[Fantasy] Verlorene Wege

Al Fifino

Rare-Mob
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Ein Vorwort

Zuerst einmal Danke, dass Ihr so geduldig gewartet habt. Ich kann mich für meine unendliche Faulheit nur entschuldigen, hoffe aber, dass Ihr weiterhin Freude an meiner Geschichte haben werdet. Sie hat sich inzwischen ein wenig gewandelt; Ihr tätet also gut daran, sie noch einmal von vorne bis hinten durchzulesen. Ich verspreche, dass Ihr es nicht bereuen werdet. Zumindest hoffe ich das.
In jedem Fall wird diese Geschichte eine komplett neue Wendung erhalten; eine, die ich von Anfang an vorgesehen, aber kein bisschen durchgezogen habe. Auch wenn die alte Version bereits eine gewisse Eigendynamik entwickelt hatte, so wurde sie mehr und mehr zu etwas, was ich unter allen Umständen hatte vermeiden wollen: Eine Geschichte, die allein von plötzlich auftauchenden Gedanken geleitet wurde, ohne jegliche feste Handlung.
Dieses Mal nicht!
Es werden bestimmt wieder einige Charaktere auftauchen, die Ihr vom Namen her bereits kennt. Ich bin gespannt, ob Ihr sie vom Wesen her wiedererkennt.
Um mir ein wenig mehr Zeit und Euch weniger kleine Teilchen vorwerfen zu müssen, werde ich ab sofort versuchen, die Geschichte kapitelweise zu veröffentlichen. Das heißt: längere Wartezeit, aber dafür mindestens 5 DINA4-Seiten auf einmal.

Genug geschwafelt! Nochmals vielen Dank fürs Warten und viel Spaß beim Lesen!
(Über Kritik freue ich mich wie immer wahnsinnig, also raus mit der Sprache!)
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Prolog

Es war ein komisches Gefühl, das erste Mal die Luft einzuatmen. Kühler, rasselnder, gleichmäßiger Atem drang in meine Lungen und hob meine Brust. Aber irgendwie schien es, als wäre er nicht mehr notwendig, als ob sich die Lungen nicht mehr so aufblähen würden, wie sie es eigentlich tun müssten; fast, als hätte er seine Bedeutung verloren.

Meine Finger waren blanke Knochen, die sich bogen und bewegten, als wären sie noch immer durch Sehnen und Fleisch miteinander verbunden. In dem flackernden Licht der Fackeln, die an den Wänden hingen und diese mit schwarzem Ruß verunreinigten, war ab und an ein schwaches, violettes Leuchten zu erkennen, das sich in einem feinen Nebel über die weißen Knochen zog und der Grund sein musste, dass die einzelnen Segmente nicht einfach zu Boden fielen und dort regungslos liegen blieben.

Meine Füße waren in einem ähnlichen Zustand. Von ihnen hing fauliges, halb verwestes Fleisch, und die Zehenspitzen wiesen bereits Löcher auf, an deren Enden die Knochen hervor blinzelten. Die straff über meinen Körper gespannte Haut war totenbleich und hatte jegliche Farbe verloren. Unter ihr verliefen mannigfaltig hauchfeine, schwarze Linien, die gemächlich ihre Richtung änderten und niemals an einem Ort verweilten. Nach einigem Überlegen kam ich zu dem Schluss, dass es sich hierbei um die Substanz handeln musste, die mich am Leben erhielt.

Zögerlich hob ich meine Hand und strich mir vorsichtig über mein Gesicht. Die Wangen fühlten sich eingefallen an, doch die Haut schien in Ordnung und glatt zu sein, sah man von Haarstoppeln und einem Kinnbart ab, der über einige Zeit frei gewuchert haben musste. Bei meiner Brust hingegen verschwanden meine Finger plötzlich in einem Loch, das sich dort auftat, wo mein Herz saß. Gesplitterte und gebrochene Rippen versperrten jeglichen Eingang zu dem, was sich unter ihnen befand, und schienen einen geeigneten Schutzschild zu bilden.

Mit gerunzelter Stirn und einer erhobenen Augenbraue betrachtete ich meine Klamotten. Sie waren aus Leder – dessen war ich mir sicher – und hatten angesichts der Risse, dunkler Flecken, die verdächtig nach Blut aussahen, und des faustgroßen Lochs, das sich identisch über jenes in meiner Brust legte, bereits einen regen Gebrauch hinter sich. Jede Bewegung wurde von einem leisen Knirschen begleitet, als wolle das Leder im nächsten Moment auseinander brechen.

Vorsichtig schwang ich meine Beine aus der Vertiefung in der Wand, in der ich lag, und sprang auf den Boden. Geräusche, die an verdächtig nach brechenden Knochen anhörten, hallten in der kleinen Gruft nach und wiederholten sich bei jedem zaghaften Schritt, den ich in Richtung Treppe tat. Die Stufen schienen solide gebaut und intakt zu sein, obwohl sie von Rissen durchzogen und an einigen Stellen Steinbrocken herausgeplatzt waren. Moos hatte sich auf ihnen und den Wänden angesetzt, und nahezu überall tropfte Wasser von der Decke herunter.

Am Ende der äußerst kurzen Treppe drang düsteres Licht in den Gang. Ich konnte einen Blick auf den von grünen Nebelwolken durchzogenen Himmel erhaschen, bevor ich aus dem Torbogen heraus trat und auf das verdorrte und kranke Gras trat.

Links von mir waren weitere Eingänge zu Grüften, meistervoll aus Stein modelliert und einer erschreckender als der andere. Hässliche Fratzen von Monstern mit riesigen und gefletschten Zähnen grinsten mir entgegen, manche von ihnen hatten ihre Arme in Gier und Verlangen ausgestreckt. Sie sahen geradezu lebendig aus, keine von ihnen war von Moos oder einer Kletterpflanze bewachsen. Stattdessen sahen sie aus, als würden sie regelmäßig gereinigt werden.

Als ich meinen Kopf nach rechts wandte, erspähte ich weitlaufende Reihen von aufgeworfenen Erdhügeln, vor denen Grabsteine oder Kreuze in den Boden getrieben worden waren. Nicht wenige waren zur Seite geräumt und die Särge darunter zum Vorschein gebracht worden. Die Deckel der meist schmucklosen und einfachen, hölzernen Behältnisse waren geöffnet und diejenigen, die darin gelegen waren, verschwunden. Von einigen waren nur noch Splitter übrig und sie sahen aus, als wären sie von innen heraus zerfetzt worden.

Direkt vor mir ging ein alter, kaum erkennbarer Weg von der Gruft weg. Er verlief in vielen Kurven den sanften Hügel hinab, auf dem ich stand, und verschwand in nicht allzu weiter Ferne zwischen heruntergekommenen, halb zerfallenen Häusern und Hütten, die aussahen, als wären sie seit Jahrhunderten unbewohnt. Aus nicht wenigen von ihnen drangen allerdings schwaches Licht und tanzende Schatten heraus, was eindeutig von Bewohnern zeugte. Das leise, klagevolle Heulen des Windes wurde immer wieder von unmenschlichen Schreien, dicht gefolgt von erbarmungslosen Gelächter und Rufen, unterbrochen. Was für Leute auch immer dort unten ihren Werken nachgingen, ich wollte es nicht wissen. Ich wollte nur von hier weg oder endlich aus diesem Alptraum aufwachen.

»Ich grüße dich, Wandelnder.«

Erschrocken riss ich meinen Kopf herum und tat einen hektischen Schritt nach hinten, während ich das skelettartige Wesen anstarrte, das mich mit einem breiten Grinsen und leuchtend gelben Augen ansah. Ihm fehlte jegliches Haar, und wo die Nase saß, klaffte nun ein Loch. Knochen schimmerten unter der Haut hervor, und es trug eine schmutzige, einstmals blaue Robe mit sichtbarem Stolz. »Nenne mir deinen Namen, Wandelnder.«

Langsam ließ ich meine Hand wieder sinken, die bis gerade eben noch auf meinem Herzen gelegen und nur alle paar Sekunden einen Schlag gespürt hatte. Inzwischen schlug es gar nicht mehr und stand einfach still. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter, der sich gerade eben gebildet hatte, und überlegte einen Moment. Ein wenig verwundert antwortete ich mit heiserer, krächzender Stimme: »Ich kenne ihn nicht.«

Die grauenvollen Augen meines Gegenübers verengten sich zu Schlitzen, als sie von dem Schreibbrett aufschauten, das er in der Hand hielt. »Das ist unmöglich. Versuche, dich zu erinnern.«

Ich versuchte stattdessen, tief und langsam einzuatmen, und tatsächlich beruhigte ich mich ein wenig. Trotzdem presste ich mich mit dem Rücken gegen den steinernen Eingang der Gruft. Das Gefühl, etwas Solides und Festes hinter mir zu haben, hinterließ eine wohltuende Sicherheit. Zumindest würde ich nicht plötzlich rückwärts in eine bodenlose Tiefe stürzen, und dieser Gedanke alleine reichte aus, um mich ein wenig besser zu fühlen. »Wo bin ich?« erwiderte ich zaghaft, anstatt auf die Frage einzugehen.

Der Blick, den er mir zuwarf, ließ mich zusammenzucken und meine Finger panisch am Stein kratzen. Schließlich, nachdem er mit sichtlicher Freude mein Leiden für eine Weile beobachtet hatte, antwortete er: »Du bist in Tirisfal.«

»Tirisfal…?« Der Name sagte mir rein gar nichts, aber er hörte sich nicht sonderlich nett an. Rasch überblickte ich die Umgebung ein weiteres Mal, bevor ich mein Augenmerk wieder auf die wandelnde Leiche vor mir richtete und jede seiner Bewegungen aufs Schärfste beobachtete. »Was bin ich?«

»Du bist das, was jeder hasst, der es nicht ist. Du bist etwas, was das Leben verabscheut und es vernichten will, wenn du es siehst, aus reiner Freude am Zerstören. Du bist das, was der großen Sylvanas Windrunner, Anführerin der Verlassenen, dienen wird.«

Ein verkniffenes Lächeln umspielte die Lippen des Mannes, als er angesichts meiner immer entsetzter werdenden Miene leise flüsternd hinzu fügte: »Du bist ein Untoter.«
 
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Kapitel 1 – Alles ist fremd

Ich kauerte auf meinem Platz und starrte auf den vor mir stehenden Krug, in dem irgendeine Flüssigkeit umher schwappte. Sie roch nach nichts – das mochte aber vielleicht nur an meiner überaus schlechten Nase liegen – und hatte die Farbe, die man am ehesten von einem besonders abscheulichen Gift erwarten würde. In der nur von Kerzen erhellten Dunkelheit des Raumes glühte sie grünlich aus dem Humpen heraus und verleitete mir jeglichen Reiz, auch nur daran zu nippen.

Möglichst verstohlen sah ich auf und betrachtete die Gäste, die sich in der Taverne eingefunden hatten. Fast jedem von ihnen fehlte etwas: Arme, Beine, Finger, Augen, Ohren, Kiefer. Einer von ihnen hatte einen Helm auf, der bedrohlich wackelte und unter dem es ständig gluckerte, als säße ein Wasserbottich auf seinem Kopf. Das Geräusch alleine, das ich erschreckend gut vernehmen konnte, reichte vollkommen aus, um mir die abscheulichsten Vorstellungen über das geheimnisvolle Objekt unter dem Helm zu geben. Im Angesicht des armlosen Skelettes, mit dem sich der Trinkende unterhielt, schien es mir jedoch am wahrscheinlichsten, dass sich ein Loch unter dem Helm befand und das Gluckern direkt aus dem Wesen selbst drang.

Mein Herz fing an, etwas schneller zu schlagen, und ich konnte spüren, wie sich das, was von meinem Magen übrig geblieben war, zusammen zog. Vorsichtshalber legte ich eine Hand auf meinen Mund und schluckte schwer, bevor ich mich wieder meinem Krug zuwandte. Ein kurzer Blick auf das Gesöff genügte, um mir verständlich zu machen, dass ich in der ganzen Taverne nichts anderes bekommen würde, und gerade in diesem Moment brauchte ich unbedingt etwas, um meinen Ekel herunter zu spülen. Während ich hastig den Krug an die Lippen ansetzte, hoffte ich nur noch inständig, dass die Flüssigkeit nicht die entgegengesetzte Wirkung haben würde.

Überrascht stellte ich fest, dass das schillernde und leuchtende Zeugs sogar gut schmeckte. In Gedanken versunken betrachtete ich den Inhalt des Krugs eingehend, bevor ich mit den Schultern zuckend einen weiteren Schluck nahm. Das leichte, grünliche Glühen der Flüssigkeit drang durch das Loch in meiner Brust nach draußen, verlosch dann aber gleich wieder, nachdem sie es passiert hatte.

Das Pochen in meiner Brust wurde wieder langsamer, bis es fast vollständig verschwand und nur noch ab und an, in unregelmäßigen Abständen, zu hören war. Ich warf einen weiteren, raschen Blick auf den Helmträger, inspizierte ihn für ein paar Sekunden, bevor ich mich wieder von ihm abwandte und meinen Krug anstarrte.

