Mobbing oder die Kunst, trotzdem zu überleben

win3ermute

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Ich sage gern, daß ich meine Midlife-Crisis mit 9 Jahren hatte. Geht man nach meinem Kinderarzt, so hätte ich niemals 18 Jahre alt werden dürfen. Dürr, asthmatisch, rothaarig und dank der Lungenattacken mit einem schwachen Herz gesegnet, so ging ich in mein beginnendes Teenager-Alter. Und mehr als "höchstens 18, 20 Jahre hat der Jung' nicht; da könnense sich drauf einstellen..." sagte der Arzt, während ich zuhörte.

Echter Gewinn, hm? Es wird noch besser...

Meine Mutter wurf mich mit 40 Jahren. Das ist insofern bedeutend, als daß sie den 2. Weltkrieg durchaus bewußt als Teenager erlebt und die Nachkriegszeit als Heranwachsende mitgemacht hat.

Über die Tragödie des Lebens meiner Mutter könnte ich ein ganzes Buch füllen. Peter Handke hat in "Wunschloses Unglück" das Schicksal und den Werdegang eines "Nachkriegsteenagers" dieser Zeit treffend und sehr persönlich beschrieben. Das werde ich an anderer Stelle (und erst nach ihrem Tode) entsprechend abhandeln.

Wichtig hier ist: Meine Mutter könnte vom Alter her auch fast meine Oma sein. Der "Generationenkonflikt" wurde durch ihre Erfahrungen der Nachkriegszeit in einem Maße verstärkt, den man sich nur vorstellen kann, wenn man in ähnlichen Umständen aufgewachsen ist.

Die Ehe mit meinem sieben Jahre jüngeren Vater (das sind GENERATIONEN in Sachen Nachkriegszeit) habe ich nie verstanden; er ist das absolute Gegenteil von Mutter. Oberflächlich, mitläufernd, cholerisch, damals versoffen. Er hat mich nie im Zweifel gelassen, was für eine Enttäuschung ich für ihn sei. Obwohl er mich jeden Tag wissen ließ, wie wertlos ich doch eigentlich bin, erinnere ich mich durchaus an die größte Verletzung im zarten Alter von 12 Jahren: Dort erzählten mir Nachbarsjungen, daß mein Vater besoffen angegeben habe, er würde diese "behinderte Mißgeburt eines Sohnes" betteln schicken; das würde mehr Geld einbringen als sein Gehalt, weil ich so erbärmlich sei.

Scheisse aussehend, dürr, rothaarig: Beste Vorraussetzungen für einen Jungen in den '80ern. Selbstbewußtsein gleich Null - und meine Nachkriegsmutter nähte und strickte meine Klamotten!

Die Grundschulzeit war trotz dieser Vorraussetzungen absolut glücklich. Dummerweise war ich halbwegs intelligent und durfte auf ein Gymnasium. Und da ging der Ärger los.

Es fing ganz leise an. Erst hänselte man mich wegen meinen Klamotten. Aufgewachsen in dem selbstgestrickten und -genähten Haushalt hatte ich nicht mal im Ansatz einen Begriff dafür, WARUM Kleidung überhaupt mehr Wert als wärmenden Charakter hatte.

Man gewöhnt sich an "mobbing". Dann ist man halt der Außenseiter; egal, ich hatte ja durchaus Freunde. Bis zur 6. Klasse.

Dann zog die Schraube an. Schüler machten sich einen Spaß daraus, morgens mit dem Fahrad in mich hereinzufahren (selbst die Jahrgangsstufe darunter). Innerhalb kürzester Zeit war ich keine Person mehr, sondern ein OBJEKT, an dem jeder seine Frustrationen abließ. Weil ich nie heulte, war das plötzlich eine Herausforderung.

Unter mir wohnte eine italienische Familie. Deren mittlere Tochter war (oh welch' Selbstbewußtseinserweiterung) trotz allem wohl in mich verliebt - und ich ebenfalls in sie. Bis sie in meine Schule kam...

