Die Sterne über Dalaran - Fünfter Abschnitt, Teil 5 (5.5)

Melian

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Zur gleichen Zeit, Quartier des Arkanisten Tyballin

Imenia unterschrieb ganz zu unterst am Rand des beschriebenen Blatt Pergaments und erlaubte sich dann einen kurzen Blick aus dem Fenster. Als sie das letzte Mal hinaus geschaut hatte, hatte die Dämmerung gerade eingesetzt, nun war es bereits dunkel. Sie strich sich über die Stirn, schloss die Augen und drückte mit den Zeigefingerspitzen kurz auf die geschlossenen Lider, bis sie farbige Punkte sah. Danach erhob sie sich. Melodir hatte sie angewiesen, ihren ausstehenden detaillierten Bericht in seinem Quartier auszuarbeiten. Diesem Befehl war sie mit gemischten Gefühlen gefolgt. Einerseits schätzte sie den Komfort, den der Arkanist in seinen Quartieren hatte. Die Räume waren besser geheizt, besser abgedichtet und geräumiger. Sie rochen auch besser, da sie nicht so nahe den Küchen lagen wie Imenias. Andererseits hatte Melodir nach der Besprechung mit Windläufer am vorigen Tag nicht mehr mit ihr geredet. Wenn sie ehrlich war, fürchtete sie die Konfrontation mit ihm. Während sie ihre Arme etwas dehnte, die vom langen Schreiben etwas steif geworden waren, dachte sie darüber nach. Töricht wie sie war, fürchtete sie zwar die Konfrontation, aber noch mehr fürchtete sie, was es für sie bedeutete, dass Melodir ihr nun fast einen ganzen Tag aus dem Weg gegangen war. Das flaue Gefühl in ihrem Magen war nicht verschwunden, obwohl sie erfahren genug war, um es sich nicht anmerken zu lassen. Sie hatte den ganzen Tag kaum etwas essen können.
Sie blickte kurz zur Tür, aber natürlich trat er nicht sofort in diesem Moment durch sie hindurch. , befahl sie sich selbst. Ihre Füsse setzten sich wie von selbst in Bewegung und sie begann, im Raum auf und ab zu gehen, wo es der begrenzte Platz zuliess. Der Arkanist hatte mehr Platz zur Verfügung als sie, aber er hatte ihn gerade in seinem Arbeitszimmer, wo sich nun auch Imenia befand, diesen Platz ziemlich gut ausgenutzt. Oder eher vollgestopft, je nach Perspektive. Imenia strich mit den Händen über diverse Bücherrücken, während sie an einigen Bücherregalen entlangging. Teure Werke standen hier ebenso wie Sammlungen handschriftlicher Notizen. Als sie bei Melodirs Schreibtisch ankam, hielt sie inne und betrachtete die Ordnung darauf.
Sie konnte ihre Gedanken nicht abstellen, die immer wieder zu Melodir schweiften. Sie war sich nicht sicher, was das für sie beide bedeuten würde. Sie waren immer mehr gewesen als nur Vorgesetzte und Untergebene, dafür kannten sie sich zu lange. Davon zeugte ja auch schon, dass sie sich sehr informell ansprachen. Imenia musste zugeben, dass sie den etwaigen Verlust ihrer Freundschaft am meisten befürchtete.
Sie kehrte wieder zurück an den runden Tisch, an dem sie die letzten Stunden verbracht hatte. Ihre Augen glitten über das vollgeschriebene Pergament. Dann fasste sie einen Entschluss. Das, was geschehen war, konnte sie nicht ungeschehen machen. Natürlich empfand sie es als höchst ungerecht, dass nun alle Schuld auf sie abgewälzt wurde. Aber sie war auch furchtbar froh darum, dass Melodir für sie eingestanden war. Imenia würde alles tun, dass er nicht mit ihr zusammen bestraft wurde. Sie griff nach dem Federkiel, tunkte ihn in die Tinte, zog ein neues Blatt Pergament näher und begann zu schreiben. Alles, was ihr auffiel. Notizen, Stichworte, Gedanken, Überlegungen flossen auf das Pergament, alles, von dem sie dachte, dass es nützlich war, die Hintergründe der Mission zu begreifen.
Noch immer hatte sie nicht alle einzelnen geflochtenen Stränge verstanden. Allerdings war das notwendig, um überhaupt irgendwo ansetzen zu können. Zumindest dachte Imenia das.