Ich wusste nicht, wo ich war. Tirisfal war mir vollkommen unbekannt, und ich hatte das Wesen an der Gruft nicht fragen können, wo es genau lag. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, aus Angst wie ein Verrückter den Hang hinunterzulaufen, in das Dorf hinein zu hetzen und die erste Taverne zu betreten, die ich sah, nur um mich in einer Gesellschaft wiederzufinden, die aus lauter Leichen zu bestehen schien.

Es gab viele Fragen, die mir im Kopf herum schwirrten. Zum einen fragte ich mich, warum ich die Knochen meiner Finger sehen konnte, aber trotzdem keine Schmerzen fühlte. Ich wusste, dass das eine zum anderen nicht passte, auch wenn ich nicht sagen konnte, warum. Ich wusste vieles: Ich verstand die Wesenheiten um mich herum, ich konnte mit ihnen sprechen, wenn ich gewollt hätte, ich konnte lesen, was auf den halb verrotteten, hölzernen Schildern an Speisen und Tränken angeboten wurde, und ich war mir ziemlich sicher, dass ich sogar schreiben konnte. Allerdings verstand ich nicht, wie jemand ohne Arme und nur noch aus Knochen bestehend umher wandeln konnte, und dasselbe galt für Personen mit Löchern in ihren Köpfen. Etwas in mir sagte, dass solch eine Wunde tödlich sein musste – genauso wie das Loch in meiner Brust.

»Genug gespielt?«

Ich riss meinen Kopf nach oben. Einige Halswirbel knackten rebellierend auf, Sehnen ächzten und knarrten wie das morsche Holz der Taverne, sobald der Wind dagegen drückte. Eine von ihnen, die besonders wehleidig geklungen hatte, riss einfach und schnellte wie eine Peitsche hervor, um dann, einen Riss in meinem Hals hinterlassend, an eben jenem zu baumeln.

Vor mir, in einer langen schwarzen Kutte gekleidet und das Gesicht von einer Kapuze versteckt, stand eine hoch aufragende Gestalt. Sie musste noch zwei bis drei Fuß größer als ich sein. Ihre nur noch von Haut überspannten Hände hatten sich auf eine der Stuhllehnen gelegt und trommelten ungeduldig auf das Holz ein.

Mein Blick schoss wie von selbst in jede Ecke des Schankraums, kundschaftete die beste Route aus, die ich einschlagen konnte. Ich brauchte dafür vielleicht zwei, drei Sekunden, in denen ich weder etwas fühlte noch etwas dachte. Die Welt um mich herum wurde schwarz, nur noch an den Stellen beleuchtet, die ich für meine eben ersonnene, hastige Flucht eingeplant hatte. Kaum dass ich sie vor meinem inneren Auge hatte, sprang ich auf.

Beinahe gleichzeitig drückte mich eine Hand unsanft wieder zurück auf den Stuhl. Die Gestalt war wie aus dem Nichts neben mir aufgetaucht. Das flackernde Licht der Kerze, die auf dem Tisch stand, offenbarte einen breiten, von faulen Zähnen bestückten Mund, der mich unter der Kapuze heraus angrinste. »Oh nein, mein Freund, du bleibst hier. Ich habe mit dir zu reden.«

Ihre Stimme war alt, merkwürdig piepsig und klang wie das Fiepen einer Ratte. Sie schien keine einzelne Höhe halten zu können, sondern sprang ständig auf und ab, was ihr unwillkürlich einen komischen, fast schon wahnsinnigen Eindruck verschaffte. Dennoch hatte sie einen gebieterischen Unterton an sich, der absolut keine Widerrede duldete. Ich konnte spüren, wie meine Gesichtsmuskeln zu zucken begannen, blieb stumm und antwortete mit einem verängstigten Nicken.

»Gut.« Mit einer raschen Handbewegung schob sich die Gestalt einen der Stühle zurecht und setzte sich mir gegenüber hin. »Du bist gerade erst auferstanden, das ist nicht zu übersehen. Frischfleisch,« ein raues, freudloses Lachen drang aus ihr hervor, »ist oftmals besser als das alte vergammelte, das es hier zuhauf gibt.« Sie zeigte auf die Untoten am Tresen und fuhr mit unverhohlener Abneigung fort: »Schau sie dir nur an… allesamt versoffene Schwachköpfe, die das letzte bisschen, was sie an Hirn übrig hatten, auch noch vernichten.«

Eine kurze Pause entstand, bis ich eifrig nickte. Wieder erschien das Grinsen auf dem Mund, das für mich eher bedrohend denn beruhigend wirkte. »Aber Kerlchen wie du… ihr seid vorsichtig. Warst ganz schön schnell gerade, dafür, dass du erst seit kurzem wieder unter den Lebenden weilst. Hast gleich nach einem Fluchtweg Ausschau gehalten, dich in die dunkelste Ecke verkrochen, wo Wandelnde wie du nicht erwartet werden. Das gefällt mir.«

Eine der Hände griff unter den Umhang. Instinktiv rutschte ich mitsamt meinem Stuhl ein Stück weiter zurück, ohne dabei auch nur ein Geräusch zu verursachen, und beobachtete angespannt bis panisch, wie sich die Finger unter dem Stoff bewegten. Ein weiteres, heiseres Lachen ertönte unter der Kapuze. »Ja, gut so… erwarte immer das Schlimmste. Gute Einstellung, mein Freund. Genau die richtige für einen kleinen Auftrag.«

Die Hand tauchte mit einem Brief und einem kleinen Beutelchen wieder auf. Beides landete in hohem Bogen auf dem Tisch, wobei sich die Verschnürung des Lederbeutels löste und einige kupferne sowie eine silberne Münze heraus kullerten. »Dieser Wisch muss nach Brill, einem Dorf nördlich von Undercity. Wenn du der Straße folgst, kommst du innerhalb von drei Sonnenumläufen direkt dorthin. Ich zahle dir einen Teil der Belohnung, den Rest gibt es bei Abgabe des Briefs. Der Empfänger steht drauf.«

Ohne überhaupt auf mein Einverständnis zu warten, erhob sich mein Gegenüber wieder und schob den Stuhl ordentlich unter den Tisch, bevor er eher beiläufig hinzu fügte: »Du hast eine Woche Zeit. Wenn ich dich in vier Sonnenumläufen noch immer hier herumhängen sehe, bist du tot – und zwar endgültig, verstanden?«

Ich starrte die Gestalt an, während ich zaghaft nickte.

»Gut.« Mit einem letzten Grinsen wandte sie sich um und schritt zielstrebig auf den Ausgang zu, um in die Nacht zu verschwinden.

Verdattert starrte ich die quietschende Tür an, die sich wieder geschlossen hatte. Einen Moment später betrachtete ich den Geldbeutel und die offen daliegenden Münzen, nur um mir der gierigen Blicke einiger Untoter gewahr zu werden, von denen nicht wenige bereits aufstanden und langsam auf mich zukamen. Ohne auch nur eine Sekunde länger zu warten, stopfte ich hastig das Silber und Kupfer in den Lederbeutel zurück, grabschte nach dem Pergament und steckte beides zusammen in meine Hosentasche.

Dann sprang ich auf und rannte los. Augenblicklich kam Bewegung in die Taverne: etliche Rufe, einige davon verächtlich, einige bedrohlich klingend, schallten mir hinterher, und das Trampeln von Füßen auf dem Boden hätte einer attackierenden Armee gehören können. Verzweifelt umrundete ich einige Tische, schlug meine geplante Fluchtroute ein und wich etlichen Händen aus, die Teile meiner rissigen Lederkleidung erhaschten und sie halb zerfetzten, als ich mich losriss. Das Fluchen der Betrogenen wurde noch lauter, sie schrien nach Bier und Geld, alle wirr durcheinander, bis ich mich, endlich bei ihr angekommen, gegen die Tavernentür schmiss, die unter lautem Krachen aus der Verankerung riss und mitsamt mir auf dem Boden landete. Irgendwie schaffte ich es dabei, mich schwungvoll und sogar ein wenig elegant abzurollen, stand nur einen Wimpernschlag später wieder auf den Beinen und rannte weiter. Mein Blick raste panisch die Straße entlang und entdeckte eine Gasse, in die der am Himmel stehende Mond nicht einzudringen vermochte.

Ohne noch länger zu überlegen, bog ich ein und raste an Müllhaufen, verrotteten Holzkisten und quiekenden Ratten vorbei. Kaum dass ich in die nächste Gasse hinein raste, konnte ich hinter mir schon die Meute von besoffenen Leichen vernehmen, die sich an meine Fersen geheftet hatte und das bisschen Geld, das ich bekommen hatte, auch noch an sich reißen wollten. Hastig rannte ich den Weg entlang, bis sich plötzlich vor mir einige alte Kisten aufstapelten, die ihrem Aussehen und dem Moosbewuchs nach schon eine sehr lange Zeit hier standen.

Mit einem weiten Sprung landete ich auf einer von ihnen, ein zweiter Sprung brachte mich bis auf die Spitze. Dann, als ich mich mit dem letzten Sprung zum angrenzenden Dach katapultieren wollte, drang das Brechen und Krachen von splitterndem Holz an mein Ohr. Mit einem leisen Schrei sackte ich einen Fuß ab, bevor ich sprang, halb durch die Luft segelte und meine Fingerspitzen in die uralten Dachziegel vergrub, die unter dem Druck splitterten und auf mich hinab regneten. Verzweifelt krallte ich mich fest, ruderte mit den Füßen, bis ich sie irgendwie gegen die Wand bekam, und kraxelte panisch nach oben. Gerade, als ich mich über den Rand des Daches schwang, konnte ich die lauten Rufe meiner Verfolger vernehmen, wie sie in die Gasse unter mir eindrangen und nach mir suchten. Ich traute mich nicht, auch nur einen einzigen Atemzug zu nehmen, bis ich sie nicht mehr hören konnte. Erst dann wagte ich es, kurz über die Ziegel hinweg nach unten zu schauen.

Die Gasse lag leer und friedlich da, abgesehen von den trügerischen Kisten, die nun beinahe schon zu Staub zerfallen waren. Es schien ein Wunder zu sein, dass sie mich überhaupt so lange hatten tragen können.

So leise wie nur irgendwie möglich setzte ich mich wieder hin und lehnte mich mit einem erleichterten Seufzen zurück. Es war Nacht, und der Mond versteckte sich hinter Wolken, die er nicht zu durchdringen vermochte. Obwohl mich die alles verschlingende Dunkelheit umgab, konnte ich trotzdem ohne Mühe meinen Geldbeutel sehen. Auch die Münzen, die sich darin befanden, blieben kein Geheimnis für mich.

Verärgert steckte ich ihn wieder ein. Dem verdammten Beutel, verbunden mit dem Unbekannten aus der Taverne, und meiner eigenen Verschwiegenheit hatte ich es zu verdanken, dass ich auf einem Hausdach saß, von dem ich mich aus lauter Angst vor den anderen Tavernenbesucher nicht mehr herunter traute. Ich konnte nicht mehr in die Taverne zurück gehen, um herauszufinden, in welcher Richtung dieses Brill eigentlich lag. Ich konnte nicht einmal mehr die Gasse in der gleichen Richtung verlassen, in der ich in sie hinein gerannt war, um mich wenigstens ein bisschen zu orientieren. Einige von den Leichen hatten sich womöglich dort versteckt und hielten Wache, um mich auszurauben, sobald ich dort auftauchte.

Die Stimmen der Untoten, wie sie sich nannten, waren inzwischen zu einem leisen Raunen geworden, das fast nicht mehr bei mir ankam, abgesehen von den Schreien einiger, die auf ihrer Suche nach meiner Börse näher an mein Versteck heran kamen. Trotz der Ruhe traute ich dem Frieden nicht. Meine Verfolger hatten alles stehen und liegen lassen, um an die paar Münzen zu gelangen, die ich mit mir umher trug, und sie würden wohl nicht einfach so wieder aufgeben. Die Belohnung, die ich für meinen Botengang bekam, musste geradezu fürstlich sein, wenn sie so sehr darauf versessen waren.

Nachdem ich mich ein weiteres Mal vergewissert hatte, dass tatsächlich niemand in der Nähe war, krabbelte ich vorsichtig und beinahe lautlos von dem Dach herunter und landete auf der festgetretenen Erde. Reichlich unsicher schaute ich die Gasse auf und ab, bis ich mich entschied, mein Glück in jener Richtung zu suchen, in welche meine Verfolger gerannt waren. Womöglich hatten sie inzwischen doch noch ihre Jagd aufgegeben und waren jetzt auf dem Weg zurück zur Taverne, hoffentlich auf einer breiteren Straße, falls es überhaupt eine gab. In jedem Fall würde es für mich besser sein, so weit wie nur möglich von dem Gasthaus fort zu kommen, anstatt wieder darauf zuzugehen.

