Die Sterne über Dalaran - Fünfter Abschnitt, Teil 7 (5.7)

Melian

Dungeon-Boss
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Ränkespiel(e)

Die Sonne schien schon seit mindestens einer halben Stunde durch das Fenster. Dairean konnte die Geräusche der erwachenden Stadt hören, aber seine Bewacherin war noch immer nicht aufgetaucht. Er drehte sich in seiner Schlafstätte halb um, nur um sich sogleich danach aufzuraffen und sich hinzusetzen. Wach war er bereits seit dem Morgengrauen, aber niemand hatte auf sein Klopfen geantwortet. Die Tür war zu. Er war ein Gefangener – immer noch. Und er hasste es. Er stand auf und blickte zum Fenster hoch.
Drei oder vier Tage mussten seit dem Gespräch mit Hathorel vergangen sein. Bisher hatte der Magister nicht mehr nach ihm geschickt und auch die Blutritterin war offensichtlich recht beschäftigt gewesen. Er hatte ein paar Mal versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber sie hatte immer recht bedauernd um Entschuldigung gebeten und war weg gehuscht. Er kam fast um vor Langeweile!
Dairean seufzte und liess sich wieder auf das Bett fallen, legte die Hände flach auf die Matratze und blickte an die Decke. Jetzt war sie auch noch zu spät! Um die Zeit war sie in den letzten Tagen längst schon da gewesen und hatte sein Frühstück gebracht. Er fragte sich, ob das eine weitere Strafe war, eine Methode, ihn weichzukochen. Worauf wartete Hathorel? Zweifel nagten an Dairean. Er bezeichnete sich üblicherweise als guten Lügner, als guten Schauspieler. Doch offensichtlich hatte Hathorel ihm nicht geglaubt, oder wie sollte er es sich sonst erklären, dass einfach nichts passierte?
Sein Magen knurrte. „Drachenfalkenpisse“, brummelte Dairean. Sein Rücken tat weh vom vielen Liegen. Er hatte nicht viel zu tun ausser Herumliegen. Die zwei Holzstühle beim kleinen Tisch waren nach wenigen Momenten zu unbequem und viel freier Raum blieb nicht, wo Dairean hätte herumgehen können. Ausserdem kam er sich dämlich vor, wenn er einfach in einem Raum herumging. Er hatte mehrmals um Bücher oder um Schreibzeug gebeten, aber nichts bekommen. < Fehlt nur noch, dass du anfängst, mit dir selbst zu sprechen>, dachte er bei sich selbst und strampelte mit den Füssen die Decke ans Ende der Matratze. Er wollte hier raus!
Erneut richtete er sich auf, schmiss das Kopfkissen auf den Boden und rutschte so zurück, dass sein malträtierter Rücken an der kühlen Wand lehnte. Die Berührung war durch sein dünnes Hemd beruhigend, wenngleich es wohl bald zu kalt werden würde.
Er hatte nicht gedacht, dass er einmal vermissen würde, Briefe zu schreiben. Oder ein Buch zu lesen. Er hatte es immer gehasst. Leyan war der Intellektuelle von ihnen beiden gewesen. Nicht, dass er nicht gern gelesen hätte, aber Dairean hatte nie genug Ausdauer, genug Ruhe, um sich einen Nachmittag lang hinzusetzen und nur zu lesen. Er hatte viel lieber einen Nachmittag lang seinen Bogen geputzt, wieder und wieder die gleiche Schwertparade geübt oder war im Meer geschwommen. Schwimmen! Ein weiterer Grund, warum Dairean hier in dieser engen Kammer verrückt wurde. Er bildetet sich ein, seinen Muskeln beim Schrumpfen zusehen können. Er brauchte Bewegung, bei der Sonne!
Er konnte nicht leugnen, dass er versucht war, Hathorel einen Brocken Information zu geben, in der Hoffnung, endlich mal wieder aus diesem Loch hier heraus zu können. „Zu meinem Schutze, ja klar“, murmelte er verdrossen. Natürlich war es objektiv gesehen zu seinem Schutze, aber Hathorel hätte ihn wenigstens informieren können, was er beabsichtigte mit Dairean anzustellen.
