Die Sterne über Dalaran - Vierter Abschnitt, Teil 10 (4.10)

Melian

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Es dauerte nicht lange, und Dairean hatte gefunden, was er suchte. Neben einigen kleinen Rationen Lebensmittel grub er schliesslich einen rechteckigen, aus Holz gefertigten Kasten aus der vom Greifenkadaver begrabenen Satteltasche. Es hatte ihn fast seine gesamte übrige Kraft gekostet, den schweren toten Körper zur Seite zu hieven, doch mit nachdem er sich mit seinem ganzen Gewicht hinein gestemmt hatte, schaffte er es schliesslich.
Er gestattete sich einen kleinen Blick auf den Inhalt, der unscheinbar wie der Kasten selbst war. Ein fast schon verrosteter, dreckig wirkender Griff, der wohl einmal zu einem Schwert gehört hatte. Runen waren in den Stahl geprägt worden, die Dairean immer noch erkennen konnte.
Er klappte den Deckel zu, und hievte sich wieder hoch. Er konnte auch später noch einen Blick darauf werfen. Jetzt war es wichtig, dass er von hier wegkam.
Es dauerte viel zu lange, bis er die wenigen Meter zu Phönix gestapft war. Der Schnee schien an seinen Füssen absichtlich zu verklumpen, und ihn zu hindern. Keuchend kam er bei Phönix an. Eine Satteltasche war noch übrig geblieben – Dairean konnte nur hoffen, dass sie das enthielt, was er hoffte. Er machte sich keine Illusionen über den Verbleib seiner persönlichen Besitztümer, vor allem der Kommunikationsscheibe, aber er hoffte..
Noch während er nachdachte, die Hände in der Satteltasche vergraben, flatterte Phönix auf einmal mit den Flügeln und kreischte auf. Dairean drehte sich sofort um, nur um zusehen, wie der Frostwyrm sich plötzlich von der Stelle abgewandt hatte, auf die er stetig mit seinen Klauen eingedroschen hatte, nachdem er Lorethiel erfolgreich erwischt hatte.
Der Frostwyrm wandte sich in die Richtung von Ylaria!
„Närrin", fluchte Dairean leise und wandte sich wieder Phönix zu. „Still jetzt, wir verschwinden hier gleich." Seine Hand ertastete endlich, was er suchte, und schnell zog er den Beutel mit Blutdistelpulver aus dem Geheimfach in der Satteltasche.
Während er versuchte, mit zitternden Fingern den Beutel zu öffnen, drehte er sich wieder um. Der Frostwyrm war zu weit weg, um ihn und seinen Falken mit seinem Frostatem ernsthaft zu gefährden, doch spürte er den eiskalten Wind, der auch in seine Richtung flog, doch er ging nicht in Deckung. Es war nicht notwendig, und gerade zählte etwas anderes viel mehr.
Er strich sich zwei grosse Portionen Pulver ins Zahnfleisch und rieb es hinein. Die beissende schärfe des Pulvers trieb ihm Tränen in die Augen, aber gleichzeitig spürte er sofort, wie sich Wärme aus seinem Kiefer im ganzen Kopf verbreitet, wie sie weiter hinabfuhr, seinen Hals erfasste, und dann den Brustkorb. Ein leiser, zischender Laut entfuhr ihm, und er blinzelte, rieb sich die Stirn. Blinzelte noch einmal, und verschloss das Säckchen dann.