Kaum hatte sie fünf Minuten gegrübelt, hörte sie Stimmen. Melodir sagte irgendetwas zu irgendjemandem, direkt vor der Tür. Es dauerte keine zwei Atemzüge, da ging die Tür auf und der Elf betrat sein eigenes Arbeitszimmer. Imenia hörte mit einem Ohr einen anderen Elfen „Natürlich, Arkanist Tyballin“, sagen.
Sie blickte auf und setzte ihr überzeugendstes Lächeln auf. „Guten Abend Melodir.“
Der Arkanist trat zu ihr an den runden Tisch und nickte kurz angebunden. Imenia unterdrückte den Drang, sich auf die Lippe zu beissen, und behielt den Blick auf ihm.
„Sei gegrüsst. Woran arbeitest du gerade?“, erkundigte er sich. Seine Stimme klang kühl.
„Ich habe den Bericht fertig, wie du es gewünscht hast.“
„Sehr gut. Die Pergamente hier?“
Imenia nickte. Melodir ergriff die Pergamente und begann sie zu überfliegen. Seine Gesichtszüge wirkten starr, seine Körperhaltung angespannt. Imenia bedeckte ihr Gekritzel mit einer Hand und kam sich sofort albern vor. Wie hatte sie nur denken können, dass es irgendetwas gab, was die Freundschaft zwischen ihr und Melodir wieder gerade rücken konnte.
Ihre Hand begann das Papier zu zerknüllen und sie erhob sich gleichzeitig. , dachte sie in einem Ecken ihres Bewusstseins noch, da war die zerknüllte Kugel bereits auf dem Boden gelandet. Sie schloss das Tintenfass und richtete alles auf dem Tisch wieder akkurat und ordentlich an, so wie sie es vorgefunden hatte. Sie sprach kein Wort und hielt den Blick gesenkt.
Erst als es raschelte und sich die vier Stück Pergament ihres Berichts wieder in ihr beschränktes Sichtfeld schoben, blickte sie hoch.
„Bist du schon fertig mit Lesen?“, fragte sie.
„Nein“, antwortete Melodir. Imenia wusste nicht, was sie darauf antworten sollte und blieb einfach stehen, hin- und hergerissen. Melodir setzte sich auf den Stuhl neben demjenigen, den sie den Nachmittag über besetzt hatte.
Imenia biss sich auf die Lippen. Als sie direkt nach dem Treffen mit Windläufer versucht hatte, überhaupt irgendetwas zu sagen, hatte er sie unterbrochen. Er war schneller weg gewesen als ein Kuchen in einem Raum mit hungrigen Kindern. Das einzige, was geblieben war, war seine Aufforderung wo sie ihren Bericht zu schreiben hatte.
„Melodir?“, fragte sie, fast atemlos.
Melodir antwortete nicht. Ihre Blicke kreuzten sich und Imenia unterdrückte den Drang, leer zu schlucken. Stattdessen setzte sie sich. Arkanist Melodir Tyballin wirkte weder wütend noch genervt. Er wirkte erschöpft und ratlos. Etwas, was sie an ihm nicht kannte.
„Danke“, sagte sie nur. Es war fast einen Tag zu spät, aber es war notwendig.
„Wofür?“, gab er zurück, fast etwas barsch.
„Wofür wohl?“, entgegnete Imenia schlicht.
„Lass uns nicht darüber sprechen. Wir sollten lieber anfangen, uns Gedanken zu machen.“ Melodir machte Anstalten, wieder aufzustehen, aber Imenia legte ihm ihre Hand auf die seine und blickte ihn eindringlich an.
„Doch, lass uns darüber reden. Ich will mich bedanken. Du hast dich für mich eingesetzt, und ich bin dir dafür sehr dankbar“, widersetzte sich Imenia und blickte ihn eindringlich an.