Er hatte nicht einmal Dolche, mit denen er ein paar Stellungen hätte durchgehen können, vielleicht ein ganzer Kampf ohne Gegner. Schattenkämpfen nannten das die Menschen, er nannte es Übung. Dairean kratzte sich an der Nase. Er traute Hathorel nicht!
In den letzten Jahren hatte er einen gewissen Sinn dafür entwickelt, ob jemandes Motive die waren, die er auch wirklich zeigte. Er wusste nicht, woher das kam, aber bisher hatte ihn dieser Instinkt noch nie im Stich gelassen, auch bei Hathorel nicht. Das war der Grund gewesen, warum er immer gern für den Magister gearbeitet hatte. Er hatte ihm trauen können. Hathorel war immer ehrlich darüber gewesen, was ihn antrieb. „Finderlohn“, murmelte Dairean. Er war sich nicht sicher, ob Hathorel auch dies zugäbe, wenn Dairean ihn zur Rede stellen würde. Das würde Dairean aber nicht tun.
Er seufzte. Wollte er die Wahrheit wirklich wissen? War das der Grund, warum er von Anfang an gelogen hatte und Hathorel nicht gefragt hatte, ob es nur ein taktischer Zug gewesen war oder dessen voller Ernst? Finderlohn... Dairean traute Hathorel nicht mehr. Oder vielleicht war es umgekehrt. Vielleicht spürte Hathorel, dass er Dairean nicht mehr trauen konnte?
Dairean schüttelte energisch den Kopf. Wann kam endlich diese vermaledeite Blutritterin mit seinem Frühstück? Er hatte ein Anrecht auf seine dreimalige Abwechslung pro Tag, wenn er schon in diesem elenden Loch, ohne Abwechslung, ohne Vergnügen und ohne Bewegung fest hockte! Bei der Sonne, er freute sich sogar auf das fast geschmacklose, dunkle Brot aus grob gemahlenen Getreidekörnern und die spärlichen Kleckse Honig oder ab und an auch Marmelade, die ihm zuteil wurden.
Es wurde ihm zu kalt, wie er da an die Wand gepresst sass, also stand er erneut auf und ging zur Tür, rüttelte an der Türklinge, obwohl er wusste, dass das nicht viel bringen würde.
Gerade als er anfangen wollte, mit blossen Fäusten gegen die Tür zu trommeln und in seiner Langeweile und Verzweiflung irgendetwas zu brüllen, öffnete sich die Tür und er konnte sich gerade noch fangen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
„Oh, hoppla.“ Die Blutritterin grinste. „Ich weiss ja, dass ihr mich vermisst habt, aber ihr müsst mich nicht gleich anfallen.“
Dairean grummelte und trat einen Schritt zurück. „Ihr seid zu spät.“
„Habt ihr mich etwa vermisst?“
„Ich vermisse hier drin alles!“, rief er aus und verschränkte die Arme. Eloira schloss die Tür und stellte das Tablett mit seinem Frühstück auf dem Tisch ab. „Ich habe keine Bewegung, ich habe keinen Platz. Bei der Sonne, ich langweile mich hier drin noch zu Tode!“, rief er weiter aus, legte einen schalkhaften Ernst in seine Worte und gestikulierte dabei mit den Händen. „Ich sehe jeder Begegnung mit euch entgegen, weil sie eine Abwechslung sind zu meinem tristen... Gefangenenalltag hier drin.. Und dann kommt ihr auch noch zu spät.“ Er sank theatralisch auf die Knie. „Wie.. oh.. wie könnt ihr mir das bloss antun?“
Eloira fing an, schallend zu lachen. „Ihr seid ein fürchterlicher Schauspieler. Hat euch das je irgendjemand gesagt?“
Dairean stand schmunzelnd wieder auf. „Entschuldigt. Aber mir fällt hier wirklich die Decke auf den Kopf. Ich dreh' noch durch hier drin.“
„Das kann ich mir allerdings vorstellen“, gab Eloira zur Antwort und setzte sich auf den dem Tablett gegenüberstehenden Stuhl. „Esst erst einmal. Ich habe mich bemüht, euch etwas... sagen wir... Abwechslung zu besorgen.“
Während Dairean sich ebenso zum Tisch bewegte und sich hinsetzte, bemerkte er tatsächlich, dass sich auf dem Tablett zusätzlich ein paar Brocken Käse und ein frisches, weiches, helles Brötchen befanden, ebenso ein Glas mit etwas, was wie frisch gepresster Mondbeerensaft aussah und roch. Er lächelte Eloira an, die heute das zweite Mal schon anstatt ihrer Rüstung einen einfach geschnittenen violetten Rock sowie eine einfache weisse Bluse trug. „Danke“, sagte Dairean ehrlich. „Das ist wirklich sehr nett von euch, Eloira.“
Sie erwiderte das Lächeln und stützte ihren Ellbogen auf dem Tisch ab, legte den Kopf in die Hand. „Nichts zu danken. Dafür erspare ich mir heute eure ellenlangen Schimpftiraden über das Frühstück.“ Sie zwinkerte ihm zu.