Die Gassen schienen kein Ende zu nehmen. Während ich immer weiter in sie vordrang, dachte ich darüber nach, was ich als nächstes tun sollte. Der Auftrag, den man mir in die Hand gedrückt hatte, musste ich wohl oder übel ausführen, oder zumindest aus diesem Dorf voll abartiger und unseliger Kreaturen herausfinden, damit mich mein Auftraggeber nicht aufschlitzen konnte. Womöglich würde es tatsächlich das Beste sein, nach Brill zu gehen – wo auch immer das liegen mochte – und den Brief dort abzugeben, um mir keine weiteren Probleme aufzuhalsen.

Vorsichtig ging ich auf eine Biegung zu, die sich vor mir anbahnte, und spähte um die Ecke. Überrascht trat ich vollständig herum und betrachtete die riesigen, knorrigen Bäume, die vor mir aufragten und ihre kahlen Äste triumphierend dem Himmel entgegen streckten, als wollten sie zeigen, dass sie auch nur mit kärglichem Sonnenlicht und wenigen Blättern zurecht kamen. Die Rinde war von grau-brauner Farbe und sah aus, als wäre sie hart genug, um den tödlichsten Naturgewalten standzuhalten. Bei einigen waren Spuren von Äxten und Beilen zu sehen, die nutzlos gegen das Holz geschlagen und fast keinen Schaden angerichtet hatten. Der Mond, nun endlich zwischen den Wolken hervorgebrochen, schien gütig auf den Ausläufer des Waldes hinab, und sein Licht drang durch die kahlen Kronen bis auf den Boden hinab, wo das altbekannte verdorrte Gras herrschte.

Fasziniert trat ich ein paar Schritte auf die Bäume zu und sah dann abschätzend zurück auf die Siedlung, die ich gerade verlies. Ich hatte den Brief und Geld bei mir, einen Auftrag, und Ärger in dem Dorf hinter mir. Meine Entscheidung, was ich zu tun hatte, stand innerhalb eines Sekundenbruchteils fest.

Mit einem schmalen, verbitterten Lächeln ging ich los und trat unter den Schutz der Bäume, die mich regelrecht zu begrüßen schienen. Ihre Äste knarrten freudig auf und der Wind raschelte leise und geheimnisvoll in den wenigen Blättern, die noch an ihnen hingen. Dann jedoch heulte ein Tier auf, aus weiter Ferne, etwas, das sich zumindest ein wenig wie ein Wolf anhörte, nur viel blutrünstiger und gefährlicher. Was auch immer es war, es zollte wohl dem Mond seinen Tribut und ließ mir die Haare zu Berge stehen.

Als ich das erste Knacken um mich herum wahr nahm, war es schon fast zu spät. Abrupt blieb ich stehen und spähte mit weiten Augen in das Zwielicht zwischen den Bäumen hinein. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ich schleppende Bewegungen ausmachen konnte, die allesamt auf mich zu kamen. Im nächsten Moment erkannte ich auch, was es war: Untote. Langsam dahin schreitende, teilweise kriechende Untote, mit fahlen Gesichtern, leeren Augen und Resten von rohen Fleischbrocken zwischen den blutverschmierten Zähnen. Ihre Hände streckten sich gierig aus, in ihren Mienen regte sich etwas, das schwach an Freude erinnerte.

Voller Entsetzen wich ich zurück. So dumpf und dumm die Wesen auch aussahen, sie erkannten sofort, dass ich mich zur Flucht wandte. Eines von ihnen, das noch alle Gliedmaßen besaß, torkelte augenblicklich auf mich zu, fauchte dabei wie ein wildes Tier und durchschnitt mit seinen klauenartigen Händen die Luft in dem Versuch, mich aufzureißen.

Mehr Überzeugung brauchten meine Beine nicht mehr, um wie von selbst loszurennen. Das Stöhnen, Fauchen und unmenschliche Schreien hinter mir wurde lauter, als sich nicht mehr betrunkene, sondern hungrige Untote an meine Fersen hefteten. Ich erkannte jedoch trotz meiner angsterfüllten Flucht schnell, dass diese wandelnden Leichen bei aller ihrer Raserei und blinden Fresssucht nicht mit einem einzigen Funken Verstand vorgingen. Davon abgesehen, dass keines von den schlurfenden Wesen schneller war als ich, verfolgten sie mich in einem Haufen von sich drängenden und schiebenden Leibern und behinderten sich so gegenseitig, anstatt sich aufzuteilen und mich mit ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit einzufangen. Es dauerte nicht lange, bis die ersten von ihnen, jene ohne Beine, zurück blieben, dann jene ohne Arme und schließlich alle stehen blieben, um mir mit offenen Mäulern und in der Finsternis gespenstisch weiß leuchtenden Augen hinterher zu starren. Im Gegensatz zu ihnen raste ich weiter in den Wald hinein, immer wieder einen raschen Blick über meine Schulter werfend, um mich zu vergewissern, dass sie tatsächlich ihre Verfolgung abgebrochen hatten. Erst, als ich keines der leuchtenden Augenpaare mehr zwischen den mächtigen Baumstämmen hindurch erkennen konnte, traute ich mich, wieder etwas langsamer zu gehen und dabei zu versuchen, so leise wie nur irgendwie möglich voran zu kommen. Ich hatte zumindest etwas dazugelernt: Ab sofort hielt ich meinen Blick immer erhoben und nie nur auf den Boden gerichtet, spitzte meine Ohren und zuckte bei jedem Geräusch panisch zusammen, sofort bereit, eine erneute Flucht anzutreten.

Je weiter ich kam, desto mächtiger wurden die Bäume. Sie waren riesig, groß genug, um ein ganzes Boot aus einem einzigen, ausgehöhlten Stamm zu fertigen. Die Rinde bestand aus verschiedenen, anormal großen Segmenten, die sich aneinander fügten und nur durch hauchfeine Risse voneinander zu unterscheiden waren. Ich stellte mir vor, wie eine Axt beinahe wirkungslos auf eines dieser Segmente traf, und überlegte mir gleich darauf, ob sich aus einem der Rindenteile nicht auch ein Schild basteln ließe. Die nächste Zeit meiner Wanderung verbrachte ich damit, den Boden nach einem passenden Stück abzusuchen. Meine Suche war schließlich von Erfolg gekrönt, als ich ein etwa armlanges, unförmiges Rindenstück aufsammelte und es abschätzend betrachtete. Es war beinahe federleicht, doch schien sehr widerstandsfähig zu sein, wie ich es bisher von den Bäumen gesehen hatte. Ich legte eine kleine Rast ein, setzte mich mit dem Rücken an einen der Bäume und verbrachte meine Zeit damit, von meiner Lederrüstung einen halb weghängenden Streifen abzureißen und ihn irgendwie an der Innenseite meines Rindenschilds zu befestigen. Enttäuscht stelle ich fest, dass diese Arbeit nicht ohne weiteres vonstatten gehen würde, solange ich kein Werkzeug hatte, um wenigstens ein Loch in den Schild zu bohren.

Ein kurzes, leises Stöhnen direkt neben meinem Ohr ließ mich erstarren. Langsam wandte ich meinen Kopf und blickte in das ausdruckslose Gesicht eines der Untoten, die mich vorhin verfolgt hatten. Der faulige Atem aus seinem Mund war selbst von meiner Nase noch wahrnehmbar, und die Augen waren leere, weiße Flächen, die sich dort hingesetzt hatten, wo vorher Augäpfel gewesen waren.

Dann, ohne irgendeine Vorwarnung, riss er sein Maul auf und sprang nach vorne, als wollte er mein Gesicht abbeißen. Vor Panik schreiend streckte ich meine Arme schützend vor mich und erwischte tatsächlich den Kopf des Untoten, der wütend zuschnappte und mit ungeheurer Kraft versuchte, seine faulenden Zähne in mein Fleisch zu versenken.

Mit einem weiteren Ruck kam mir das abscheuliche Mundwerk so nahe, dass ich die Maden sehen konnte, die sich durch die Zunge der vermodernden Leiche bohrten. Voller Angst verschloss ich die Augen, innerlich bereit, gleich ungeheure Schmerzen zu verspüren, wenn sich das Wesen über meinen Körper hermachte.

Ein blaues, alles überstrahlendes Leuchten drang mit einem Schlag durch meine Augenlider hindurch. Das Schnappen und Schnaufen des Untoten verstummte, ebenso wie sein Druck gegen meine Hand. Im nächsten Moment hörte ich einen dumpfen Aufschlag, und das Licht verschwand so plötzlich, wie es gekommen war.

Zögerlich, voller Ungewissheit, was gerade geschehen war, öffnete ich die Augen.

Der Untote lag, Arme und Beine von sich gestreckt, vor mir auf dem Boden. Schwarze Höhlen starrten gen Himmel, das Maul war noch immer halb geöffnet, bewegte sich jetzt jedoch nicht mehr. Nicht ein einziges Zucken ging von dem Leichnam aus, der mich gerade noch hatte verspeisen wollen. Die Klauenhände waren verkrampft und zu Fäusten geballt, so sehr, dass sich die spitzen Finger in das Fleisch gebohrt hatten und ein dunkler, ekelerregender Saft aus den Wunden hervor quoll.

Gleichzeitig fühlte ich mich wundersam erfrischt, als wären meine Kräfte wiederhergestellt. Obwohl ich weder Durst noch Hunger spürte, waren meine Beine doch langsamer geworden und jeder Schritt etwas beschwerlicher, auch wenn ich keine Schmerzen spürte. Jetzt jedoch fühlte ich mich geradezu wie neu geboren.

Mein Hochgefühl verschwand gleich wieder, als ich einen weiteren Blick auf das nun endgültig tote Wesen warf. Wo eines von ihnen war, konnten andere nicht weit sein. Hastig sprang ich auf und wollte schon loslaufen, als mir der rostzerfressene Dolch auffiel, den der Untote an einem alten, vermodernden Gürtel trug. Ohne noch lange zu überlegen, schnappte ich ihn mir und rannte dann, so schnell mich meine Füße trugen, tiefer in den Wald hinein.
 
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Da haste aber erstmal alles umgekrempelt was?
na dann auf ein neues!
 
ahja.. es geht also wieder los/weiter.. whatever..
na schaun wir mal wie lang es diesmal wird bevor du überarbeitest
 
Sorry, dass es so lange gedauert hat... Erster Monat Arbeit hat mehr geschlaucht als gedacht, und als das Kapitel endlich fertig war, ist unser Internet in den Streik getreten.

@Albra: Ich glaube da ein wenig Enttäuschung rauszuhören. Verständlich, aber wenn Du eine Geschichte schreibst, mit der Du mehr und mehr unzufrieden bist, bis zu einem Punkt, an dem Du einfach nicht mehr weitermachen willst - ich glaube, Du hättest dich ähnlich entschieden wie ich.

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Kapitel 2 – Die Reise nach Brill

Einige Stunden mussten vergangen sein, seitdem ich der Kreatur entronnen war. Ich zitterte noch immer ein wenig, wenn ich nur an das Mundwerk dachte, das sich beinahe in mich verbissen hätte, aber dennoch schaffte ich es irgendwie, mich soweit zu beruhigen, dass ich ruhigen Schrittes durch den Wald ging. Ein rascher Trab bedeutete Unachtsamkeit und unnötige Geräusche, und das bedeutete, dass ich wie ein dummer Trottel auf mich aufmerksam machte. Ich konnte nicht sagen, woher ich das wusste, aber es schien mir recht einleuchtend zu sein.

Worüber ich mich noch immer wunderte, war meine neu erweckten Lebenskräfte, die mich aufmerksam werden ließen, kraftvoll und voller Elan. Ich konnte mir keinen Reim aus ihnen machen, wusste nicht, woher sie kamen, und auch nicht, was es für ein blaues Licht gewesen war, das mich gerettet hatte.

Ab und an lichteten sich die Bäume zu einer kleinen Lichtung, in der meistens praktisch nichts stand und die nur von verdorrtem Gras bewachsen war. Einmal schlängelte sich ein kleiner Bach voll trüben, schlierigen Wassers vorbei, das alles andere als genießbar aussah. Tiere ließen sich nicht blicken, als hätten sie Angst davor, nachts heraus zu kommen, oder als gäbe es schlichtweg keine. Der gesamte Wald war inzwischen von einer gespenstischen Stille erfüllt, die nur von den Geräuschen meiner vorsichtigen Schritte unterbrochen wurden. Auch der typische Geruch von feuchter Erde und Moos hatte deutlich nachgelassen. Er war nicht weg, aber schien sich mit jedem Schritt, den ich weiter ging, zu verändern.

Irgendwann, als ich wieder einmal auf einer Lichtung angekommen war und freien Blick auf den Himmel hatte, fiel mir auf, dass der Mond verschwunden war und es über den Baumwipfeln langsam heller wurde. Erste Sonnenstrahlen drangen nur zaghaft durch die giftgrünen Wolken, als trauten sie sich nicht so recht, auf die Erde zu scheinen. Ich kümmerte mich nicht weiter darum und versuchte stattdessen, einen Weg in dem Wald ausfindig zu machen. Während meiner Wanderung war ich zwar des Öfteren auf alten Pfaden gelandet, aber allesamt waren überwuchert und verwachsen gewesen. Nach dem, was ich über die Stadt Brill erfahren hatte, musste sie jedoch einigermaßen gut besucht sein, und somit schieden diese Wege allesamt wieder aus.