Als ich das erste Mal auf sie freudestrahlend zuging in der Cafeteria, wurde ich angerempelt. Man schubbste mich herum von einer Person zur anderen - und es wurde immer heftiger, bis ich mich auf die Fresse legte. Der erwartungsvolle Blick des Mädels verwandelte sich in Entsetzen und schließlich zu einer Art Verachtung. JEDES Gefühl in Hinsicht meinerseits war in ihr gestorben.

Es ist schwierig, zu beschreiben, was ich damals fühlte. Ich fror, obwohl es warm war. In mir breitete sich sprichwörtlich eine Kälte aus, die ich niemals zuvor gefühlt hatte. Ich wollte TÖTEN und gleichzeitig tot sein.

Es wurde über zwei Jahre nicht besser. Ganz im Gegenteil. Meine Quäler entdeckten meine Spinnenangst (wahrscheinlich durch Mutter weitergereicht). Man steckte mir in der Umkleide zum Sportunterricht eine "schwarze Kellerspinne" in das billige Unterhemd. Den Leichnam der Spinne hielt man mir dann vor das Gesicht; allerdings zwang man dann ein anderes Opfer, das zu essen.

Es gab unzählige psychologische und körperliche Quälereien, an die ich mich nicht mal erinnern möchte. Aus dem zweiten Stock z. B. wurde eine große Glasscherbe nach mir geschmissen, um zu sehen, ob ich der ausweichen kann.

Die innere Kälte war so schlimm, daß ich mit 13 Jahren an Selbstmord dachte. Der nächste Schultag war ein Horror, dem ich nur entrinnen wollte. Ich fror im Sommer und wollte alles um mich herum nur sterben sehen.

Immerhin hatte ich ein Ventil. Ich schrieb! Und wie ich schrieb! Handschriftlich füllte ich Seiten um Seiten mit meinen Gefühlen; mit meinem Willen, ALLES um mich zu töten. Ich fror und ich schrieb und mich grauste vor dem nächsten Schultag. Aber das schlimmste sollte noch kommen.

Bei einem unfähigen Lehrer, wie sie leider zu Tausenden auftreten, brachten mich die Leute mit bespuckter Brille etc. zum Heulen. Das ist die schlimmste Erniedrigung überhaupt: Egal, was sie Dir antun, heule nie! Und natürlich wollte der Lehrer mich nach der Schulzeit dabehalten; und natürlich erzählst Du ihm nix: Das ist ja Schwäche! Und dennoch bist _DU_ am nächsten Tag das Arschloch: Die PETZE! DU hast das Maul nicht gehalten! _Doppeltes Opfer!_

_JEDER_ hasst Dich!

Auftritt Rene P. Betucht, gutaussehend, körperlich fit. Und er liebte es, die "Outsider" zu quälen. Wer sich wehrte, bekam richtig in die Fresse. Wer sich nicht wehrte, bekam es ebenfalls in die Fresse. "Tittytwisting" war sein beliebtestes Spiel. Ich will nicht auf Einzelheiten eingehen, aber mit 14 war meine Titte so dermaßen entzündet und angeschwollen, für die eine Seite hätte ich einen BH brauchen können.

Ich hatte schließlich so eine Angst vor dem sadistischen Saukerl, daß ich wie paralysiert stehen blieb, wenn er mir begegnete. Vier Jahre später wurde mir als "Hiobsbotschaft" von anderen Mobbingopfern auf einer Party mit bedrückter Miene mitgeteilt, daß sich dieses Arschloch selbst das Leben genommen hat. Ich habe verdammt BEFREIT gelacht! Ich habe das GEFEIERT! Ich habe denen noch gesagt, daß sie verdammte selbstmitleidige Idioten sind, weil sie den Tod eines verfickten Arschloches als Begründung für Depressionen hernehmen, obwohl das im Grunde nur ein absolut freudiges Ereignis ist.

Bis zu diesem freudigen Selbstmord war es allerdings noch ein weiter Weg. Die Erlösung von der Tortur kam von unerwarteter Seite. Als "Arbeiterkind" wohnte ich im "Ghetto"; als Gymnasiast hatte ich selbst eine elitäre Abwärtshaltung gegenüber den Leuten, die dort wohnten.

