Flucht aus der Betroffenheit - Gedanken nach dem Amoklauf

Tami12

Rare-Mob
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Keine 10 Kilometer von hier ist vor knapp einer Woche ein grausamer Amoklauf geschehen, der binnen von Stunden die ganze Welt erreicht hatte. Hier außerhalb vom Stuttgart, „im Ländle“, wie die Einheimischen es nennen, war die Welt, so dachte man, noch in Ordnung. Kaum jemand hätte damit gerechnet, dass so etwas hier passieren könnte.

Am selben Abend konnte man im Fernseher die ersten Talkshows hören, die ersten Gerüchte gerieten in Umlauf. Morgens in der Schule waren dann schon alle, mit denen man sprechen konnte Top-informiert und wussten alles über sein Leben. Er war ja in psychischer Behandlung habe man gehört, er war im Schützenverein, er war Counterstrike-süchtig, er war Einzelgänger hieß es hier, er war ein beliebter Mensch dem man so etwas nicht zugetraut hätte, hieß es da.
Was nun wirklich davon stimmt, vermag ich nicht zu sagen. Ich versuchte einfach, mir möglichst keine Meinung zu bilden, solange nicht fundierte und wahrheitsgetreue Erkenntnisse in den seriösen Zeitungen dieser Welt zu finden waren, da jedes andere Bild von Klatsch- und Sensationspresse in einer Art und Weise verzerrt werden würde, dass es selbst mit dem besten guten Willen, den man sich wünschen kann, zu einem Schatten seiner selbst werden würde.
Bis heute kann ich den Informationen nicht glauben, hieß es doch zuerst, er sei in der Psychatrie gewesen, stand gestern Morgen in der Zeitung, dies sei ein Irrtum gewesen. So handelt dieser Blog weniger von den Fakten, die keine sind, sondern von allgemeinen Möglichkeiten, die mir durch den Kopf gegangen sind.
Versuchen wir uns in diesen jungen Mann hinein zu versetzen. Es fällt einem unheimlich schwer, wie verzweifelt ein gerade volljähriger junger Mann sein muss, mit einer Waffe durch die eigene Schule zu rennen, wahllos auf Leute zu schießen, wahllos auf Passanten zu schießen um sich dann am Ende das Leben zu nehmen. Was geht in so jemandem vor? Angenommen, er war kein kompletter Psychopath, wovon ich ausgehe, da es sonst jemandem aufgefallen wäre, was könnte dazu geführt haben? Verzweiflung – woher kommt sie? Wurde er nicht verstanden? Gehänselt? Abgelehnt? Oder war es der Drang, seinem Leben einen Sinn zu geben, berühmt zu werden, war er Lebenssatt?

Klar, die Diskussion um die sogenannten Killerspiele ist schnell wieder auf dem Tisch. Egoshooter bilden Amokläufer aus, schreien die einen. Verschärft die Waffengesetze, verbietet die Bundeswehr schreien die anderen. Beide Seiten machen es sich sehr einfach. Wenn einem bei der Bundeswehr etwas beigebracht wird, dann der Respekt vor der Waffe. Es ist eben kein – wie in Filmen und Spielen dargestelltes – Prestigeobjekt, welches einem das Geschlechtsteil verlängert, es ist ein Stück hässliches Metall, kalt und grau, gemacht zum Töten, egal ob zur Verteidigung oder zum offensiven Angriff. Aber ich kenne Menschen bei der Bundeswehr, und ich kenne auch Menschen aus meinem persönlichen Umfeld, denen beim Gedanken an den Umgang mit Waffen einer abgeht. Viele denken, sie wüssten alles, was man über Waffen wissen kann, sie könnten nachladen, sie könnten schießen, könnten, nur weil sie in einem Egoshooter die Killscore anführen, auf 100 Meter jedem beliebigen Objekt einen gezielten Kopfschuss mit einer Hand auf dem Rücken und Blind verpassen. Ich wage also zu behaupten, dass Spiele und Filme die Amokläufer nicht ausbilden – aber möglicherweise die Hemmschwelle, eine Waffe zu benutzen, senkt. Auch hier spielen wieder – ich sage es jetzt einfach mal pauschal – „die Medien“ eine Rolle. Schalte gegen Abend den Fernseher ein – was läuft denn bitte im Fernsehen? Mord und Totschlag auf allen Kanälen, und dort, wo nicht dem kunstblut-beschmierten Schauspieler das Gesicht vom Schädel geschossen wird, lernen die Jugendlichen in Soaps und Castingshows die Werte unserer Generation kennen: Es ist geil, ein Arschloch zu sein, lasse dich nicht erwischen und setz dich durch. Sehe gut aus, sei besser als die anderen, scheiß auf soziale Werte und lass dich nicht mit schwachen ein. Klar, ich übertreibe, aber das macht ja bekanntlich anschaulich.