Der erste Schub wärmte seinen ganzen Körper. Der zweite Schub weckte ihn auf. Energie floss durch seinen ganzen Körper bis in jede Zehenspitze. Seine Handflächen kribbelten, und seine Nase hörte auf zu fliessen. Er blinzelte erneut, und hielt sich an Phönix' Sattel fest. Die Wirkung war fast zu überwältigend. Einen Moment befürchtete Dairean, zu viel genommen zu haben.
Sein Schwindel schwand, und auch die Kopfschmerzen, die ihn geplagt hatten. Stattdessen spürte er auf einmal seinen Magen knurren. Er grinste. Dann lachte er schallend.
Nein, es war nicht zu viel gewesen. Es war genau richtig gewesen.
Belebt mit neuer Energie stopfte er den Kasten mit dem Schwertgriff in eine der Satteltaschen, schloss sie und schwang sich leichtfüssig auf den Drachenfalken.
„Na dann wollen wir mal, Phönix." Er gab Phönix das Zeichen, sich in die Lüfte zu erheben, und der Drachenfalke antwortet mit einem leisen Laut der Zuneigung, ehe er einen Satz machte, und sich in die Lüfte erhob. Dairean blickte sich in der Umgebung um und versuchte sich zu orientieren. Er musste wissen, wohin er Phönix lenken sollte, um möglichst schnell in ein sicheres Gebiet zu kommen. Er machte sich keine Illusionen – der Drachenfalke war zwar kurzzeitig belebt davon, dass Dairean ihn wieder führte, aber das Tier musste ebenso erschöpft sein wie die Greifen. Er konnte nicht allzu weit reisen. Zumal er keinen Proviant dabei hatte, der für den Falken passend gewesen wäre. Er wagte es nicht, dem Drachenfalken vom Greifenkadaver Stücke abzuschneiden, dann er wusste nicht, wie viel Verseuchung der Frostwyrm hinterlassen hatte, als seine dreckigen Klauen die Seite des Greifen aufgerissen hatten.
Phönix schlug mehrmals mit den Flügeln, um an Höhe zu gewinnen, während Dairean sich weiter umschaute. Zu seiner Rechten sah er den Wyrmruhtempel, wie er sich elegant in die Höhe wand, selbst auf diese weite Distanz. In der Ferne nahm er die Bergketten wahr, die die Drachenöde östlich und nördlich eingrenzten. Er kniff die Augen zusammen.
Irgendwo hinter der Bergkette befand sich ein Lager der Verlassenen. Es lag sehr nahe. Allerdings kam er dabei der Feste ziemlich nahe, in der die 7. Legion stationiert war.
Er wand den Kopf herum, während er Phönix etwas nördlich fliegen liess. Im Westen erkannte er kaum etwas, was ihm einen Anhaltspunkt gegeben hätte. Dairean seufzte. Er wäre lieber gen Agmars Hammer geflogen, nicht zuletzt, weil er Orcs den Verlassenen eindeutig bevorzugte.
„Horde", murmelte er verächtlich, und liess Phönix weiterhin langsam über die Landschaft gleiten. Es wäre allerdings eine Wahl zwischen Dreck und Schlamm gewesen, beides etwa gleich schlimm. Er war sich nicht sicher, in welchem der beiden Stellungen der Horde er möglicherweise Kontakt nach Dalaran aufbauen konnte.
Sein Blick fing im Westen nur eine undurchdringliche, fast schon düster wirkende Wolke auf, die langsam in Nebel überging, und ihn immer noch nichts erkennen liess, weder das Gebirge, welches die Drachenöde von der Tausendwintersee abgrenzte, noch die Ausläufer der dunklen Feste des Lichkönigs, die sich im südlichsten Punkt des Eiskronengebirges in dessen Ausläufer gebohrt hatte, und deren dunkles Tor von Stellungen der Allianz und der Horde gleichermassen belagert wurde.
Er seufzte. Dann würde es also nach Osten gehen. Er drehte den Kopf wieder. Um das Verlassenenlager zu erreichen, musste er sich deutlich weiter südlicher ausrichten – es befand sich am südlichen Ende der Gebirgskette.
„Phönix, Süden", sagte er und zog an Phönix Zügeln. „Fliegen wir unserer Rettung entgegen."
Er grinste. Das Blut pochte in seinen Adern, er war erfüllt von einem Hochgefühl, welches er seit Tagen nicht mehr verspürt hatte.