Dairean schnappte sich das Brötchen und stellte anerkennend fest, dass Eloiras Bluse sehr tief blicken liess. „Schimpfen? Ich habe nur zurückhaltend meinen Unmut ausgedrückt“, ulkte er weiter, grinsend, während er Honig auf die eine Brötchenhälfte strich. Immerhin traute man ihm genug, um ihn mit Besteck essen zu lassen. Oder man traute es Eloira zu, dass sie sich gegen ein Frühstücksmesser wehren konnte. Dairean wusste nicht, was ihm mehr Unbehagen verursachen wollte.
„Also ich nenn' das Schimpfen.“ Eloira schmunzelte und strich sich die Haare zurecht. Sie trug sie offen, wie immer.
Dairean biss in sein Brötchen und stellte erneut fest, dass er ihre Anwesenheit angenehm fand. Und dass es ihr stand, wenn sie mal keine Rüstung trug. Es machte sie irgendwie weiblicher, offener… zugänglicher?
Sie schwiegen, bis er die erste Hälfte des Brötchens verspeist hatte. „Aber mal im Ernst. Es ist wirklich langweilig hier drin. Könnt ihr mir kein Buch bringen oder so?“, fragte er sie schliesslich, setzte sein charmantestes Lächeln auf, während er Butter und Käse auf der zweiten Brötchenhälfte verteilte. „Ich werde euch dafür auch nicht mehr fragen, ob ihr mich raus lässt.“
Eloira schmunzelte. „Ich werde Hathorel fragen, ob ich euch ein Buch bringen darf.“
„Danke, das ist sehr nett von euch“, sagte Dairean und biss in die zweite Brötchenhälfte. Längst war ihm nicht mehr so übel, wenn er ass, dafür schmeckten ihm die Dinge nur halb so gut, wie wenn er Blutdistelpulver im Körper hatte. Irgendjemand hatte ihm mal gesagt, dass das nach mehrjähriger Nutzung eine Folge war. Verlust des Geschmackssinns. Dairean schloss kurz die Augen, nur ein Bruchteil eines Momentes länger als wenn er normal blinzelte.
Er musste hier raus. Irgendwie musste er es schaffen, hier raus zu kommen, und wenn es nur kurz war. Er wollte sich nur einen Vorrat beschaffen, er wollte einige Erkundigungen einziehen, bei Azurlicht nach seinen wenigen Habseligkeiten schauen, und... Der letzte Brocken Käse auf dem Brötchen schmeckte nach nichts mehr. Erneut verbat er sich den Gedanken, um den er sich die letzten Tage ständig gedrückt hatte. Stattdessen lächelte er Eloira erneut an, obwohl er wusste, dass es wohl etwas schief wirkte.
„Darf ich eurer gemütlichen Kleidung entnehmen, dass ihr heute nicht sofort zum Dienst spurtet und mir etwas länger Gesellschaft leistet, Eloira? Ich möchte übrigens noch betonen, dass ich finde, dass euch diese leichte Kleidung sehr gut steht.“ Er versuchte, möglichst schmeichelnd und gleichzeitig nicht schleimig zu klingen, und bedachte ihr Dekolletee mit einem ausgiebigen Blick. Wenn er Recht ging, war das genau das, was sie...
