ihm her rannten und Katz&Maus spielten.

Die zweite ist "der Opa mit den schnellen Puschen". Hinter dem Haus fand immer die Verabschiedung statt und man winkte dem rückwärts ausparkenden Auto zu. Wenn der Hauseingang außer Sicht war fuhren wir ca. 150 Meter die Straße hinunter und kamen an der Gebäudefront vorbei und konnten Opa im Küchenfenster winken sehen.

Die dritte ist die, wie er in der späteren Werkstatt meines Onkels im Elternhaus in seinem Sarg aufgebahrt war und kurze Zeit später wie der Sarg ins Grab gelassen wurde. Von nun an hieß es immer "die Oma mit den schnellen Puschen", doch ich habe nie verstanden, wieso Opas Hausschuhe Oma so gut passten, schließlich war sie einen guten Kopf kleiner als er.

Ich habe ihn schrecklich vermisst und auch noch in meiner Jugend habe ich viele Tränen wegen ihm vergossen. Noch heute sehe ich oftmals, wenn ich meine Mutter ansehe, wie ähnlich sie sich doch sind, auch wenn ich nicht eines der Merkmale benennen kann.

Die Handschuhe brachte mir meine Mutter vor einigen Jahren von einem der letzten Besuche bei meiner Oma mit. Seit beginn des Studiums sind sie nie ganz weit weg, wenn es kalt wird.

Als ich bei der Zeugnisübergabe an der Fachoberschule mit einem Mitschüler sprach und sagte, dass ich in Darmstadt Bauingenieurwesen studieren werde witzelte er noch, dass er mir das zutraue und sicherlich ohne Angst über von mir gebaute Brücken schreiten werde. Meine anwesende Mutter meinte, dass so doch alles in der Familie bliebe.

Ich wusste es mal, hatte es aber doch gänzlich vergessen: Opa war Bauingenieur. Und mittlerweile sind nicht nur seine Handschuhe an mich weiter gegangen.

Ich hörte einmal eine Geschichte von meiner Mutter, wie sie ihren Vater nur ein einziges Mal habe weinen sehen. Der große Mann, weinend wie ein kleines Kind. Das war, als man beschloss eine Brücke, die er gebaut hatte und in die er unendlich viel Aufwand hatte stecken müssen, durch eine neue Stahlkonstruktion zu ersetzen. Einen wirklichen Grund dafür gab es nicht, zum damaligen Zeitpunkt waren über Instandhaltungskosten noch nicht sonderlich viele aktuelle Fakten bekannt. Man beschloss einfach, "seine" Brücke abzureißen.

Bei der Sprengung habe er geweint, schrecklich geweint.

Ich möchte hoffen, dass es ihm wenigstens Genugtuung verschafft hat, dass seine Bauweise des Fundaments so gut war, dass man dafür eine weitere Sprengung planen musste.

Ich kenne nur noch wenige Geschichten über ihn. Ich habe vor 15 bis 20 Jahren gehört, dass es auf der Arbeit selten gut für ihn lief, dass die Kollegen und Vorgesetzten unfair waren und ihm nichts gegönnt wurde. Das ist wohl der Preis der bezahlt werden muss, wenn man gut ist, vermute ich.

Er hat sich sehr auf seinen Lebensabend gefreut, raus aus dem Mobbing, dem ewigen Stress, Zeit mit Familie und für Garten. Doch erleben durfte er ihn nicht mehr, mein Großvater starb kurz vor dem Rentenalter an einem Herzinfarkt im Wohnzimmer liegend, weil die ersten Ärzte, die meine Oma anrief, sie am Telefon abwimmelten und keine Hilfe kam. Der eintreffende Rettungswagen nach über einer dreiviertel Stunde war dann leider ausgesprochen nutzlos.

Das Ende eines Bauingenieurs.
 
Zurück