„Ja ja“, wollte Melodir ihre Worte beiseite wischen. „Wir sollten..“
Sie liess ihn nicht ausreden. „Es tut mir sehr leid, dass sie dich.. mit mir bestraft. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dich davon abgehalten, für mich einzustehen. Du kannst nichts dafür. Ich wünschte, ich könnte es irgendwie ändern, wenn es in meiner Macht stünde.“
Ein Moment breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus. Dann seufzte Melodir. „Imenia, hör auf, so zu sprechen.“
Imenia blickte ihn verwirrt an. „Wie?“
„Als ich meine Aussagen gemacht habe, bin ich davon ausgegangen, dass sie mich kollektiv mit dir bestrafen würde.“
„Aber.. warum hast du dann..?“
Melodir zog seine Hand unter der ihren hervor, stützte die Ellbogen auf und legte die Fingerspitzen aneinander. Einen Moment lang sagte er erneut nichts. „Ich bin dein Vorgesetzter. Vorgesetzte sind mitverantwortlich für die Fehler ihrer Untergebenen. Es ist für mich logisch, dass ich für dich einstehe.“
Imenia nickte und murmelte „Verstehe“. Natürlich. Die Befehlskette und Logik. „Aber ich hätte es nicht erwartet.. Du hast es wirklich nicht verdient, da es meine Schuld war. Wenn ich Leireth besser gekannt hätte, dann hätte ich Dämmerpfeil davon abgehalten, mir die Nachricht vor ihren Ohren zu erzählen. Dann hätte ich gut überlegen können, was wir machen.“
„Und dann? Du hättest es ihr doch sowieso unter Umständen erzählt“, wandte Melodir ein. „Du bist keine Hellseherin, Imenia.“
„Dann... hätte ich sie vorher besser einschätzen sollen. Vielleicht bin ich zu distanziert. Vielleicht entgeht mir zu viel, vielleicht..“
Melodir fuhr ihr barsch ins Wort. „Sprich keinen Unsinn, Imenia.“
„Unsinn?“
„Natürlich, Unsinn. Du bist genauso wenig Schuld an der ganzen Sache wie ich. Es ist eine Verkettung unglücklicher Umstände gewesen.“
„Aber Leireth..“
„Himmelsflamme hat niemals den Anschein gemacht, über ihren Hass über die Blutelfen ihr gesamtes Befehlsbewusstsein zu verlieren. Ich habe Recherchen gemacht.“
„Du hast... Recherchen?“ Imenia blickte ihn erstaunt an.
Melodir nickte. „Was dachtest du, womit ich den letzten Tag beschäftigt war?“
Imenia senkte den Blick wieder. „Nichts..“
„Du hast dir keine Gedanken darüber gemacht?“ Nun war es an Melodir, erstaunt zu klingen.
„Doch.. das habe ich.. Ich dachte halt.. nun ja..“
„Nun ja was..? Muss ich dir alles aus der Nase ziehen?“ Melodir schmunzelte leicht, was sich in seiner Stimme niederschlug.
„Ich habe gedacht, du bist wütend auf mich und meidest mich deshalb“, murmelte Imenia und rieb sich beinahe krampfhaft über das Gesicht, um ihn ja nicht anblicken zu müssen.
„Deswegen habe ich dich natürlich in mein Quartier befohlen, damit ich dir aus dem Weg gehen kann.“
Melodirs leises Lachen liess Röte in Imenias Wangen steigen.
„Ich.. entschuldige. Ich schätze.. ich bin noch etwas verwirrt von dem Ganzen. Es tut mir wirklich leid, dass...“ Erneut wurde sie unterbrochen, doch dieses Mal nicht von seiner Stimme, sondern von einem Finger, der sich auf ihr Mund legte. Sie blickte wieder zu Melodir, der seinen Finger sofort wieder zurückzog.
„Entschuldigungen sind unangebracht, weil sie nicht notwendig sind, Imenia. Wir kennen uns doch lange genug“, sagte Melodir. Sein Gesichtsausdruck wirkte wieder neutral, doch nicht mehr kühl und feindselig. Womöglich hatte Imenia da sowieso zu viel hineininterpretiert.
„Ich bin nicht nur für dich eingestanden, weil ich es als richtig empfand, sondern weil ich glaube, dass du dasselbe tun würdest für mich. Und es gibt nicht viele Leute, denen ich so etwas zutraue. Viel zu viele von uns sind nur auf ihr eigenes Wohl bedacht, doch du hast sogar die alleinige Schuld auf dich geladen, so dass Windläufer in der Projektion ihrer Wut auf dich sogar Himmelsflamme vergessen hat.“
Auf diese Weise hatte Imenia das gar noch nicht betrachtet. „Ich habe gar nicht.. daran gedacht“, sagte sie.