Ylaria versuchte sich abzufangen, aber der eisig kalte Schmerz des frostigen Atems hatte sich so präsent in ihren Geist gefressen, dass sie es nicht schaffte, in der kurzen Zeit, ihn der sie und der Greif in die Tiefe trudelten und schliesslich hart auf den Boden aufschlugen. Dass der Greif ihren Sturz etwas abfederte, nützte auch nicht mehr viel. Sie kam mit dem Fuss zuerst auf. Das Gelenk verdrehte sich und sie stürzte zur Seite. Schmerz durchfuhr sie. Ein Knacksen eines Knochens zuckte ihr bis ins Rückenmark.
Sie schrie, fasste sich mit den Händen an ihr Bein, hielt es fest, versuchte den Schmerz zu stillen.
Der Greif zuckte noch ein paar Mal, ehe er schliesslich verendete.
Sie wünschte, ihr würde schwarz vor Augen werden, aber nichts geschah. Wie glühende Speere fuhr ihr der Schmerz weiterhin durch den ganzen Körper, trieb eiserne Spitzen in ihr Fleisch.
Sie versuchte sich etwas aufzurappeln, aber jede Bewegung schickte neue Stösse durch ihren rechten Unterschenkel. „Hilfe" entfuhr es ihr, doch niemand hörte sie. Niemand würde sie hören.
Das schrille Kreischen des Frostwyrms drang ein weiteres Mal durch ihren Körper, ein zweites und schliesslich ein drittes Mal. Nichts geschah. „Hilfe", wimmerte sie erneut. Zu leise, viel zu leise, so konnte das nicht.. Sie brauchte Hilfe..
Keuchend versuchte sie sich aufzusetzen, hielt inne und biss sich auf die Lippen, als erneut Schmerz durch ihren Körper schoss. Schlimmer als alles, was sie bisher gespürt hatte.
Sie wagte einen Blick und sah ihren Unterschenkel in einem unnatürlichen Winkel abstehen, sah ihren eigenen Knochen, der sich durch den Stoff gebohrt hatte.
Dann wurde ihr endlich schwarz vor den Augen.


Phönix flog einen weiten Halbkreis, um die Flugrichtung wie von Dairean befohlen gen Süden abzudrehen. Dairean schaute mehr zufällig als bewusst in die Richtung des Frostwyrms. Er nahm an, dass die Silberbundler längst alle tot waren, doch dem war offensichtlich nicht so. Der untote Drache war weitergeflogen, weiter östlich. Dairean wunderte sich nur einen kurzen Augenblick darüber. „Phönix, schneller", befahl er, und drehte den Kopf wieder. Dann fiel ihm etwas ins Auge. Ein Greif und eine ausgestreckte Gestalt lagen am Boden.
„Was bei allen.." Er zog an Phönix Zügeln, und der Drachenfalke protestierte leicht kreischend, als er innerhalb weniger Atemzüge ein zweites Mal die Flugrichtung wechseln musste. Dairean kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, wer dort lag. Aber eigentlich gab es keinen Zweifel.
Er hatte nicht mitbekommen, wie der eisige Atem des Frostwyrms Ylaria und ihren Greifen getroffen hatte, aber er konnte es sich denken.
Ein leichtes Grinsen überzog sein Gesicht. < Wunderbar, mehr Vorräte für mich. >, dachte er. „Und Futter für dich, Phönix. Schnell, die Zeit reicht noch, lass uns hin fliegen und zusammenraffen, was geht." Er tätschelte Phönix die Halskrause. Beim Wort „Futter", welches Dairean extra betonte, flatterte der Falke schneller mit den Flügeln. Phönix wusste, was das Wort bedeutete.