Die Sonne war bereits bis zum Zenit gestiegen, als ich endlich auf eine Straße traf, die keinen aufgegebenen Eindruck machte. Stattdessen wies der festgetretene Boden regen Gebrauch auf, was ich nicht zuletzt an eingebrannten Hufformen und unförmige Fußspuren, vielleicht dreimal so groß wie meine, erkannte. Ich war beim Anblick dieser Spuren eine Weile lang versucht, mich erneut ins Unterholz zu schlagen, verwarf den Gedanken dann aber wieder. Falls ich den verdammten Brief abliefern wollte, würde ich wohl oder übel der Straße folgen müssen. Brill musste die nächste größere Ortschaft sein, und ich hielt es für sehr wahrscheinlich, dass der Weg sogar direkt dorthin führte. Solch eine Chance konnte ich mir nicht entgehen lassen.

Allerdings verdreifachte ich auch meine Vorsicht. Ich warf in unregelmäßigen Abständen Blicke über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass ich noch immer alleine war. Ich hielt den rostigen Dolch, meine einzige Waffe, immer griffbereit, auch wenn ich nicht vorhatte, ihn einzusetzen. All meine Muskeln waren angespannt, damit ich beim kleinsten Anzeichen von Gefahr wie ein verschrecktes Kaninchen fliehen konnte.

Nach einiger Zeit, in der nichts geschah und ich bei jedem knackenden Ast mit riesigen, angsterfüllten Augen herumwirbelte, nur um die Straße und die Bäume zu sehen, fing ich an, mich wieder ein wenig zu entspannen. Wo auch immer der hirnlose Untote hergekommen war, das Gebiet musste schon etliche Meilen hinter mir liegen. Von wilden Tieren gab es keine Spur, auch wenn ich sie immer wieder hören konnte und glaubte, einige von ihnen zwischen Gebüschen und Sträuchern hin und her hetzen zu sehen. In jedem Fall schienen sie nicht auf eine Konfrontation aus zu sein, und das alleine war genug, um mich zufrieden zu stellen.

Ich stellte schnell fest, dass mir Dinge wie Müdigkeit, Hunger, Durst und ständige Schweigsamkeit nicht mehr viel anzuhaben vermochten. Mein Magen knurrte nicht, meine Zunge wurde weder taub noch klebte sie an meinem Gaumen, meine Augen huschten noch immer so wachsam wie zu Beginn meiner Wanderschaft von einem Straßenrand zum anderen, und die Stille schien eher angenehm, als dass sie mir aufs Gemüt geschlagen hätte. Obwohl stets ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend blieb und ich den Eindruck hatte, als wäre die Natur um mich herum krank und im Sterben liegend, gefiel sie mir doch, vielleicht gerade wegen ihrer unheimlichen Stille. Je mehr ich darüber nachdachte, desto schöner kamen mir die sich windenden und in den Himmel streckenden Bäume vor, obwohl sie oftmals kahl waren oder nur von aschfahlen Blättern bedeckt wurden. Je mehr ich einen Blick auf die manchmal rissige, meistens von gräulichem Gras bedeckte Erde warf, desto verbundener fühlte ich mich ihr gegenüber.

Nach einer Weile, in der die Sonne sich bereits wieder dem Zenit entgegen neigte, kramte ich in einem Anflug von Neugier den Brief hervor und betrachtete ihn eingehend. Der Umschlag war vollkommen schmucklos aus billigem Pergament gefertigt, und ich hegte keinen Zweifel daran, dass das Gleiche auf den Inhalt zutraf. Die Worte waren mit irgendeiner Tinte geschrieben worden, von der ich in dem schwächer werdenden Licht nicht ausmachen konnte, ob es sich tatsächlich um Tinte oder nicht vielleicht doch um etwas anderes handelte. Sie war von winzigen Rissen durchzogen und sah aus, als würde sie bald abblättern. Vielleicht war auch das der Grund gewesen, warum ich mich so beeilen musste. Andererseits hätte dann auch mein Auftraggeber den Brief selbst überbringen können. Wie ich es auch drehte und wendete, der gefährliche Botengang wollte keinen rechten Sinn ergeben, zumal dann nicht, wenn der Brief tatsächlich heil ankommen sollte. Man drückte ein wichtiges Dokument nicht einfach in die Hände eines wildfremden… Untoten, von dessen Fähigkeiten man nichts wusste.

Etwas in mir schien zufrieden zu nicken, doch das Gefühl verflog wieder so schnell, wie es gekommen war.

Als die Nacht über mich hereinbrach, fing auch wieder das Heulen der Wölfe an. Es stammte jedoch nicht von normalen Wölfen, dessen war ich mir sicher. Auch wenn ich nicht sagen konnte, wer ich war, schienen doch einige Dinge in mir verhaftet geblieben zu sein, etwa die Sprache, mit der ich mich mit den anderen Untoten hatte unterhalten können. Diese Wesen klangen nicht wie die freiheitsliebenden Tiere, an die ich mich erinnerte. Sie klangen gequält und wütend, voller Lust auf Blut und Tod. Zu meiner unendlichen Erleichterung kamen ihre langgezogenen Rufe immer von weit her zu mir, sie hielten sich also nicht in meiner unmittelbaren Nähe auf. Jedes Mal, wenn sie doch ein wenig näher zu kommen schienen, rasten meine Augen von Baumstamm zu Baumstamm, und obwohl finstere Nacht herrschte, vermochte ich doch die Dunkelheit mit meinem Blick zu durchdringen, zumindest gut genug, um schemenhafte Schatten auszumachen. Allerdings handelte es sich bei ihnen stets nur um im sanften Wind raschelnde Gebüsche, die in meiner Fantasie schnell die Formen von blutrünstigen Bestien annahmen.

Plötzlich stach ein rot leuchtendes Augenpaar zwischen den Blättern hervor. Als wäre mein Körper in Stein verwandelt worden, blieb ich abrupt stehen. Die Augen fixierten mich, wurden für einen Moment zu winzigen Schlitzen, bevor das Wesen lauthals knurrend und kläffend aus den Zweigen hervor brach und auf mich zustürzte.

Schreiend vor Angst wirbelte ich herum, raste auf den nächstbesten Baum zu, sprang ab, bekam einen tief hängenden Ast zu fassen und zog mich innerhalb eines Zwinkerns an ihm hinauf, nur um einige weitere Äste zu erklimmen. Das Tier sprang ebenso wie ich ab, segelte halb durch die Luft und verbiss sich dann in den Ast, dort, wo gerade eben noch mein Fuß gewesen war. Als es bemerkte, dass es sein eigentliches Ziel verfehlt hatte, ließ es los, rannte wie von Sinnen um den Baum herum, kratzte an der harten Rinde und ließ mich nicht eine Sekunde aus den Augen.

Mein Atem ging schwer, obwohl ich keinerlei Erschöpfung spürte. Vielleicht war es ein Mittel, um meiner Angst Herr zu werden, denn je schneller und schwerer ich atmete, desto ruhiger schien ich zu werden. Irgendwann, als das Knurren und Kratzen noch immer nicht nachließ, hatte ich mich wieder soweit unter Kontrolle, dass ich einige klare Gedanken fassten konnte. Einen Fuß auf die Erde zu setzen, solange der Bastard-Wolf dort unten auf mich wartete, war unmöglich. Ich hatte aber nur meinen rostigen Dolch, mit dem ich mich hätte verteidigen können, und ich wusste noch nicht einmal, wie man richtig damit umging. Bei der Hast, in die ich jedes Mal ausbrach, wenn etwas Gefährliches auf mich zukam, hatte ich mehr Angst davor, mich selbst zu verletzen, als Hoffnung darauf, meinen Feind zu vertreiben.

Nach einigen Sekunden bemerkte ich, dass meine Hand leer war. Voller Entsetzen starrte ich auf die knöchernen Finger, öffnete und schloss sie immer wieder, nur um das Fehlen des kleinen Messers zu erkennen. Hastig suchte ich einen festen Halt, beugte mich ein wenig nach vorne und starrte angestrengt in die Dunkelheit um die Baumwurzeln herum. Das wolfsähnliche Wesen rannte gerade ein weiteres Mal unter mir vorbei, jaulte dann aber lautstark auf, als es in die rostige, am Boden liegende Klinge trat. Vor irrsinniger Wut schnaubend, packte das Tier die Waffe mit seinen Zähnen, kaute zuerst darauf herum, bis es das Messer in einem weiten Bogen in die Finsternis warf.

Die rot leuchtenden Augen bohrten sich direkt in die meinen, gerade, als ich dabei war, nach unten zu klettern und zu fliehen, während das Wesen abgelenkt war. Ich erstarrte mitten in der Bewegung, unfähig, meinen Blick abzuwenden. Fast schien es, als wüsste das Tier, dass es gerade in meinen Dolch getreten war. Ein tiefes Grollen drang aus der Kehle des Hundes, und anstatt wieder um den Baum herumzurennen, legte er sich direkt davor und starrte mich mit einem hasserfüllten, angsterregenden Blick an.

Ohne lange darüber nachzudenken, kletterte ich hastig wieder den Baum hinauf und setzte mich auf einen starken Ast, der mein Gewicht problemlos tragen konnte. Die wenigen Sekunden, in denen meine Flucht womöglich gelückt hätte, waren vergangen. Stattdessen beobachtete mich die Bestie jetzt wie ein Schießhund und verfolgte jede meiner Bewegungen.

Verzweifelt versuchte ich, den Hund abzulenken, indem ich einige kleine Äste abbrach und weit in das Gebüsch schleuderte. Als ein Wurf missglückte und der Ast von den Blättern meines eigenen Baumes abgefangen wurde, fiel er dem Wesen direkt auf den Schädel. Aber anstatt erschrocken aufzuspringen und jaulend das Weite zu suchen, verengten sich nur die blutrünstigen roten Augen zu kleinen Schlitzen, und das tiefe Grollen drang wieder bis zu mir hoch.

Allerdings wurde es dieses Mal erwidert.

Die Stimme, die aus der Finsternis drang, klang nicht wie die eines Tieres, sondern fast schon menschlich, wenn auch viel grobschlächtiger und brutaler als alles, was ich jemals gehört hatte. Angst machte sich erneut in mir breit, soweit sie nicht schon von mir Besitz ergriffen hatte; aber selbst der Hund schien nervös zu werden, denn er stand zögerlich auf und schnüffelte in der Luft herum, um dann versuchsweise ein weiteres Mal zu knurren.

Wie aus dem Nichts brachen Büsche auseinander, und eine riesenhafte Gestalt walzte auf den Baum zu. In der Dunkelheit konnte ich nicht viel erkennen, aber der Kopf des Angreifers schien geradezu winzig im Gegensatz zum Körper zu sein. Arme, so dick wie junge Baumstämme, streckten sich nach dem Bastard-Wolf aus, der jaulend die Flucht ergreifen wollte, den Fängen jedoch nicht mehr entkam. Kaum dass der Riese das Tier gepackt hatte, krachte es mit voller Wucht gegen meinen Baum, und während ich mich noch an den Ästen festklammerte, hörte ich schockiert, wie das Holz erst wehleidig knarzte, dann brach und sich schließlich mein Hochposten zur Seite neigte. Mit einem verzweifelten Sprung katapultierte ich mich selbst ins Gras, landete dumpf auf dem Bauch, wobei meine Knochen genauso knirschten wie vorher das Holz, und spürte dann das Beben der Erde, als der mächtige Stamm aufschlug.

Die Schmerzen, die ich verspürte, hielten sich in Grenzen, und nichts schien gebrochen zu sein. So schnell ich konnte, rappelte ich mich auf und schaffte es sogar, mich der neuen Gefahr zuzuwenden.

Ich drehte mich gerade rechtzeitig um, um zu verfolgen, wie das Wesen den winselnden und jaulenden Hund nach oben hob und ihn dann, von einem Grunzen begleitet, gegen den nächsten Baumstamm warf. Das Krachen und Splittern der Knochen musste noch eine Meile weit zu hören gewesen sein, und der Bastard-Wolf verstummte abrupt und blieb als Haufen aus Fell und Fleisch liegen.

Ich hatte genug gesehen. Ohne noch eine Sekunde länger zu zögern, wirbelte ich herum und rannte los.

»Warten!«

Ich konnte spüren, wie sich meine Gesichtszüge durch Angst und Überraschung zu einer Grimasse verzogen. Meine Schritte wurden zögerlich langsamer, bis ich den umgestürzten Baum erreicht hatte. Die Zurschaustellung der Macht des unbekannten Riesen, die vor mir lag, ließ mich meinen Fluchtplan noch einmal überdenken. Ich sprang behände ab und bekam einen Ast zu greifen, an dem ich mich auf den Stamm hochziehen konnte. Dort kauerte ich mich nieder, bereit, umgehend auf die andere Seite und in Sicherheit zu springen, falls ich doch noch davonlaufen musste.