„Das sehe ich, dass euch das gefällt“, grinste Eloira.
Er hatte Recht gehabt. Erneut beschlich ihn der Gedanke, dass Eloira ihm gar nicht so unähnlich war. Sie spielte wenigstens mit offenen Karten, wenn es um Anziehung ging. Sie wusste wohl, was sie wollte, und war nicht von falscher Scham besessen, wenn es um das eigene Vergnügen ging. Er würde sich das zu Nutze machen können.
„Verzeiht mir“, entschuldigte er sich dennoch in höflichem Tonfall. Sein Grinsen auf den Lippen deutete ihr jedoch anderes. „Aber ihr seid meiner Frage ausgewichen.“
„Ich kann gerne ein bisschen hier bleiben, wenn ihr möchtet.“ Sie schmunzelte immer noch.
Dairean zog eine Augenbraue hoch. Die letzten Tage war sie – zeitlich gesehen – recht abweisend gewesen, wenngleich auch betont immer höflich und zu Scherzen aufgelegt. Das hier ging irgendwie viel zu einfach.
„Aber?“, fragte er und griff zum Saftglas.
„Kein Aber. Euch ist langweilig, also leiste ich euch Gesellschaft.“
Er trank einen Schluck, blickte sie über den Rand des Glases hinweg an und beschloss, das Thema vorübergehend ruhen zu lassen. Dafür brachte er etwas anderes zur Sprache, was ihm aufgefallen war. „Warum sind heute eigentlich keine Wachen mitgekommen? Oder habt ihr sie um die Ecke versteckt, bevor ihr gekommen seid?“
Eloira schwieg einen Moment. „Ach, die kommen schon noch“, sagte sie schliesslich und machte eine achtlose Geste mit der Hand. Es schien ihr nicht so wichtig zu sein, oder...
„Sicher?“
„Ja natürlich bin ich sicher.“
Dairean schmunzelte. „Ich wäre nicht so sicher. Ich habe nämlich kein Geräusch vor der Tür gehört, welches auf Wachen deuten sollte.“ Er trank erneut einen Schluck aus dem Glas und beobachtete die Reaktion der Blutritterin.
Sie reagierte nicht erstaunt, was Dairean wiederum nicht verwunderte. Sie lächelte, wirkte fast schon etwas verlegen.
„Das stimmt... Ihr habt ein gutes Gehör.“
„Ist meine Aufgabe.“ Er wusste nicht recht, was er davon halten sollte, behielt sein Lächeln aber bei. Wenn es notwendig war, würde er ihr Komplimente machen und ihr schmeicheln, bis sie irgendetwas tat, um seine Situation hier angenehmer zu machen. Er musste hier raus, er brauchte Abwechslung, er...
„Ich lasse euch gehen“, unterbrach sie seine Gedanken.
Dairean starrte Eloira an. „Du.. was?“, stammelte er und stellte das Glas auf das Tablett zurück. Das hatte er nicht erwartet
Eloira stand auf, liess eine Hand auf dem Tisch liegen. „Ihr wolltet doch unbedingt raus, oder? Ich lasse euch gehen. Für eine Stunde.“
Ihr Blick lag auf ihm, er konnte ihn nicht recht deuten. Wenn sie wirklich.. War das eine Falle? Aber wenn es eine Falle war.. Nein. Hathorel... Aber was, wenn es wirklich.. wenn er wirklich raus konnte? Urplötzlich schnellte sein Puls hoch und es rauschte in seinen Ohren. Wenn sie es wirklich zulassen würde...