Melodir lächelte erneut. „Siehst du? Das meine ich. Du bist eine hervorragende Anführerin und Leutnant deiner Leute. Du kannst Befehle geben und hart sein, wenn es nötig ist, aber du bist im Ernstfall auch dafür bereit, für deine Leute einzustehen. Du siehst die vergangenen Dinge als Resultat des Handeln eines Kollektivs. Diesem Kollektiv standest du vor, also ist es für dich nur logisch, dafür mit deinem Kopf zu bürgen. Ich gehe doch richtig?“
Imenia fuhr mit der Hand seitlich zu ihrem Hals und rieb sich in einer Verlegenheitsgeste die Haut. „Nun.. ja, das könnte durchaus sein.“
„Wie ich sagte: du bist die geborene militärische Anführerin. Und ich sehe es ähnlich wie du, also war ich meinerseits bereit, meinen Mitteil der Schuld zu tragen, da ich deiner Truppe ebenso vorstehe wie du.“
So formuliert klang es für Imenia gar nicht mehr so weltfremd. Dennoch konnte sie sich der Frage nicht verwehren, wie es nun um ihre Freundschaft stand. Sie liess ihre Hand wieder sinken, und zeichnete mit der Fingerspitze Muster auf den Tisch. „Du riskierst also deine Karriere für mein angeborenes Anführertum?“, schlussfolgerte sie überspitzt.
Melodir tippte die Fingerspitzen mehrmals aneinander. „Nein. Ich riskiere meine Karriere, weil ich der Meinung bin, dass Windläufer eine gute Freundin sehr ungerecht behandelt und weil ich das nicht mitansehen will, ohne etwas zu tun. Wenn sie dich auf einen verlorenen Posten abschiebt, dann soll sie mich ruhig mit schieben. Sie findet sicherlich einen Besseren.“ Den letzten Satz sprach Melodir in einem sarkastischen Tonfall, der keinen Zweifel daran liess, dass er genau wusste wie wertvoll er für den Silberbund war und dass Windläufer ihre liebe Mühe haben würde, einen Ersatz für ihn zu finden.
„Glaubst du, sie hat dir nur leer gedroht?“
„Das glaube ich nicht nur, das weiss ich. Sie wollte dir nur aufzeigen, welche gesellschaftlichen Rang du ihrer Meinung nach hast. Sie wollte ihre Zähne zeigen. Glaub' mir, ich habe oft genug mit ihr zu tun. Ich würde sogar fast sagen, dass sie sich instinktiv etwas fürchtet. Du bist nämlich eine mögliche Bedrohung, wenn du mehr von Intrigen und Machtspielchen verstehen würdest.“
„Ein zweifelhaftes Kompliment, würde ich sagen.“ Imenia lächelte zaghaft, dann immer sicherer.
„Ach was. Ein Kompliment ist ein Kompliment. Na also, du kannst ja noch lächeln. Das ist ja furchtbar, wie du die letzten Tage umher gehuscht bist, als ob du dich vom Drachenfalken in ein Mäuschen verwandelt hättest. So kenne ich dich gar nicht. Und..“, Melodir beugte sich etwas vor, „Wenn ich ehrlich bin, will ich dich auch gar nicht so kennen.“
Das laute, schallende Lachen Imenias, das auf diese Bemerkung hin folgte, schien ihn zufriedenzustellen. Er klopfte auf den Tisch und rief „Genau, das, so meine ich das!“, und grinste selber.
„Ich bin froh, dass wir das geklärt haben“, sagte Imenia schliesslich. Sie sprach von ganzem Herzen. Sie war tatsächlich froh.
„Das nächste Mal lasse ich dich auch nicht so lang warten damit. Ich wollte einfach zuerst diese Leireth überprüfen.“
„Was hast du herausgefunden?“
„Nichts, was überraschend wäre. Wie ich sagte, niemand hat sie mit derartigem Hass gekannt und hätte ihr das zugetraut. Du bist auf der sicheren Seite.“
Imenia nickte dankbar. Es erleichterte sie schon um Einiges, nun, da sie wusste, dass sie nichts hätte machen können, um das Ganze zu verhindern. „Danke“, sagte sie.
„Wenn du dich noch einmal bedankst, dann überlege ich es mir anders“, drohte Melodir grinsend.
„Bitte nicht.“ Imenia hob lachend die Hände. Sie genossen zusammen einen Moment lang die Fröhlichkeit, die sich zwischen ihnen ausbreitete und die Imenia in der angespannten Atmosphäre die letzten acht Tage lang sehr vermisst hatte.