Das fremdartige Ungetüm war inzwischen näher gekommen, und ich konnte die Konturen allmählich besser wahrnehmen. Was auch immer es war, es schien von Menschenhand geschaffen zu sein. Nähte zogen sich über den gesamten, unförmigen Körper, der aus mehreren zufällig ausgewählten Leichenteilen bestand. Neben den beiden mächtigen Armen, die den Wolf mühelos umher geschleudert hatten, schaute noch ein dritter vom Rücken hervor, der bei weitem zierlicher war, allerdings eine scharfe und bösartig aussehende Sichel in der Hand hielt. Der Kopf des Monsters war klein, rund und kahl, und je näher es kam, desto besser konnte ich den unförmigen, breiten Mund und die winzigen Schweinsäuglein erkennen, die mich seltsamerweise mit einer mir unbekannten Vertrautheit anschauten. Selbst das Maul, von stumpfen Zähnen bewehrt, die wahrscheinlich jeden Knochen brechen konnten, verzog sich zu einem breiten, hässlichen Grinsen.

»Du haben Hilfe gebraucht, kleiner Mann. Gordo deshalb gekommen, um zu helfen. Kleiner Mann jetzt in Sicherheit.«

Ich brauchte einige Momente, um zu verstehen, was das Wesen mir da erklärte. Es war nicht so, als wären die Worte allzu schwer zu verstehen gewesen, obwohl sie aus einem zusammengeflickten Mund kamen, der nicht mehr seinem eigentlichen Besitzer gehörte. »Heißt das, du wolltest mich beschützen?«

Mit einem dümmlichen Lächeln nickte der Riese eifrig. »Gordo sein Beschützer der Pfade von Tirisfal. Eigentlich Beschützer von Undercity, aber Gordo hat Auftrag bekommen. Gordo kann Auftrag nicht ausführen, weil Gordos Hände viel zu groß, um kleine Kräuter zu sammeln.«

Auch wenn ich mir noch nicht vollkommen sicher war, so schien von der dümmlichen Gestalt mir gegenüber keinerlei Gefahr auszugehen, sondern eher das Gegenteil. »Was sind das für Kräuter?«, fragte ich vorsichtig nach.

Gordo schaute mich daraufhin mit großen, freudigen Augen an. »Kleiner Mann helfen Gordo zu pflücken Kräuter? Gordo sehr dankbar!«

Ich blinzelte den Fleischberg ein paar Mal an, bevor ich nicht anders konnte, als zu lächeln. So brutal und vernichtend das Wesen im Kampf auch gewesen war, umso mehr kam es mir jetzt wie ein kleines, unbeholfenes Kind vor, das einfach nur seine Sache richtig machen wollte. In gewisser Weise erinnerte es mich sogar ein wenig an mich selbst.

»Ich muss nach Brill, Gordo. Glaubst du, du kannst mich dorthin führen, wenn wir deine Kräuter gesammelt haben?«

»Brill auf dem Weg!«, brüllte die Monstrosität fröhlich heraus. »Kräuter überall am Weg! Komm, kleiner Mann, Gordo dich führen!« Und mit diesen Worten drehte sich das Ungetüm um und walzte den Weg zurück, den es gekommen war. Ich warf noch einen letzten Blick in den Wald hinein, der mir jetzt mehr denn je bedrohlich vorkam und den ich um alles in der Welt umgehen wollte, bevor ich von dem Stamm herunter sprang und dem Wesen folgte.

Zu meiner Überraschung landeten wir nach ein paar Schritten auf einer mit alten Pflastersteinen ausgelegten Straße. Moos wuchs über etliche der kleinen Quader, und nicht wenige von ihnen fehlten und hinterließen Löcher, in denen sich ein Pferd die Beine brechen konnte. Eingebrannte Hufspuren im Gras neben der Straße zeugten davon, dass ich nicht der erste war, der darüber nachdachte. Andererseits konnte ich mir kein Pferd vorstellen, dessen Hufe solche Spuren hinterließen.

Gordo wartete geduldig auf mich, und erst, als ich neben ihm auf der Straße stand, setzte er sich gemächlich in Bewegung. »Du müssen Augen haben auf Wegrand«, erklärte er mir ernst und betrachtete dabei selbst das Gras um uns herum. »Kräuter da wachsen. Sie leicht zu erkennen. Da!«

Sein massiger Arm streckte sich aus und deutete auf eine Pflanze, die sich vom Gras durch die gezackte Form ihrer Blätter und der satten grünen Farbe abhob. Tatsächlich stellte sie einen der wenigen grünen Fleck dar, den es hier zu geben schien.

Erst, nachdem ich mich ein paar Mal umgesehen hatte und mir sicher sein konnte, dass kein weiterer Wolf in der Nähe darauf wartete, mich zerfleischen zu können, ging ich raschen Schrittes hinüber, riss das Gewächs mitsamt den Wurzeln aus dem Boden und huschte dann wieder zu Gordo zurück. Dieser nahm die Pflanze freudestrahlend in Empfang. »Gute Arbeit, kleiner Mann. Du bestimmt bekommen Belohnung, genauso wie Gordo!«

»Wer hat dir überhaupt den Auftrag gegeben, Gordo?«, fragte ich ihn neugierig, als wir weiter gingen. »Wer auch immer es war, muss doch wissen, dass deine Hände zu groß für solche Aufgaben sind.«

Gordo schaute mich für einen Moment dümmlich an, lachte dann und erwiderte: »Jungapotheker Holland immer brauchen Düsterkraut für Experimente. Und Jungapotheker Holland wissen, dass Gordo holen Kräuter, also Gordo losgeschickt.«

Ich nickte mit einem Lächeln und wurde dabei den Eindruck nicht los, dass dieses Ungetüm tatsächlich nur ein kleines Kind war – allerdings eines mit ungeheuren Armen und einer unheiligen Kraft. Zumindest stand es auf meiner Seite, und somit musste ich mir wohl keine Sorgen machen. Die Leidtragenden waren wohl vielmehr die Wölfe, die sich an meinem neuen Beschützer die Zähne ausbeißen würden.

Wir folgten weiter dem Weg und stoppten nur ab und an, um ein Bündel des Krautes auszugraben, das Gordo mit seinen scharfen Augen erblickte und dann in eine winzig anmutende Hängetasche packte, die er um den Hals trug. Wir unterhielten uns dabei ein wenig, und ich erfuhr, dass er eine Monstrosität war, ein Ungetüm erschaffen von Nekromanten und Untoten zum Schutz ihrer Städte. Ich zweifelte nicht daran, dass diese Wachen gute Arbeit leisteten, sobald man ihnen erst einmal eingebläut hatte, was sie zu tun hatten. Ich versuchte auch, ihn ein wenig über Brill auszufragen, und stellte erstaunt fest, dass dieses dümmlich anmutende Wesen über ein ausgezeichnetes Gedächtnis verfügte. Er konnte mir alle wichtigen Persönlichkeiten des Dorfes nennen, etwa den Magistrat Sevren, den Bürgermeister, oder Morganus, den Stallmeister, der die Schattenrösser betreute. Außerdem nannte er mir noch eine Vielzahl von Verkäufern und Lehrern, die mich in allen möglichen Arten der Kampfkunst auszubilden vermochten, fügte aber hinzu, dass ich selbst wissen müsste, was ich könne. »Magier nicht sein Krieger, und Krieger nicht sein Magier«, sagte er dazu und grinste mich dabei breit an.

»Und woher soll ich wissen, was ich bin?«, fragte ich Gordo mit zweifelndem Blick.

»Gordo nicht wissen«, entgegnete er mir mit einer überraschten Miene. »Untote wissen, was sie waren, bevor untot geworden. Du nicht wissen?«

Ich schüttelte nur den Kopf. Gordo betrachtete mich noch ein wenig, bevor er nur mit seinen massigen Schultern zuckte und fröhlich meinte: »Magistrat Sevren helfen. Er guter Untoter. Sehr griesgrämig, aber guter Untoter.«

»Ich habe das Gefühl, dass alle Untoten sehr griesgrämig sind, Gordo. Ich bin noch keinem begegnet, der es nicht gewesen wäre.« Mit einigem Unmut erinnerte ich mich an das Schauspiel in der Taverne, das noch keinen Tag zurück lag.

Gordo hingegen lachte zustimmend. »Du vielleicht haben Recht, kleiner Mann. Untoten sehr griesgrämig. Du erster sein, der zusammen mit Gordo lachen!«

Ich konnte mir ein breites Grinsen nicht verkneifen. Gordo schien doch nicht so dumm zu sein, wie ich am Anfang gedacht hatte.

Nach einigen Stunden fing es zu dämmern an. Die Sonne, die ich wage als helles, goldenes Licht in Erinnerung hatte, ging düster und nur zögerlich auf. Ihr Licht war weder golden noch hell, sondern hatte eine ungesunde Farbe und drang kaum durch die grünlichen Nebelschwaden, die wie dichte Wolken über dem Land zu hängen schienen. Die Monstosität nickte nur, als ich sie darauf ansprach. »Schon lange so sein. Tirisfal von Seuche befallen. Alles tot. Schön«, fügte sie noch mit einem Lächeln hinzu, das einer Grimasse gleichkam, doch ich verstand, was sie meinte. Ich fühlte mich den geknickten Bäumen verbunden, ebenso wie der trockenen, stellenweise kahlen Erde. Das Land schien zu sterben, und doch zu einer neuen Art von Leben zu erwachen.

Der Weg wurde allmählich besser befestigt. Wo vorher noch vereinzelt Steine gefehlt hatten, lag das Kopfsteinpflaster nun makellos vor unseren Füßen, und wo vereinzelt noch Moos zu sehen war, stellte es keinen Vergleich mehr zu den teils überwucherten Wegen von vorher dar. Gordo deutete nach vorne und zeigte auf einige flackernde Punkte in der Ferne. »Brill.«

Ich nickte stumm, aber auch mit einer gewissen Erleichterung. Der Wald um uns herum war lichter geworden und fing an, sich weiter auszudünnen, je näher wir dem Dorf kamen. Je weniger Bäume um uns herum standen, desto sicherer fühlte ich mich, da sich keine der Höllenhunde mehr in den Schatten verstecken konnten, ohne gesehen zu werden. Ab und an kam drang noch von weiten ein langgezogenes Heulen an unsere Ohren, allerdings nichts, was auch nur annähernd nahe geklungen hätte. Ich hatte wohl meine Reise unbeschadet überstanden.

Plötzlich blieb Gordo neben mir stehen und schaute mich ernst an. »Ich wieder umdrehen«, brummte er und hob dabei die Hängetasche über den Kopf. »Du nehmen Kräuter und bringen sie Jungapotheker Holland.«

Ich ergriff den Riemen der Tasche, als das Ungetüm sie mir reichte. »Und du?«

»Ich zurück gehen und weiter sammeln. Jungapotheker Holland immer brauchen Kräuter.« Gordo wandte sich um und stampfte den Weg zurück, den wir gekommen waren, bis er noch einmal stehen blieb und mich mit seinem schiefen, unförmigen Mund und den Schweinsäuglein ansah. »Schön gewesen, kennenzulernen.«

»Die Freude lag ganz auf meiner Seite.«

»Du bringen Kräuter Jungapotheker Holland, dann ich dich nicht müssen töten.«

Mit diesen Worten stampfte das Ungetüm weiter und ließ mich teils verwirrt, teils entsetzt und seltsamerweise auch ein bisschen belustigt zurück.
 
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Bis jetzt eine schöne Geschichte. Ich freue mich schon auf das nächste Kapitel.
 
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jaaa ne enttäuscht nicht nur stellt sich die frage wie lang es diesmal braucht bis du merkst das du den roten faden wieder verlierst

und ähm ich werde mich hüten eine vermurkste geschichte zu überarbeiten davon ab hab ich gaar keine zeit für geschichtenschreiben ^^

aber ich muss sagen.. ich erkenne gewisse unterschiede zum ersten teil diese hier lehnt sich mehr an das precata-startgebiet der untoten an als das original
aber blümchen muss man glaube immernoch sammeln... und es sind immernoch die falschen ^^"
 
Irgendwann geht's immer weiter... und ja, ich hätte sehr viel früher schreiben können und müssen. In letzter Zeit habe ich einfach einen gewissen Durchhänger, aber vielleicht ist der ja mit diesem Kapitel endlich vorbei?

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Kapitel 3 – Ein Haufen Toter und eine Verrückte

Gordo war schon längst von den Bäumen verschluckt worden, als ich bei den stellenweise verbogenen Zäunen ankam, die den Anfang von Brill darstellten. Hinter ihnen reckten sich vereinzelt Statuen in die Höhe, manche ohne Köpfe oder Arme, andere nur mit kleinen Makeln wie einer fehlenden Nase. Sie alle hatten dramatische Posen angenommen, die Hände flehend gen Himmel gestreckt oder das Haupt voller Trauer und Bedauern gesenkt. Die meisten Besitzer der restlichen Gräber hingegen hatten sich mit einfachen Grabsteinen begnügen müssen, anstatt noch im Tod solchen Prunk zur Schau stellen zu können.