„Gut“, hörte er sich selber sagen. „Ich gehe. Danke.“
„Nur eine Stunde, vergesst das nicht. Ich will euch um Punkt Neun wieder hier drin sehen.“
Dairean stand auf und blickte sie an. „Das... kann ich euch nicht..“
„Nein. Ihr werdet es mir versprechen“, fuhr sie ihm ins Wort. „Ich riskiere hier ziemlich vieles für euch“, betonte sie energisch. „Wenn ihr flieht, seid ihr sowieso schuldig. Denkt mal drüber nach.“
Dairean antwortete einen Moment nicht, dann nickte er schweigend. „Gut. Eine Stunde.“ Er konnte auch in einer Stunde einen Haufen Sachen erledigen, aber vor allem reichte eine Stunde locker aus, um das eine oder andere Versteck ab zu klappern und sich Pulver zu besorgen. Wenn wider Erwarten alle Verstecke leer oder verdorben waren, hatte er immer noch die Möglichkeit, sich bei Azurlicht sein Gold zu holen und schliesslich Händler Rotschwinge aufzusuchen. Er konnte auch Briefpapier besorgen, Tinte, eine Feder... Nachrichten schreiben. Er konnte Erkundigungen...
„Na, worauf wartet ihr? Die Zeit läuft.“ Eloira riss Dairean aus seinen Gedanken von Pulver, Briefpapier und Erkundigungen, blickte ihn mit verschränkten Armen an.
„Natürlich.. Entschuldige“, murmelte Dairean, schlüpfte in die unbequemen Schuhe, die ihm geliehen worden waren, und huschte aus der Kammer.

Es kam ihm vor, als wäre er ein halbes Jahrzehnt eingesperrt gewesen. Dabei war es doch nur knapp eine Woche her, und wenn er sich überlegte, aus welcher Situation er da gerettet worden war, bevorzugte er das enge Zimmer immer noch bei weitem der eisigen Wüste.
Dairean hatte die Sonnenhäscherzuflucht raschen Schrittes verlassen. Interessanterweise hatte ihm niemand wirklich grosse Beachtung geschenkt. Einige Sonnenhäscher waren Wache gestanden, aber er fiel ihnen wohl nicht wirklich auf.
Er blickte in die Sonne und erlaubte sich einen Moment, die kühle Luft zu atmen, die ihn umgab. Eine Stunde nur.. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Es war ihm unangenehm mit Klamotten herumzulaufen, die nicht ihm gehörten. Die aus Stoff geschneidert und viel zu luftig für Dalaran waren. Er fühlte sich nackt ohne seine Dolche und seinen Mantel, der ihn vor Blicken schützte. , dachte er und setzte sich in Bewegung. Er würde also zuallererst das Gasthaus aufsuchen, in dem Arille Azurlicht wirtete. Er brauchte sein Gepäck. Wenn er sich recht erinnerte, hatte er auch seine Ersatzrüstung in das Bündel gepackt, dass er Azurlicht vor der Expedition für teures Gold zur Aufbewahrung übergeben hatte.
Es dauerte nicht lang, bis er das Gasthaus erreicht hatte. Ohne sich gross umzublicken steuerte er die Theke an. Arille war gerade dabei, ein Glas abzutrocknen, eines von vielen, die vor ihm aufgereiht standen.
„Ah, Shorel'aran. Da bist du ja wieder“, grinste der hellhaarige Elf mit den klaren eisblauen Augen. „Ich habe dich schon vermisst. Einmal das Übliche?“, fragte er sofort.
Dairean nickte nur und schob sich halb auf einen der Barhocker. „Ja, gern.“
„Wie ist es dir ergangen? Ich dachte, du bist länger weg“, fragte Azurlicht und schenkte ihm zwei Fingerbreit eines scharfen Schnaps' in ein kleines Gläschen ein.
„Das dachte ich auch“, murmelte Dairean. „Is' was dazwischengekommen. Ich brauch dringend meine Sachen.“
„Du kommst aber schnell zum Punkt.“ Azurlicht schraubte die Flasche wieder zu und schmunzelte.
Dairean griff zum Gläschen und stürzte den Inhalt mit einem Zug herunter, holte tief Luft. Der Alkohol stieg ihm sofort zu Kopf, scharf und feurig, genau wie er es mochte. „So bin ich halt“, keuchte er. „Uh.. gutes Zeug.“
„So bin ich“, erwiderte Azurlicht und lachte schallend, drehte sich kurz um, um die Flasche Schnaps in einem Regal zu verstauen. Dann wandte er sich Dairean wieder zu, stützte sich leicht auf dem Tresen ab.