Dann stand Melodir auf, und zauberte aus einem geheimen Fach in seinem Schreibtisch eine Flasche guten Wein hervor, ebenso zwei Gläser. Er öffnete sie und schenkte ihnen beiden ein, setzte sich wieder zurück auf den Stuhl an den Tisch und lehnte sich etwas zurück.
„Wir dürfen aber dennoch nicht vergessen, dass wir Ergebnisse zu liefern haben. Ich habe einigen Einfluss im Silberbund, aber wenn wir nichts liefern, ist jeglicher Einfluss nichts nütze.“ Nachdem er seinen Satz beendet hatte, hob das Glas an und prostete ihr zu.
Imenia erwiderte die Geste und nippte am Wein. Er war gut und süss, fast schon etwas zu schwer. „Ich habe mir .. nun ja, ich habe angefangen, mir darüber Gedanken zu machen. Also natürlich nachdem ich den Bericht beendet habe.“ Sie musste sicher gehen, dass sie nur ein Glas trank, sonst wäre sie beschwipst.
„Gedanken?“, Melodir legte eine Hand auf den anderen Unterarm, beugte seinen Oberkörper etwas vor und blickte sie interessiert an.
Imenias Blick wanderte zu der zerknüllten Papierkugel. Sie hob eine Hand und die Kugel schwebte auf den Tisch, wo Imenia sie ergriff, auseinander faltete und glattstrich. „Ich habe mir überlegt, was wir tun können.“
„Führe deine Gedanken aus“, forderte Melodir sie auf.
Imenia nickte und deutete auf einen Namen, den sie notiert hatte. „Einerseits ist da Ylaria. Silbersang. Du weisst schon, die Verletzte.“ Sie wartete Melodirs Nicken ab, ehe sie weiter sprach. „Ich glaube, ihr kommt eine Schlüsselrolle zu. Leider ist sie bisher noch nicht erwacht, aber die Heilerin hat mir versprochen, dass es nicht mehr lange dauern dürfte. Wir müssen sie gründlich befragen, was passiert ist, als der Spion sie mitgenommen hat, ob sie miteinander gesprochen haben, ob er den Griff vielleicht vor ihr versteckt hat.“
„Sie könnte möglicherweise noch lange nicht aufwachen“, wollte Melodir einwenden, doch Imenia unterbrach ihn.
„Das habe ich auch überlegt. Also habe ich einen zweiten gedanklichen Fokus auf den Spion selbst gesetzt.“ Sie tippte auf das Wort 'Spion' auf ihrem Pergament. „Wenn wir Imenia nicht befragen können, dann ihn. Ich nehme nicht an, dass er bereits aus Dalaran geflüchtet ist.“
„Warum nicht?“
„Na denk doch mal nach, die Sonnenhäscher wollen dieses Artefakt doch genauso sehr wie wir. Hast du das Gesicht dieses Magisters gesehen, als er erfuhr, dass weder wir noch der Spion den Griff besitzen?“
„Das habe ich in der Tat bemerkt“, murmelte Melodir und wirkte gleich etwas düsterer.
„Ich glaube, die wollen den Griff halt ebenso dringend wie wir. Und für sie ist dieser Spion der einzige Ansatzpunkt. Ich glaube nicht, dass sie ihn einfach gehen lassen würden. Also würde er entweder mit diesem Magister.. ich habe seinen Namen vergessen..“
„Hathorel. Jorith Hathorel“ warf Melodir den Namen abschätzig in den Raum.
„Hathorel, ja genau. Also ich glaube nicht, dass er ohne diesen Magister irgendwohin gehen würde. Und da der Magister noch in der Stadt weilt..“ Imenia lächelte stolz.
„Du hast da einige interessante Überlegungen angestellt, wohl wahr. Also sollten wir einerseits diesen Spion in die Finger bekommen, andererseits auch Ylaria nicht aus dem Fokus verlieren.“
„Ja, genau.“
„Gibt es noch anderes, was du dir überlegt hast?“, wollte Melodir wissen.
„Hm..“ Imenia tippte mit der Fingerspitze auf ihre Kinn. Da war schon noch etwas, aber vielleicht war es etwas weit hergeholt. „Bin mir nicht so sicher.“
„Du bist dir nicht sicher darüber, ob du dir noch etwas überlegt hast?“, sagte Melodir sichtlich amüsiert.