Über dem Friedhof lag eine gespenstische Stille. Nicht allzu weit entfernt konnte ich eine Gestalt über die moosbewachsenen Wege wandeln sehen. Sie ging langsam, geradezu träge, wie ein Geist, der zwischen den Überbleibseln längst Verstorbener hindurch schwebte.

Ich sah mich noch einmal um. Die Straße führte weiter zu den ersten Häusern, die vielleicht fünfzig Schritte entfernt sein mochten. Nirgends war auch nur eine Menschenseele zu sehen, und nicht einmal solche, die es einst gewesen waren. Das einzige wandelnde Geschöpf, das ich erblickte, war der Trauernde auf dem Friedhof.

Zögerlich trat ich durch eine Öffnung im Zaun, huschte zwischen den Gräbern hindurch und auf einen der Wege. Die Steine unter meinen Füßen fühlten sich bedeutend besser an als die feuchte und schlammige Erde, deren Reste ich jetzt auf dem Weg verlor. Bei jedem Grab, an dem ich vorbei gekommen war, hatte ich für einen Moment erwartet, dass plötzlich eine Hand hervorbrechen und mich packen würde. Es hätte wunderbar zu dem gepasst, was ich unterhalb der Gruften gesehen hatte, als ich erwacht und an die Oberfläche gestiegen war.

Die wandelnde Gestalt hatte sich zu einem kleinen, runden Platz zurück gezogen. Mosaike bedeckten den Boden, wenn auch einige Steine fehlten und die Farben ausgeblichen waren. Verdorrte Pflanzen rangelten sich an Stützen hinauf, die kunstvoll nach innen schwangen und sich in der Mitte des Platzes trafen. Als die Natur noch Kraft hatte, musste es ein Haus voller Blumen und deren Duft gewesen sein. Jetzt jedoch stachen nur Dornen hervor, als wollten die Pflanzen ihr altes Reich verteidigen, so gut es ihnen noch gelang.

Vorsichtig betrat ich den Platz und betrachtete eingehend meinen Gegenüber. Er hatte seine Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, dass man nichts erkennen konnte. Allerdings ließ er seine knöchernen Hände gefaltet auf seinen Knien ruhen. Die bleiche Hautfarbe und die Knochenspitze eines Fingers, die aus dem Fleisch hervor lugte, verrieten seine untote Herkunft.

»Entschuldigt bitte, aber ich suche den Jungapotheker Holland.«

Die Kapuze drehte sich zu mir, auch wenn das Gesicht in der Schwärze darunter verborgen blieb, abgesehen von zwei leuchtend gelben Augen. »Warum, wenn ich fragen darf?«

»Ich habe Kräuter für ihn.«

Die Hände entfalteten sich und schoben die Kapuze nach hinten. Darunter kam eine entstellte Fratze zum Vorschein, eingefallen und abgemagert. Der Untote verzog seinen Mund, welcher weder von Haut noch Fleisch bedeckt wurde. »Eigentlich sollte das Gordo für mich erledigen. Hat er dich geschickt?«

Ich wich bei dem Anblick erschrocken einen Schritt zurück. »Ihr seid…«

»Jungapotheker Holland. Rede nicht lange herum, ich habe keine Zeit dafür. Hat Gordo dich geschickt?«

»Ja. Ich soll Euch diese Kräuter…«

Ich hatte die Tasche noch nicht einmal ganz von meinen Schultern herunter genommen, als Holland auch schon aufgestanden war, sie mir aus der Hand und dabei fast meinen halben Arm mit abriss. Voll unterdrückter Wut und mit knirschenden Zähnen griff er hinein, zog einige der Kräuter hinaus, die ich gesammelt hatte, und warf sie noch in derselben Bewegung auf den Boden. »Düsterkraut! Ich wusste es, schon wieder Düsterkraut! Dieser trottelige Fleischberg zupft Blumen und bei der Bansheekönigin, er schafft es auch noch, lauter Tölpel wie dich zu überzeugen, ihm zu helfen!«

Die Tasche landete inmitten der Kräuter auf dem schmutzigen Boden. Das Funkeln in den Augen des Jungapothekers ließ mich noch einen zögerlichen Schritt nach hinten tun, bis es plötzlich erlosch und Holland mich forschend ansah. »Entschuldige. Vielleicht bist du ja auch kein solcher Trottel wie diese Monstrosität. In jedem Fall bist du hier, und das ist alles, was zählt.«

Holland bückte sich kurz und hob die Tasche wieder hoch, schüttelte sie so lange, bis alle Kräuter aus ihr herausgefallen waren, und warf sie mir dann in einem hohen Bogen wieder zurück. Überrascht fing ich sie auf und sah ihn fragend an.

»Ich brauche kein Düsterkraut, das dürftest du inzwischen verstanden haben. Die Monstrosität wird das niemals verstehen, ich habe schon zu oft versucht, es ihr zu erklären. Ich brauche Verdammniskraut! Sammel das für mich, und ich werde dir eine angemessene Belohnung zukommen lassen.«

Einen Moment lang war ich versucht, die Bitte auszuschlagen und mich davonzumachen, bis mir etwas einfiel. Hastig kramte ich den Brief aus meiner Hosentasche hervor – er war ein wenig zerknittert, aber ansonsten noch in gutem Zustand – und las den Namen darauf. Direflesh.

»Wo finde ich Direflesh?«

»Finde meine Kräuter, und ich finde ihn«, erwiderte Holland mit einer aalglatten Stimme. »Sie verseuchen gerne die Flora in der Nähe des Massengrabes, nördlich von hier. Aber da oben leben auch einige Gnolle, du solltest dich also in Acht nehmen.«

»Ich könnte auch einfach jemand anderes fragen -«

»Und jeder wird etwas von dir wollen für diese Auskunft«, erwiderte Holland ernst. »Die Aufgabe, die ich dir stelle, ist nicht schwer. Du musst nur vorsichtig sein. Und jetzt mach, dass du davon kommst und mir mein verdammtes Verdammniskraut holst!«

Ich zuckte kurz zusammen, als mich der Untote wütend anfuhr. Dann wandte ich mich mit einem letzten, von Bitterkeit durchdrungenen Blick für den Apotheker von ihm ab und marschierte mit der Umhängetasche über die Schulter geworfen los.

Ich schlug vom Friedhof aus eine ungefähre nördliche Richtung ein. In nicht allzu weiter Ferne waren bereits wieder erste Bäume zu sehen, auch wenn diese nur vereinzelt beieinander standen und bei weitem nicht so mächtig und groß waren wie jene im Wald. Jahrzehnte, womöglich sogar Jahrhunderte von Arbeit hatten breite Schneisen in das Land getrieben und Bäume dort entwurzelt, wo Ackerland benötigt worden war. Auf den brach liegenden Feldern wucherte jetzt Unkraut und seltsame Pflanzen, von denen ich mich vorsorglich fern hielt. Sie hatten grell schimmernde Blüten und Früchte, die am ehesten nach Gift aussahen.

Es dauerte nicht lange, bis ich auch auf die Massengräber traf. Tiefe Gruben waren in das Erdreich gegraben worden, und die Sonne beleuchtete düster die Überbleibsel darin. Knochen und Schädel zeugten von dem Massaker, das hier vorgefallen sein musste. Um sie herum und an ihrem Grund wuchs eine Pflanze, die jener täuschend ähnlich sah, die Gordo die ganze Zeit sammelte. Allein ihre Blüten unterschieden sich in den Farben ein wenig, und selbst dieser Unterschied wirkte trügerisch, als wollte das Kraut für etwas Harmloses gehalten werden.

Murrend bückte ich mich und fing an, die Pflanzen eine nach der anderen aus der weichen Erde zu rupfen und in meine Tasche zu stopfen. Sie konzentrierten sich tatsächlich bei den Gruben, und ihr Name bekam für mich sofort eine neue Bedeutung. Sie wucherten wirklich genau dort, wo andere ihr Verdammnis gefunden hatten oder zumindest einen grausamen Tod gestorben waren. Der Gedanke daran ließ mich frösteln und löste ein ungutes Gefühl in mich aus. Immer wieder schaute ich mich um, während ich hastig von Grab zu Grab huschte und immer mehr der Kräuter einsteckte.

Ein lautes Knacken irgendwo rechts neben mir ließ mich zusammen zucken und aufspringen.

Das Grunzen und Quieken der Gestalt, die mir gegenüber stand, klang erschreckend erfreut. Es musste ein Gnoll sein, wie Holland die Wesen genannt hatte: Eine Schnauze wie eine Hund, mit zuckender Nase; kleine grausame Äuglein, die mich mit gierigem Blick musterten; und Hände, die eher an Tatzen erinnerten und trotzdem ein rostiges Schwert hielten. Insgesamt kam es einer aufrecht gehenden, mit alten Lederlumpen bekleideten Ratte ziemlich ähnlich.

Mit einem weiten Sprung und einem aufgeregten Quieken drang der Gnoll plötzlich auf mich ein. Erschrocken machte ich einen Satz nach hinten, und das Schwert zischte nur wenige Zoll weit an meiner Brust vorbei. Einen Moment später bemerkte ich, dass meine Füße keinen Boden trafen, und von einem überraschten Schrei begleitet fiel ich kopfüber in eines der Massengräber.

Der Sturz war nicht sonderlich tief und die Erde weich. Stöhnend schüttelte ich kurz meinen Kopf, vernahm dabei aber wieder das verfluchte Quietschen der Bestie gleich oberhalb von mir. Meine Hand streifte einen Knochen, als ich mich aufrappelte, und ergriff ihn wie von selbst.

Ich schaute gerade rechtzeitig nach oben, um zu verfolgen, wie die Ratte mit hoch über dem Kopf erhobenem Schwert in die Grube sprang und mich glatt in zwei Teile zerschlagen wollte.

Ich wusste nicht sicher, warum, aber ich wusste, was ich zu tun hatte. Mit einem kleinen Satz sprang ich zur Seite, und das Wesen verfehlte mich um Haaresbreite. Die Klinge bohrte sich tief in das Erdreich hinein und gab dabei ein Knirschen von sich, als wollte das alte Eisen gleich zerspringen. Gerade, als der Gnoll überrascht aufschaute, drosch ich ihn den Knochen mitten auf die Nase. Das gepeinigte Heulen der Kreatur war wie Jubelgesang in meinen Ohren. Der Griff der Bestie um das Schwert löste sich und ihre Hände tasteten über die Schnauze, als ich mit einem weiten Hieb erneut ausholte und dieses Mal die spitzen Ohren erwischte. Wieder zuckte der Gnoll panisch zusammen und verkroch sich in die hinterste Ecke, die er in dem Massengrab finden konnte.

Ich nutzte diese Gelegenheit, ohne einen weiteren Wimpernschlag verstreichen zu lassen. Die Wände waren zwar steil, doch die Erschaffer der Gruben waren ihnen auch entflohen, und so musste es mir ebenfalls möglich sein. Meine Finger krallten sich in die nasse Erde, während ich mich immer weiter hochzog und die jaulende Gestalt unter mir zurück ließ.

Kaum dass ich dem Grab entflohen war, drehte ich mich mit einer hämischen Miene zu meinem Angreifer um. »Das nächste Mal bringe ich eine Waffe mit, und dann reiße ich dir sämtliche Gedärme raus, du Wicht!«

Das Knurren, das in meinem Rücken antwortete, ließ mich für einen Moment erstarren. Dann, ohne auch nur einen Blick über die Schulter zu wagen, rannte ich los und hörte dabei das wütende Bellen und Quieken der Gnolle hinter mir, das zwar nicht näher zu kommen schien, allerdings auch nicht abbrach. Meine Panik wurde noch verstärkt, als Armbrustbolzen in den Bäumen und der Erde neben und vor mir einschlugen. Einer, der mich verfehlte, blieb im Boden vor mir stecken und begann, unheilvoll zu zischen. Die kleinen Biester mussten Gift verwenden.

Meine Verfolger jagten mich selbst dann noch weiter, als Brill bereits wieder in Sicht kam. Zu meiner unendlichen Erleichterung lag das Dorf nicht allzu weit von den Gräbern entfernt, aber andererseits mochten die Häuser noch nicht gleich meine Rettung bedeuten. Der verlassene Eindruck des Dorfs kam mir wieder in den Sinn und gab meiner Angst neue Nahrung.

Ein Pfeil schoss dicht an meinem Kopf vorbei. Er kam so plötzlich, dass ich ihn mehr hörte denn sah. Dafür vernahm ich das Schmerzgeheul des getroffenen Gnolls umso besser, und auch, wie er ungebremst kopfüber stürzte, der Pfeilschaft zerbrach und sich das Geschoss noch tiefer in ihn hinein bohrte. Das Getrappel hinter mir verstummte abrupt, ebenso wie das Quieken und Kläffen der Meute.