„Nicht viel zu tun, hm?“, fragte Dairean angesichts des leeren Schankraumes.
„Um die Zeit doch nicht.. Es ist Morgen! Bist du erst grad' zurückgekommen?“
„So ungefähr“, brummelte Dairean erneut und schob Azurlicht das Gläschen hin. Dieser ergriff es und nickte, fragte nicht weiter.
Arille Azurlicht wusste gut, wann er schweigen musste. Dairean war ihm dafür recht dankbar, denn er war sich nicht ganz sicher, wie viel er dem Wirt anvertrauen konnte. Der Hochelf betonte immer, dass er selber neutral sei. Er wirtete seit der Gründung von Dalaran in der Magierstadt, das betonte er immer wieder gern. „Für mich sind alle in erster Linie Gäste“, das war Azurlichts Lieblingssatz. So war es kein Wunder, dass er im neu aufgebauten und in den Norden transferierten Dalaran ausgerechnet die neutrale Taverne in Besitz genommen hatte und sich nicht in die Fraktionsstreitigkeiten einmischte. Dairean schätzte das an ihm sehr. Aber er war sich auch der Gefahren bewusst. Azurlicht tänzelte geschickt auf einem sehr schmalen Grat, bewegte sich auf beide Seiten hin, gab den verfeindeten Fraktionen gerade genug, um ihr Wohlwollen zu sichern, und nicht zu wenig, so dass sie ihn als Ziel aussuchen würden. Und der Fraktionszwist war in Dalaran ja nun doppelt vertreten. Einerseits die Allianz und die Horde, andererseits ihre Untervertreter des Silberbunds und der Sonnenhäscher, gleichzeitig die neutral bleibenden Fraktionen wie die Kirin Tor, die wiederum durch die Liaison von Rhonin mit Windläufer eine schiefen Lage bekommen hatte, dann auch noch der Argentumkreuzzug, der nicht müde wurde zu betonen, dass man die Zwistigkeiten beilegen musste, um gemeinsam gegen die Geissel anzukämpfen..
Dairean hatte einige Zeit gebraucht, um diese mehr oder weniger sichtbaren Konflikt- und Interessensfäden, die sich alle in Dalaran zusammenballten, zu begreifen. Azurlicht war ihm dabei eine grosse Hilfe gewesen. < Mir und vielen anderen>, dachte Dairean. Er war kaum der einzige, der bei dem Wirt seine Sorgen losgeworden war. Aber im Gegensatz zum Rest war er klug genug, das Spiel selber mitzuspielen. Er hatte Azurlicht gerade genug gegeben, um sein Vertrauen zu gewinnen, aber niemals soviel verraten, dass dieser etwas gegen ihn in der Hand hatte.
„Natürlich habe ich dein Gepäck noch“, unterbrach Azurlicht die Stille, die kurz eingekehrt war, nachdem Dairean ihm das Glas zugeschoben hatte. „Was ist das denn für eine Frage, Leyan... Du kennst mich doch langsam gut genug.“
Leyan.. Auch Azurlicht kannte ihn nur unter diesem Namen und erinnerte Dairean erneut an seinen Bruder, dessen Verlust er in den letzten Tagen nur umso deutlicher spürte. Seit er auf diese vermaledeite Mission aufgebrochen war und den Namen ständig im Ohr hatte, pochte eine leere Stelle in seiner Brust unaufhörlich. Er sollte sich endlich ein anderes Pseudonym einfallen lassen.
Er zwang sich zu einem Lächeln. „Kleiner Scherz unter Freunden“, gab er zur Antwort und rutschte wieder vom Barstuhl. „Entschuldige, ich muss leider noch dringend wohin... Hab nicht viel Zeit. Kannst du mir das Zeug geben?“
„Natürlich“, sagte Azurlicht und reichte ihm einen Schlüssel. „Lebensmittelkammer im Keller, hinterste Ecke rechts.“
„Ausgerechnet die Lebensmittelkammer? Dann werde ich sicher für einen Monat nach Schinken und Speck müffeln“, maulte Dairean etwas übertrieben, grinste dann.