„Nein“, brummelte Imenia. „Ich weiss nicht, ob es relevant ist oder ob der Gedanke zu abwegig ist.“
„Erzähl' mir einfach davon, ich kann das ja immer noch beurteilen.“
„Also.. ich glaube, dass sich der Spion und Silbersang während der Reise in irgendeiner Form nahegekommen sind.“
„Nahegekommen? Meinst du.. das was ich meine? Oder freundschaftlich?“
„Kann ich nicht genau beurteilen, aber sicherlich in irgendeiner Form sympathisch. Sie haben des öfteren miteinander trainiert, sprachen und sassen oft mit- und beieinander.“
„Fahr fort.“
„Zudem dachte ich, eine gewisse Spannung zwischen Himmelswispern und Silbersang wahrzunehmen. Sie sind ja gut befreundet, seit längerer Zeit.“
„Und sie hat sich also zu dem Spion hingezogen gefühlt? Aber wäre das nicht längst obsolet, weil sie dann erfuhr, dass er ein Verräter ist?“
„Das dachte ich auch, weswegen ich ja der Meinung bin, dass mein Gedanke zu weit ging.“
Melodir strich mit der Handfläche über die Tischplatte. „Und dennoch hattest du den Gedanken. Spinne ihn weiter, ich bitte dich.“
„Wenn du möchtest. Also, gesetzt den Fall, dass.. und wir gehen hier von rein theoretischen Gedankenschritten aus, gesetzt den Fall, dass Silbersang und der Spion sich wirklich angefreundet haben, oder theoretisch vielleicht sogar eine gewisse körperliche und emotionale Anziehung zueinander empfinden, und wir dann annehmen, dass diese Anziehung stärker war als die zu erwartende Enttäuschung seitens Silbersang, als sie erfuhr, dass er ein Spion ist..“ Imenia holte kurz Luft. „Also, wenn wir von dem allem ausgehen, dann könnte es gut sein, dass sie in den zweieinhalb Tagen in der Höhle diese Enttäuschung überwunden hat. Gerade auch, weil er sie gerettet hat. Gerettete verbünden sich ja oft mit ihren Rettern. Es könnte also sein, dass sie versuchen wird, Kontakt mit ihm aufzunehmen.“
Melodir hielt in der Bewegung der Hand inne, zog die Augenbraue hoch und blickte Imenia an.
„Nicht.. gut? Ja, ich weiss, es ist zu weit hergeholt, und ich sollte es nicht in Betracht ziehen, dass es möglich wäre.“ Imenia seufzte und schlug die Augen nieder.
„Was redest du da? Das ist brillant!“, rief Melodir. „Jetzt weiss ich auch, warum du denkst, ihr käme eine Schlüsselrolle zu. Auf diesen Gedanken wäre ich niemals gekommen, dieses ganze Sympathie-Antipathie-Spiel hast du natürlich viel besser verfolgen können und du als Frau kannst das auch viel besser beurteilen.“
„Danke“, brummelte Imenia, die angesichts des zweiten zweifelhaften Kompliments an diesem Abend nicht ganz sicher war, ob sie sich geschmeichelt oder beleidigt fühlen sollte. „Nicht alle von uns sind so.“
„Nein, natürlich nicht“, beeilte Melodir hinzuzufügen. „Aber du kannst sicher auch beurteilen, ob eine deiner Geschlechtsgenossinnen töricht genug wäre, so dem Feind zu verfallen.“
Imenia hob abwehrend die Hände. „Ich weiss nicht.. Ich.. es könnte sein.. Ich kenne Silbersang nicht gut genug dafür, wirklich nicht.“
„Wir werden uns auch darum kümmern. Ich denke, eine stete Bewachung ist angemessen, so dass wir sicher gehen, dass niemand versucht, ihren Raum zu betreten. Sollte sie wieder auf den Beinen sein, wird sie zu ihrem 'Schutze' überwacht. In dem Falle, dass es so wäre, wie du sagst, können wir sicher sein, nichts zu verpassen.“
„Das klingt nach einer Lösung“, sagte Imenia.
Melodir nickte. „Lass uns nach weiteren Lösungen suchen. Wir haben nicht mehr viel Zeit“, schlug er vor. Imenia trank einen Schluck von ihrem Weinglas und nickte.

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