Ich rannte immer langsamer, bis ich nur noch schnellen Schrittes weiter ging und mich dabei halb umwandte. Die Gnolle starrten allesamt ihren im Tod liegenden Gefährten an, aus dessen Maul bereits erstes Blut tropfte. Dann, von furchterfüllten Lauten begleitet, drehten sie sich um, stolperten in ihrer heillosen Flucht übereinander und suchten das Weite.

»Verdammten Neulinge.«

Ein Untoter in voller, schimmernder Rüstung und einem Kurzbogen in der Hand warf mir einen verbitterten Blick zu, während er an mir vorbei ging und dabei sein Schwert zog. Dem Gnoll entwich ein schwaches Stöhnen, als er den Krieger auf sich zukommen sah; es verlor sich jedoch rasch, als er, ohne mit der Wimper zu zucken, den Stahl durch das Herz des Wesens bohrte. Die blutige Klinge wischte er fast schon beiläufig an den dreckigen Klamotten der toten Kreatur ab, während er mich wieder ins Auge nahm.

»Wer hat dich beauftragt?«

Ich musste mich erst aus meiner Starre befreien, bevor ich ihm antworten konnte. Ich hatte ja inzwischen mitbekommen, dass Untote eher gefühlskalt waren, aber solch abgebrühte Grausamkeit war mir noch nicht untergekommen. »Der Apothekar Holland.«

Das Gesicht meines Gegenübers war von einer Narbe, die quer über die Nase lief, entstellt, doch erst das Grinsen machte es abstoßend. »Er schickt gerne Neulinge in den Tod. Du solltest nicht allzu lange für ihn arbeiten, wenn du noch ein paar Tage erleben willst. Und du solltest lernen, damit umzugehen«, fügte er lakonisch hinzu, wobei er auf das rostige Schwert deutete, das ich noch immer in der Hand hielt. Bis gerade eben hatte ich es gar nicht bemerkt; jetzt ließ ich es angewidert fallen.

Der Untote hob eine seiner Augenbrauen, ersparte mir jedoch einen Kommentar und nickte mir nur zu, als er wieder an mir vorbei ging.

»Danke«, murmelte ich leise.

»Das ist meine Aufgabe als Todeswache«, entgegnete er ruhig. »Untote beschützen. Aber normalerweise brauchen sie meinen Schutz nicht.«

Die Worte ließen mich noch miserabler fühlen, als ich es ohnehin schon tat. Nur mühsam schüttelte ich sie ab, überprüfte kurz, ob die Umhängetasche noch an ihrem Platz und mit den Kräutern gefüllt war, und machte mich dann eilig auf den Weg zu Holland.

Die Gräber sahen noch immer so aus, wie ich sie verlassen hatte: Finster, verstörend und gefährlich, als würden im nächsten Moment alle Toten auferstehen und mich jagen wollen. Der Apotheker saß noch immer auf der Bank, und bei meinem Anblick hob er anerkennend seinen Blick. »Ich hätte nicht gedacht, dass du zurück kehrst.«

»Wie viele von den Skeletten, die in den Gräbern liegen, gehörten da nicht hin?«, fragte ich zähneknirschend. Ich schaffte es nur mit Mühe, meinen Zorn zu unterdrücken.

»Ungefähr ein Dutzend.«

»Und du bist nicht auf die Idee gekommen, deine verfluchten Kräuter selbst zu holen?«

»Nicht, nachdem ein Dutzend Untoter, welche die Kräuter besorgen sollten, nicht mehr zurückgekehrt sind.«

Ich konnte fühlen, wie sich die Wut durch meine Gedärme fraß und alles in mir danach verlangte, das Gesicht dieses feigen Wichts ein wenig zu verschönern. Ich riss mir regelrecht die Tasche von den Schultern und warf sie ihm gegen die Brust, hart genug, dass er ein wenig nach hinten taumelte. »Wo ist Direflesh?«

Holland lächelte mich an. Am liebsten hätte ich ihm das Lächeln mit einem Schlag aus dem Gesicht gewischt, aber ich zügelte mich. »Er wohnt seit einiger Zeit in Undercity. Hat dort ein Labor, soweit ich gehört habe. Hier.«

Er schmiss mir einen kleinen Lederbeutel zu, der fröhlich in meiner Hand klimperte, als ich ihn auffing. »Für deine Mühen. Und jetzt lass mich alleine, ich habe wichtigeres zu tun, als meine Zeit mit dir zu vergeuden.«

Meine Finger knackten, als ich beide Hände zu Fäusten ballte. Dann entspannten sie sich wieder, und ohne ein weiteres Wort zu erwidern, drehte ich mich um und machte mich auf den Weg zur Straße.

Die Straße, die durch Brill hindurch führte, füllte sich allmählich mit untoten Leben. Während ich noch den Friedhof verließ und den verfluchten Apotheker hinter mir ließ, trafen sich in Roben gekleidete Männer und unterhielten sich leise. Manche von ihnen warfen mir abschätzende Blicke zu, und den meisten stand Unfreundlichkeit und Arroganz im Gesicht geschrieben. Erst jetzt bemerkte ich, dass das Dorf bei weitem nicht tot, sondern schlichtweg untot gewesen war. Ein Stallbursche mit hässlicher Fratze und einem markanten, eingebrannten Huf in der Brust lehnte etwa unbeweglich an einem Pfosten und schien tief in Gedanken versunken zu sein. Aus einem größeren Gebäude, über dessen Tür ein verrottendes, unleserliches Schild hing, drangen Gesprächsfetzen und leises Gelächter hervor. Mich zog es allerdings nicht im Geringsten in die Taverne. Die Erinnerungen an die geldgierigen Untoten waren noch zu frisch, als dass ich ohne Zweifel und Angst hätte hinein gehen können.

Dennoch blieb ich direkt neben dem Eingang stehen und sah mich erst einmal um. Die Straße gabelte sich weiter vorne, kaum dass sie Brill verlassen hatte, in zwei Wege auf, wobei der eine recht gut ausgebaut war, der andere hingegen eher einem Schlammpfad glich. Ich kannte Undercity nicht, aber es schien logisch, dass die besser gewartete Straße auch zum nächsten Dorf führen würde. Dennoch würde ich nachfragen müssen, um mir Gewissheit verschaffen zu können; allerdings wollte ich den murmelnden Gelehrten, die allesamt gewichtig ihre Köpfe zusammen steckten, nicht näher kommen, als ich unbedingt musste.

»Probleme, Neuling?«

Ich riss meinen Kopf so energisch herum, dass die Halswirbel wehleidig knackten und knirschten. Neben mir stand der Untote, der mich kurz vorher vor den Gnollen gerettet hatte, und grinste mich breit an. »Wo soll's denn hingehen?«

Ich betrachtete ihn kurz und überlegte, ob ich ihm trauen konnte, aber immerhin war er zu mir gekommen und nicht ich zu ihm. Womöglich war das ja ein Zeichen seiner Zuvorkommenheit. »Ich muss nach Undercity«, erwiderte ich schließlich, als ich mich von dem ersten Schrecken wieder erholt hatte.

»Ah, Undercity. Das frühere Lordaeron. Eine schöne Stadt, aber der Weg ist nicht ungefährlich.«

»So?«

»Oh, ja.« Die Todeswache nickte wissend und behielt dabei ihr inzwischen unheimlich wirkendes Lächeln auf. »Dämonenhunde, hirnlose Untote, Zombies, riesige Fledermäuse… und nicht zu vergessen, Banditen, welche einsame Reisende ausplündern. Viele Gefahren lauern auf der Straße.«

Mir kam wieder in den Sinn, was Holland gesagt hatte. Ich glaubte bereits zu wissen, wohin das Gespräch führen würde, auch wenn ich jedes Wort ernst nahm. »Und was schlagt Ihr vor?«

»Nun, in der Taverne gibt es jemanden mit Namen Twinblade. Guter Führer in der Wildnis. Hat viele Aufträge für verschiedene Leute ausgeführt und ist immer heil zurückgekehrt, und das will was heißen.«

»Und wie viel schulde ich Euch nun für diesen großzügigen Tipp?«

Das Lächeln des Untoten wurde noch breiter. »Du verstehst schnell, Neuling. Wenn das so bleibt, wirst du es noch weit bringen… zwei Kupferstücke, weil du es bist.«

Die Hand, die er betont lässig auf den Knauf seines Schwertes legte, bewegte mich dazu, seiner Forderung nachzukommen. Ohne die Miene zu verziehen, langte ich in den Lederbeutel, den ich von Holland erhalten hatte, und zog zwei der kleinen Münzen heraus. »Vielen Dank für Eure Hilfe«, fügte ich tonlos hinzu.

»Die Freude war ganz auf meiner Seite«, erwiderte die Wache mit einer angedeuteten Verbeugung, drehte sich um und marschierte pfeifend zu ihrem Posten am Eingang des Dorfes zurück. Ich schaute ihm ungefähr mit dem gleichen Blick nach, mit dem ich Holland bedacht hatte, bevor ich schließlich seufzend in das Gasthaus eintrat.

Das erste, das ich sah, waren die vielen leeren Stühle und Tische. Kerzen waren auf Balken und Tischen gleichermaßen verteilt und spendeten trotz ihrer Anzahl nur unzureichend Licht, so dass der gesamte Raum in einem unnatürlichen Zwielicht lag. Abgesehen von einer kleinen Gruppe elendig dreinschauender Skelette, die in einer Ecke beisammen saßen und niedergeschlagen auf ihre Krüge starrten, saß nur eine einzige Person am Thresen. Auf der anderen Seite stand ein schmächtiges Kerlchen, das damit beschäftigt war, schmutzige Krüge mit einem noch schmutzigeren Lumpen zu putzen. Es roch nach schalem Bier und Essensresten, die irgendwo weiter hinten vermoderten und bis in den Schankraum stanken.

Niemand schien auch nur im geringsten auf mich zu achten. Ich straffte meine Schultern, klopfte mir rasch den Staub der Reise von meinen zerissenen und flickigen Kleidern und ging dann auf das Thresen zu.

Noch ehe ich mich auch nur hatte setzen können, war der Unbekannte aufgestanden und hatte sich mir zugedreht. Der Umhang und die tief in das Gesicht gezogene Kapuze machten es schwer, überhaupt etwas von ihm zu erkennen. Als ich aber die Wölbungen der Lederrüstung erkannte, die mein Gegenüber angelegt hatte, blieb ich überrascht stehen.

»Dein Geld oder dein Leben«, drang eine zuckersüße Stimme unter der Kapuze hervor.

Zuerst wusste ich nicht einmal, was ich darauf erwidern sollte. Als die Frau jedoch blitzschnell einen Dolch unter dem Vorhang hervorzog und diesen abschätzend in ihrer Hand wiegte, löste sich meine Zunge sofort. »Werdet Ihr Twinblade genannt?«

»Wer will das wissen?«

»Jemand, der auf Eure Hilfe hoffte und nicht darauf, von Euch ausgeraubt zu werden«, erwiderte ich hastig und setzte dabei bereits einen zögerlichen Schritt nach hinten. Die Frau ihrerseits tat einen nach vorne. Kurz fiel etwas Licht einer verloren stehenden Kerze unter die Kapuze, und ich glaubte, ein schmales Lächeln zu erkennen, bevor es wieder von der Dunkelheit verschluckt wurde.

»Ich muss nach Undercity«, fuhr ich fort und tastete mich dabei nach hinten weg. »Dringende Geschäfte. Ich brauche einen Führer, da ich in der Gegend neu bin, und man hat mir Euch vorgeschlagen, da Ihr Euch wohl in der Wildnis da draußen auskennt. Ich - ich bezahle gut.«

Ich rumpelte an einen Stuhl, und das Kratzen des alten Holz über den Boden war in der Stille ohrenbetäubend laut. Wie ertappt blieb ich stehen und starrte meine Verfolgerin an, während sich meine Finger wie von selbst auf die Stuhllehne legten.

Ihr Angriff kam nicht direkt überraschend, aber schnell. Sie sprang nach vorne und stach noch im Flug zu, verfehlte mich jedoch um eine Haaresbreite, als ich unter der Attacke hinweg tauchte. Meine Muskeln spannten sich, als ich im Gegenzug den Stuhl nach ihr schleuderte und sie in der Seite traf.

Wie von einem Riesen getroffen, flog sie durch den halben Schankraum. Der Tisch, auf dem sie landete, hielt der Kraft nicht stand und zerbrach unter ihr. Mit großen Augen betrachtete ich mein Werk der Zerstörung, dann meine Hand, die noch immer den demolierten Stuhl in der Hand hielt. Sie leuchtete noch für einen Moment bläulich auf, als würden Nebelschwaden sie umschlingen wollen, bis sie sich im Nichts auflösten. Gleichzeitig spürte ich zum ersten Mal, dass meine Kräfte schwindeten und ich regelrecht müde wurde.