Ich selbst merke es. Schütteln die jetzigen Studenten und Mitt-Dreißiger über die teils sehr derben Witze, die wir uns auf dem Heimweg so erzählen den Kopf, bei denen wir denken: „Was sind das denn für Spießer?“, höre ich im selben Moment, wie die kleinen Fünftklässler hinter uns sich gegenseitig ihre Mütter beleidigen. Ist das unsere Zukunft? Wohin führt das? Was kommt dabei heraus, wenn einer Generation von Schülern beigebracht wird, sich so zu benehmen, dass sie so „cool“ sind wie Bushido? Was kommt dabei raus, wenn den Kindern schon im Kleinkindalter via Fernsehen aka Babysitter aka „Halt-die-Fresse-und-glotz“ beigebracht wird, dass dich eine Waffe zum Held macht, denen die Frauen zu Füßen liegen? Sex sells, und wer cool sein will, der muss sich eben anpassen. Was vermitteln die Eltern dieser Kinder für Werte? Die eigenen Eltern haben einem noch gesagt, dass man nicht Lügen soll, dass man nicht stehlen soll, dass man nicht beleidigen soll – was du nicht willst, was man dir tue... den Rest kennt ihr. Kritisch wird es eben, wenn Fernseher und PC die Erziehung in die Hand nehmen. Dann verändern sich die Kinder. Die einen stehen nur noch auf knallharte Actionhelden, und wer unter diesen Individuen noch überleben will, muss eben selbst einer von diesen werden. So führt das eine zum anderen, und wir haben den Salat. Und welche Rolle spielt dabei der Druck in der Schule? G8 Bundesweit? Fünftklässler mit 40-Stunden-Wochen? Alle 2 Jahre Vergleichsarbeiten? Das ist keine Schule mehr, das ist Leistungszwang der untersten Kategorie! Wenn da einer austickt, weil er es nicht mehr auf die Reihe bekommt - kein Wunder!

Wenn ich dann daran denke, was wir teilweise für Witze machen, kommt mir dieser Blog sehr geheuchelt vor. Bin ich nicht selbst teilweise schon so? Habe ich nicht selbst schon davon geträumt, die Actionheld schlechthin zu sein? Woher kommt dieser extreme Zynismus? Ich erinnere nur an den Spieler, der im WoW-Forum den Tod seiner Bruders verkündete und als Antwort nur ein kaltes „Was hat er gedropt“ zu hören bekam, was natürlich nicht die Antwort ist, die man hören möchte, wenn man gerade ein nahestehendes Familienmitglied verloren hat.

Vielleicht ist es eine Art psychischer Schutzschild. Wir erfahren soviel – am Morgen lese ich in der Zeitung von 15000 Erdbebenopfern in Zentralafrika, in der Schule erzählt mir jemand von einem Autounfall, am Mittag präsentiert mir MSN stolz die 17 Opfer eines Attentats im Irak und später denke ich wieder an den Amoklauf. Später noch einen Kriegsfilm reingepfiffen und zum Ausklang des Abends eine Runde Spieler in WoW über den virtuellen Jordan befördert. Dabei ist der Einsturz des Kölner Archivs schon fast vergessen. Aber das waren ja auch nur zwei Tote. Nur zwei... lasst euch das mal auf der Zunge zergehen. Da vergeht einem das Lachen. Es passiert soviel, wie erfahren soviel – früher, wenn im Dorf einer starb, war man betroffen. Wenn man dass auf die gefühlten 20000 Todesopfer, von denen man pro Tag zu hören bekommt, anwenden müsste – man würde durchdrehen. Dadurch baut man sich einen Schutzschild auf, gemauert aus Zynismus und schwarzem Humor. Man lässt nichts mehr an sich heran, ähnliches lässt sich zum Beispiel bei Rettungssanitätern beobachten. Der Mensch von heute erfährt von mehr Leid, als sein emotionales Gehirn verarbeiten kann und schirmt sich automatisch dagegen ab. Und wenn es dann vorkommt, dass man selbst in Situationen, die einem nahe gehen sollten, diesen Schutzschild hochfährt – und einem der Amoklauf von Winnenden nur noch ein: „Hm... 16 Tote... was gibt’s zum Abendessen“ entlockt – dann ist etwas schief gelaufen.

Dieser Blog ist gewidmet allen Opfern und Angehörigen des jüngsten Amoklaufs von Winnenden, sowie allen Freunden, die an diesem Tag unter Schock standen und allen, die in irgendeiner Form von solchen Vorfällen in den letzten Jahren betroffen waren.

Vielen Dank an alle, die sich diesen Gedankenerguss tatsächlich komplett durchgelesen haben.

Gruß
Euer Tami
 
Ich wage mal zu behapten, dass von allen diesen Dingen das Kölner Archiv noch das tragischste war.. Wie mehrere Uniprofessoren für Geschichte in der letzten Woche dargelegt haben, gingen viele hunderte und tausende wertvolle geschichtliche Dokumente einfach mal verloren, für deren aufbewahrung hunderte und tausende euro bezahlt wurden udn die unschätzbaren wert für die geschichte deutschlands und europa im mittelalter hatten...
aber ja.. von sowas kriegt man ja auch nichts mit in den medien.
 
Um meine Gedanken zu all dem was du hier schreibst zu reflektieren müsste ich einen eigenen Blog schreiben. Medien sind eine Sache für sich. Ich habe lange genug mit ihnen zusammengearbeitet um genau zu diesem Thema einiges schreiben zu können.... Auch über die Werte der modernen Gesellschaft könnte ich dir einige Geschichten erzählen.... Zuviele Gedanken für einen Kommentar...
Ich hoffe für alle die persönlich mit dieser oder einer anderen Tragödie zu tun haben, das sie die ereignisse gut verarbeiten können. Sie werden noch viele Jahre damit zu tun haben, während die Medien das ganze geschehen vergessen haben, sobald wieder irgendetwas sensationsträchtiges passiert, das diese Tragödie aus den Medien verbannt......
 
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