Azurlicht hob abwehrend die Hände. „Hättest mir halt sagen müssen, dass du da drin Klamotten aufbewahrst... Apropos Klamotten.. wie siehst du denn aus?“
„Sag nichts“, warnte Dairean ihn und hob drohend den Zeigefinger.
„Gut, gut“, grinste Azurlicht. „Leg den Schlüssel einfach oben auf den Türrahmen, wenn du fertig bist. Ich muss auch gleich noch eine Lieferung in Auftrag geben, und werde vermutlich nicht mehr hier sein, wenn du fertig bist. Und klau nichts! Die Vorräte sind abgezählt.“
„Wie kannst du so etwas Schlechtes von mir denken“, grinste Dairean. „Ich leg den Schlüssel hin. Danke vielmals, Arille.“ Daireans Worte klangen ehrlich. Er meinte es auch so. Er war dem Wirt wirklich dankbar für seine Verschwiegenheit und für seine Dienste, auch wenn er sich keine Illusionen darüber machte, dass diese Dienste mit barer Münze erkauft wurden.
Er ergriff den Schlüssel, verabschiedete sich von Azurlicht, der ihm das Versprechen abnahm, dass er bald wieder vorbeischauen würde und stieg schliesslich die Treppe hinab, die zum Keller führte. Er musste sich beeilen. Er schätzte, dass er bereits einen Drittel der ihm zugestandenen Stunde mit dem Gespräch aufgebraucht hatte, so notwendig es war.
Er fand sein Gepäck an dem ihm zugewiesenen Ort. Als er sich das erste Mal seit einer Woche wieder in etwas kleidete, was man als Rüstung bezeichnen konnte, atmete er das erste Mal richtig auf. Er fühlte sich besser. Viel besser. Auch wenn er sich noch nicht ganz im Klaren war, wie er die Sachen in seiner Kammer aufbewahren sollte, ohne dass es auffallen würde, schulterte er seine wenigen Habseligkeiten dennoch und verliess die Lebensmittelkammer, legte den Schlüssel an den zugewiesenen Ort und verliess das Gasthaus. Arille war nirgends mehr zu erblicken.
Dairean schulterte seinen Beutel und steuerte die Mitte der Stadt an. In dem kleinen Park, der den einfachen, zierlichen Springbrunnen umgab, befanden sich einige Plätze zum Verweilen, zum Studieren und zum gemütlichen Zusammensitzen. Eine der zahlreichen Sitzmöglichkeiten war eine Parkbank, die zu Daireans Lieblingsplätzen in der Stadt zählte. Nicht, weil sie gemütlich war oder eine schöne Aussicht bot, sondern weil er unter einem Stein, der direkt neben der Bank im Gras lag, immer einen Vorrat von Pulver gelagert hatte. Manchmal war es nicht mehr vorhanden, manchmal war es auch schon unbrauchbar gewesen, weil es durch Feuchtigkeit angegriffen worden war, es passierte aber weitaus weniger als bei seinen anderen drei Aufbewahrungsorten. Dairean setzte sich auf die Bank und schloss kurz die Augen, um sich selbst in die Illusion zu begeben, er sei ein einfacher Spaziergänger, ein Bürger dieser rastlosen Stadt von Magiern, der sich einfach nur ausruhen mochte. Es war viel zu auffällig, sofort nach dem Stein zu greifen, auch wenn es gerade eine sehr grosse Versuchung war. Er brauchte dieses Pulver so dringend, er wollte nicht darüber nachdenken, was geschah, wenn alle seine Vorräte verdorben wären und der Händler nicht in der Stadt... Undenkbar!
„Nur noch ein Moment, warte noch einen Moment“, sprach Dairean sich selbst Geduld zu, öffnete die Augen wieder und liess seinen Blick über den Park schweifen. Um diese frühe Uhrzeit war es noch recht ruhig, hier und da sass ein Magier auf einer Bank und las in etwas. Eine edle Dame stickte in einem hölzernen Rahmen irgendetwas, sass dabei auf einer besonders sonnenbeschienenen Bank neben ihrer Zofe oder Magd.