Nur wenige Momente später erreichten sie die Stelle. Dairean sprang geschmeidig aus dem Sattel. Sein Blick wanderte sofort zum Greifen, dessen halbe Seite dunkel gefärbt und mit Eiskristallen bedeckt war. Es gab keinen Zweifel, dass er fast noch im Flug erfroren war. Der Atem eines Wyrms hatte eine solche Wirkung.
Er griff in seine Satteltasche, aber fand den Dolch nicht, der sich immer darin befunden hatte. Leise fluchte er. Das hatte er nicht bedacht. In seiner Gier nach dem Pulver hatte er gar nicht geprüft, ob er noch Waffen besass.
„Drachenfalkenpisse", fluchte er, und stapfte ohne Waffe zu dem Greifenkadaver, um dessen Satteltaschen zu durchsuchen.
Lorethiels Leichnam lag jetzt viele Schneewehen weiter südwestlich .- er hätte ihn vorher um seine Waffen erleichtern sollen, denn nun war die Zeit zu knapp, um noch einmal zurückzufliegen. Es konnte nicht mehr lange dauern, und der Wyrm hätte entweder alle Anwesenden eliminiert, und würde sich auf die Suche nach ihm machen, oder die Kämpfer waren erfolgreich. Im letzten Falle würde auch nicht viel Zeit vergehen, ehe sie nach Ylaria, ihm oder Lorethiel suchten.
Ein leises Stöhnen drang an sein Ohr. Er fuhr herum. Ein schmerzerfülltes Wimmern kam von der Gestalt, die bisher leblos im Schnee gelegen hatte. Er hatte gemieden, sie anzusehen.
Ein erneutes Stöhnen, das in einem Keuchen endete.
Sie lebte noch?
Er liess ab von der Satteltasche, in die er gerade seine Hand hatte gleiten lassen, und überwand durch das Blutdistelpulver beflügelt die Distanz zu Ylaria, kniete sich neben ihr nieder.
Nur wenige Blicke genügten ihm, um zu sehen, dass sie ihr Bein stark verletzt hatte. Es war nicht der erste Knochenbruch, den er zu Gesicht bekam, aber es war definitiv einer von der übleren Sorte.
Phönix scharrte mit den Klauen im Schnee herum, und glitt langsam näher zu ihm.
„H.. hilf.. Hilfe." Ylaria schlug die Augen auf, und murmelte das Worte, ehe sie schluchzte und keuchte. Der Schmerz musste kaum aushaltbar sein.
Er stand auf und blickte auf sie nieder.
Sie erkannte ihn und riss die Augen auf, hob eine Hand, wie um ihn abzuwehren. Lächerlich. Als ob er ein Dämon oder so etwas war. „Da.. nicht.. was.. Hilfe.." murmelte sie schwach.
Phönix hielt sich dicht neben ihm in einem schwebenden Zustand. Er drehte sich weg von Ylaria und blickte den Drachenfalken an.

Er wusste, was er tun sollte. Er sollte Ylarias Greifen nach ihrem Schwert durchsuchen, die verbliebenen Rationen Proviant zu sich nehmen und für Phönix einen Brocken Fleisch aus dem Greifenkadaver hinaus schneiden. Dann sollte er sich auf Phönix schwingen und zusehen, dass er hier wegkam.
Er wusste, was er zu tun hatte. Und doch tat er es nicht.
Mit einem Seufzen drehte er sich wieder um und kniete sich erneut neben sie.


Brennender, glühender Schmerz durchzuckte sie, selbst als sie lag. Sie wimmerte nach Hilfe,und schwieg dann, öffnete die Augen. Bereits dachte sie, Schritte gehört zu haben, aber es war nicht möglich. Ihr Verstand gaukelte ihr in den letzten Momenten ihres Lebens Halluzinationen ein, so musste das sein.
Sagte man nicht immer, dass kurz vor dem Tod das gesamte Leben als Erinnerungsfolge vor dem Auge erschien? Eine richtige Lüge war das. Sie sah nichts, sie spürte nur diese brennenden Schmerzen.
Sie öffnete die Augen, als sich jemand neben ihr hinkniete und starrte ihn an. Starrte den an, den sie nicht sehen wollte. Nicht so. Nicht der. Der sollte sie nicht retten.
Nein, nein, wollte sie schreien, aber nur ein Krächzen kam aus ihrem Mund. Er erhob sich wieder. Nichts anderes hatte sie erwartet. Er würde sie hier liegen und sterbenlassen, nichts anderes hatte sie..
Als Dairean sich erneut neben sie hinkniete, und mit einer Hand ihren Knöchel packte, mit der anderen ihr Knie, wogte eine Welle von Schmerz über sie, die alle bisherigen Schmerzen in den Schatten stellten. Ein unangenehmes, hässliches knacksen fuhr durch ihren Körper, und sie schien fast zu spüren, wie ihr Knochen zurück ins Bein fuhr, dorthin, wo er hingehören sollte, wie sich die zackigen Stellen des Bruches ineinander fügten, wie wenn sie nicht mehr gebrochen wären. Sie spürte die Kälte nicht mehr, nur noch glühende Lava, so schien es ihr, die über ihr zusammen schwappte, und sie in einen Strudel mitriss. Sie schrie, als er ihr das Bein notdürftig richtete und etwas fest darum band. Als er sie auf den Drachenfalken lud, sank sie erneut in eine Ohnmacht.
Sie bekam nicht mit, wie Dairean Phönix' Zügel in die Hand nahm, und begann, durch den dichten tiefen Schnee zu stapfen, Phönix mit seiner lebenden Fracht in Bodennähe hinter sich herziehend.

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