Bis ich mal wieder vom Gitarrenunterricht kam. Der Nachhauseweg war - trotz kaum 100 Meter - immer eine Tortur. Monatelang hatten mich dort völlig unbekannte Leute drangsaliert; mich beschimpft, bespuckt und mit körperlicher Gewalt bedroht.

Auftritt Turks. Eben jene unbeliebten türkischen Mitbewohner. Sie bekamen das mit; sie wußten auch, wo ich wohne. Und eine eingeschüchterte Rotte von sieben Leuten, die vorher gegen einen einzigen Dürrkopp große Fresse hatten, zogen plötzlich den Schwanz ein, als ein Türke, den ich nicht mal vom Namen kannte, ihrem Anführer mal eben die Faust ins Gesicht schlug. Und das alles für mich, der nur in der Gegend wohnte und nicht mal ein Wort mit ihnen gewechselt hatte!

Danach legte sich niemand mehr mit mir an. Ich habe das nicht ausgenutzt; ich habe meine Ruhe als "Außenseiter, mit dem keiner was zu tun haben will" genossen. Abitur habe ich selbstverständlich nicht auf dieser Schule gemacht, sondern bin so schnell wie möglich abgegangen.

Danach habe ich eine Lehre als KfZ-Mechaniker angefangen (sicherlich Verschwendung meines Talentes), wo ich einen cholerischen Meister bekam, der _noch schlimmer_ als mein Vater war. Allerdings habe ich da erstmals ein Gefühl dafür bekommen, daß ich was kann. Ich habe in einer Mammutaktion einen Oldtimer restauriert, den jeder als "kompletten Schrott" deklarierte - reines Rebellentum aufgrund meiner Erfahrungen (und ich habe dieses verfickte 1970er Rekord Coupe bis heute und will den bis an mein Lebensende fahren).
Ich habe vorher den ersten jemals im Westen gemeldeten Wartburg 311 fahrbereit und über den TÜV gebracht.

Die Kälte ist nie verschwunden. Einer meiner heutigen besten Freunde hat über ein Jahr "gekämpft", damit ich überhaupt jemals zurückrufe. Ich traue, glaube und hoffe auf niemanden.

Hoffnung für alle Mobbing-Geschädigten: Die Hauptperson, die am "Schubbsing" in der Cafeteria und auch nachfolgend an ganz vielen anderen Mobbing-Aktionen beteiligt war, ist heute eine meiner besten Freunde!
Wir haben uns als Oldtimerfans wiedergetroffen; ich habe ein paar Sachen an seinem Auto gemacht - und als das "Monster" (eben jener 1970er Opel Rekord Coupé) der Restauration bedurfte, war er 6 Monate nach Feierabend einfach ungefragt jederzeit dabei und hat sogar meine Launen ertragen! Unbezahlbar, der Kerl!

Im hohen Alter von fast 44 Jahren trage ich mit Stolz einen der schönsten und seltensten Rottöne überhaupt selbstverständlich langaarig seit 21 Jahren. Ich hatte meinen Anteil an überaus hypschen und interessanten Frauen. Es galt bei Festivals tatsächlich die Devise, die Frauen von mir fernzuhalten, weil ich, wenn ich gut gelaunt bin, tatsächlich alles abreißen würde.

Ich habe allerdings so viele tolle Freundschaften gekillt, weil ich nach wie vor nicht bereit bin, mich auch nur annähernd auf Leute einzulassen. Mit fast 44 hab' ich selbstverständlich jegliche Lebenserwartung meines Kinderarztes weit übertroffen.

Erwartet nicht, daß ich euch jemals zurückrufe, wenn ihr mich trefft und nett findet - sowas mache ich nie! Ich bin zuverlässig, wenn ich was mit euch ausmache - darüberhinaus breche ich alles, was abseits des oberflächlichen Kontaktes hinausgeht, direkt ab! Und wenn ich unverbindlich, aber nett bin - so bin ich halt.

Und schreiben kann ich auch nicht mehr....
 
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