Gerade als Dairean die Zofe näher inspizieren wollte, fiel ihm im Augenwinkel eine Gestalt auf, die sich am Rand des Parks an der rückwärtigen Wand des Gasthauses herumdrückte. Dairean zog eine Augenbraue hoch und bückte sich, um in seinem Sack zu kramen, dabei nutzte er die Gelegenheit und schaute näher hin. Der Gang war unverkennbar... Natürlich! Er war so töricht gewesen.
Dairean kannte den Gang dieser Person nur zu gut. Es war Meeran, ein Spion in Hathorels Diensten, ein Berufskollege, konnte man fast schon sagen. Und plötzlich machte alles Sinn. Es machte Sinn, warum Eloira ihn einfach gehen liess, ohne dass er eine Charmeoffensive hatte starten müssen. Es machte Sinn, dass Hathorel ihn ein paar Tage lang in seiner Kammer hatte versauern lassen. Dairean verzog das Gesicht. Hathorel liess ihn beobachten. Er wollte, dass Dairean vor lauter Langeweile die Kammer verliess, um... Ja, um was eigentlich? War Hathorel wirklich so töricht zu glauben, er würde sofort zum Versteck des Relikts rennen oder was?
Dairean griff nach dem Stein, holte den ledernen Beutel darunter hervor und öffnete ihn. Zu seinem Glück unterschätzte ihn Hathorel gewaltig. Wie konnte er überhaupt denken, dass er von jemandem ausgespäht werden konnte? Er war einer der besten Spione, auf die der Magister zurückgreifen konnte. Diejenigen, die in Dalaran präsent waren, konnten ihm sicher nicht das Wasser reichen.
Der Inhalt des Beutels war intakt. Dairean wählte sorgfältig eine kleine Dosis aus und rieb sie sich ins Zahnfleisch. Gerade genug, um noch klar denken zu können, so, wie er es liebte.
Er ignorierte den bohrenden Gedanken, dass er nur Glück gehabt hatte, dass er den Spion entdeckt hatte. Er hätte ihn wohl auch so entdeckt. Spätestens, wenn er ein anderes Versteck aufsuchen hätte müssen. Ja, bestimmt. Dann hätte er ihn sowieso entdeckt.

Die restlichen Momente seiner freien Stunde liess er mit Müssiggang verstreichen, aber er genoss es überhaupt nicht, einen Apfel beim Obsthändler kaufen zu können, die Auslagen beim Wein- und Käsegeschäft ausgiebig durchzuschauen und schliesslich eine Flasche Wein zu kaufen, sowie sich beim Barbier rasieren zu lassen. Es juckte ihn unter allen Fingernägeln, Informationen zu besorgen. Er wollte Briefe schreiben, bei der Sonne, er wollte ein Drachenfalkenei besorgen, um sich ein neues Reittier heranzuziehen, er wollte weg aus Dalaran und vor allem wollte er... Er wollte wissen, wie es ihr ging.
Mehr als einmal hätte er den Spion abhängen können, aber er musste sich beherrschen, möglichst langsam zu gehen, zu schlendern und vergnügt zu grinsen, wie er sich einen Gefangenen vorstellte, der nach mehreren Tagen das erste Mal die Sonne sah.
Er verbot sich selbst konsequent, sich dem Quartier des Silberbunds auch nur zu nähern, sondern streifte ausgiebig durch das Händlerviertel. Die Unruhe, die er während der letzten Tage empfunden hatte, kehrte bereits nach wenigen Momenten mit Wucht zurück, und hinterliess ein dumpf pochendes Gefühl der Unsicherheit in seiner Brust. Er versuchte es zu unterdrücken, indem er immer wieder leise fluchte und leer schluckte.
Als er um Neun wieder in seiner Kammer ankam, fühlte er sich schlechter als zuvor.
„Drachenfalkenpisse“, fluchte er, als er wieder allein und eingeschlossen war.

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