Zumindest die Müdigkeit war sofort verflogen, als ich den wütenden Schrei der Frau vernahm. Sie stand mitten in den Überbleibseln des Tisches und starrte mich mit den blau leuchtenden Augen einer Furie an. Sie waren pupillenlos wie bei allen Untoten, die ich bisher gesehen hatte, aber das machte es nur noch umso schlimmer. Die Kapuze war ihr vom Kopf gerutscht, und man konnte das schulterlange aschfarbene Haar erkennen, das vorher wohl zu einem Zopf gebunden gewesen war und ihr nun wirr im Gesicht herum hing. Sie war hübsch, keine Narbe oder Wunde verunstaltete ihr Antlitz. Allerdings war es vor Wut dermaßen verzogen, dass ich bei ihrem bloßen Anblick Angst bekam.

Sie stürmte so schnell los, dass ich sie gar nicht richtig kommen sah. Im nächsten Moment war sie wie von Zauberhand plöztlich hinter mir. Ich bemerkte sie erst, als ihre Faust in meine Hüfte hämmerte und ihr anderer Arm sich um meinen Hals schlang. Dumpfer Schmerz begann, an den Stellen zu pochen, wo sie auf mich einschlug, aber er schien nicht vollkommen an mich herandringen zu können. Als ich das Knirschen und dann das Knacken eines Knochen hörte, wurde mir dennoch klar, dass es um mich nicht gerade gut stand. Panik fing an, von mir Besitz zu ergreifen, und ohne Rücksicht stieß ich mit meinem Ellenbogen nach hinten, so gut ich konnte.

Meine ersten Treffer blieben wirkungslos. Dieses Mal spürte ich aber, wie sich etwas Warmes, merkwürdig Vertrautes in mir aufbaute, dann innerhalb eines Augenblicks in meinen Arm wanderte und sich dort schlagartig entlud.

Die Frau keuchte auf, als mein Ellenbogen ihre Rüstung einfach ignorierte und sich tief in ihren Leib bohrte. Das Leder knirschte dabei, als wollte es im nächsten Moment zerbrechen. Aus dem Augenwinkel erkannte ich noch, wie sich der bläuliche Nebel um meinen Arm verflüchtigte. Dann spürte ich, wie sich der Druck um meinen Hals verstärkte. Einen Moment später wurde ich nach hinten umgerissen und landete schmerzvoll auf dem Boden.

Ich benötigte einen Augenblick, um meine Sinne wieder zu sortieren. Als ich wieder wusste, wo oben und unten war, trat mir ein Fuß mitten in den Rücken und drückte mich unsanft nach unten.

»Du wagst es, mich zu schlagen?« Ihre Stimme zitterte leicht, sie schien außer Atem zu sein. In jedem Fall hatte sie all ihren Hohn und ihre Arroganz verloren. »Wer bist du?«

Ich versuchte, mich mit den Händen auf dem Boden abzustützen und so nach oben zu kommen; ein Tritt kam zur Antwort und schmetterte mich wieder flach auf die Dielen. Der Schmerz in meinem Rücken wurde allmählich stärker. »Ich habe keinen Namen«, presste ich zwischen meinen Lippen und den Dielen hervor.

Stille senkte sich über den Schankraum. Die skeletthaften Männer in der Ecke hatten doch noch ihren Blick gehoben und sahen mich mit einer Mischung aus Schadenfreude und Genugtuung an, und der Wirt hatte aufgehört, seine dreckigen Krüge noch dreckiger zu putzen.

»Kein Name, hm?«

Der Fuß verschwand von meinem Rücken. Eine Hand packte die meine und zog mich mühelos nach oben. Die Frau lächelte mich mit kalten Augen an und hielt mein Handgelenk dabei fest im Griff. »Es ist eine Weile her, seitdem mich jemand so in Bedrängnis gebracht hat.«

Sie gab mir einen abrupten Schubser, der mich zurückstolpern ließ. Meine Beine trafen einen Stuhl und knickten ein. Ich versuchte noch für einen Moment, mein Gleichgewicht zu halten, bis ich mit rudernden Armen auf dem harten Holz eher unsanft landete.

Als ich verwirrt aufschaute, war die Kämpferin bereits bei der Tür und hatte eine ihrer grazillen, kleinen Hände auf den Türknauf gelegt. Sie zog die Tür halb auf, drehte sich dann aber noch einmal halb zu mir um.

»Wenn die Sonne untergeht, ziehen wir los.«

Sie zwinkerte mir noch verschmitzt zu, dann schlüpfte sie hinaus in den Tag und zog die Tür hinter sich zu.
 
Super Kapitel. Wenn du so weiter machst, dann wird das ne super Geschichte.
 
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Uh, schöne untote weibliche assasinen... aber etwas anders gut weiter im text bitte
 
Kapitel 4 - Neue Bekanntschaften


Die Sonne versank allmählich hinter den Wäldern Tirisfals. Zumindest den Namen der Gegend hatte ich inzwischen erfahren, und noch viele weitere Dinge, die mir zumeist mehr Unbehagen einflößten als Freude.

Die Skelette etwa, die sich mit mir in dem Gasthaus befunden hatten, waren in Lachen ausgebrochen, kaum dass die untote Frau den Raum verlassen hatte. Wie mir der Wirt berichtete, hatten sie einen guten Grund: Sie alle waren von ihr geführt worden, und keiner von ihnen hatte danach noch Geld an seinem Leib gehabt, von Kleidern und ansehnlichen Brocken Fleisch ganz abgesehen. Inessa Twinblade - ihr voller Name - hatte sie in die Wildnis geführt, sie dort ausgeraubt und dann ihrem Schicksal überlassen. Jeder einzelne von ihnen war zurückgekehrt und hatte mit ihr gekämpft, und jeden hatte sie besiegt.

Jetzt stand ich am Rande von Brill und wartete darauf, dass eben jene Frau mich nach Undercity führen würde, die anderen schon so viel Unheil angetan hatte. Immer wieder kam mir der Gedanke, mich lieber alleine nach Undercity durchzuschlagen, doch die anderen Geschichten, die mir der Wirt erzählt hatte, waren diesem Vorhaben eher abträglich. Er hatte selbst gesagt, dass die Straßen nicht sicher waren und Inessa womöglich noch das kleinere Übel, denn sie raubte ihre Opfer angeblich erst dann aus, wenn man schon kurz vor dem Ziel sei.

Kaum dass die letzten Strahlen der Sonne von den Wäldern verschluckt wurden, kam eine Gestalt vom Dorf kommend auf mich zu. Die Straßen waren inzwischen leer, jeder war in eines der halb verfallenen Häuser zurück gekehrt. Nur die Todeswache stand einsam ihren Dienst, und auch wenn ich es nicht sehen konnte, war ich mir sicher, dass sie unter ihrer verfluchten Kapuze vor sich hin grinste.

Twinblade selbst war noch immer in ihrem eigenen Umhang und der Lederrüstung gekleidet. In ihrer Hand hielt sie eine Fackel, die ihr ein gespenstisches Aussehen verlieh. Außerdem hatte sie einen riesig anmutenden Rucksack auf dem Rücken geschnallt. Als sie endlich bei mir ankam, grinste sie mich breit an und zwinkerte mir verschmitzt zu. »Bereit, in die Wildnis zu gehen?«

Anstatt der Kriegerin eine Antwort zu geben, nickte ich nur und ging dann neben ihr die Straße entlang.

Der Wirt hatte mich gewarnt, dass Inessa nicht mehr ganz bei Trost sei. Der Kampf mit dem so überraschenden Ausgang wäre nur der Anfang gewesen. Aber mir blieb keine Wahl. Ich hatte nur noch ein paar Tage, um den Brief abzuliefern, und ich hatte keine Lust herauszufinden, ob mein Auftraggeber seine Drohungen ernst meinte. Vor allem aber vertraute ich dem Wirt nicht wirklich. Für diese Information hatte er sich nicht schlecht bezahlen lassen, und die Frage, ob ich noch mehr über Twinblade erfahen wollte, hatte mich nicht eben weniger misstrauisch gemacht.

Am Anfang kamen wir gut voran. Brill versank bald in der Dunkelheit oder wurde von den dicken Stämmen der Bäume versteckt, die wir auf unserem Weg passierten. Ab und an führte die alte Straße an weiten Wiesen vorbei, die alles andere als einen saftigen Eindruck machten, oder an kleineren Seen, die ebenso dunkel und tot wirkten wie die gesamte Natur um uns herum. Ein kleiner Weg, der von der Straße abzweigte, erweckte schnell meine Aufmerksamkeit: Er führte zu einem Konstrukt, das sich hoch in den Himmel erhob und einem Turm noch am ehesten glich. Eine Art Balkon befand sich an der Spitze des hölzernen Ungetüms und reichte so weit nach außen, dass es einem Wunder glich, dass der Turm noch nicht umgefallen war.

Meine Begleiterin schien meinem Blick gefolgt zu sein, denn sie meinte mit gelangweilter Stimme: »Der Zeppelin-Turm. Wenn du jetzt schon genug von Tirisfal hast, warum gehst du nicht da rauf und wartest auf den nächsten Zeppelin, der dich nach Kalimdor bringt?«

Ich betrachtete sie verwundert, bevor ich mich noch einmal dem Turm zuwandte. Kalimdor sagte mir nichts, und auch von einem Zeppelin hatte ich noch nie etwas gehört, auch wenn ganz hinten in meinem Kopf etwas an mir zu nagen begann. Ich hatte den flüchtigen Eindruck, dass mir das alles etwas sagen sollte, allerdings blieb es auch nur bei diesem Gedanken. Schließlich führte uns der Weg wieder durch ein Stück Wald, und der Turm verschwand hinter den mächtigen, teils kahlen Kronen der Bäume.

Für eine Weile liefen wir scheigend nebeneinander her. Ich hatte schnell bemerkt, dass der Rucksack meiner Begleiterin leer war, auch wenn er trotzdem riesig aussah. Entweder wollte sie in Undercity einige Sachen besorgen, die ziemlich groß waren, oder sie brauchte Platz, um meine wenigen Habseligkeiten zu verstauen, sobald sie mich erst einmal ausgeraubt hatte.

»Wie hast du das eigentlich gemacht?«

Ich schaute Inessa fragend an. »Was meinst du?«

»Unser Kampf.« Ihre pupillenlosen Augen leuchteten in einem hellen Blau und schienen noch mehr zu glänzen, als sie sich an das Gefecht in der Taverne erinnerte. »Du warst stark. Viel stärker als die meisten, denen ich begegne.«

»Tatsächlich.« Ich hatte keine Lust, mit ihr darüber zu reden. Vor allem verspürte ich nicht den geringsten Drang danach, ihr zu offenbaren, dass ich selbst genauso viel wusste wie sie. Irgendetwas war mit mir geschehen und hatte mir geholfen, war aber danach genauso schnell wieder verschwunden.

Inessa ließ jedoch nicht locker. Anstatt einfach neben mir herzugehen, drehte sie sich um und lief rückwärts ein wenig vor mir her, um mich mit einem breiten Grinsen anzusehen. »Erzähl schon, Namenloser! Ich werde dich auch nicht beißen!«

Mein Magen zog sich ein wenig zusammen. Mir kam wieder in Gedanken, was mir der Tavernenwirt für ein paar Kupfermünzen anvertraut hatte: Inessa Twinblade war eine fröhliche Verrückte. Sie schnitt Untoten ihre Gliedmaßen ab und lachte dabei wie ein kleines Kind. Sie hatte ihre Erweckung wohl niemals ganz verkraftet oder war über irgend etwas anderes in den Wahnsinn getrieben worden.

»Ich kann es nicht sagen«, erwiderte ich schließlich etwas lahm.

»Du kannst nicht oder du willst nicht?«

»Ein wenig von beidem, schätze ich.«

Ihr Blick wurde zuerst zornig, dann nachdenklich, und ihre Schritte langsamer. Einen Moment später lief die Frau wieder neben mir her und starrte dabei den Boden an, als würde sie angestrengt überlegen. Ihre Hände schlossen sich dabei immer wieder zu Fäusten, und ihr ganzer Körper schien sich kurz anzuspannen, nur um dann wieder all die Kraft ins Nichts gehen zu lassen.

Dann, einfach so, hob sie den Kopf und lächelte mich an. »Ich mag dich. Ich glaube, ich werde dich nicht ausrauben.«

Ich wusste nicht so recht, was ich auf diese unerwartete Erklärung erwidern sollte. Schließlich nickte ich nur, schenkte ihr ein kurzes Lächeln und ein »Danke«. Es schien genug für sie zu sein, denn sie grinste mich wieder breit an und marschierte neben mir mit.

»Raubst du alle aus, die du durch den Wald führst?« Ich hielt es für ein angebrachtes Thema, um ein wenig mehr über meine Begleiterin herauszufinden, und außerdem wollte ich ihre gerade erworbene Zuneigung nutzen, solange ich konnte.

»Nein«, erwiderte sie fröhlich, zog dabei ihr Kurzschwert und fing an, damit die Luft zu zerschneiden. »Meistens nur die, die ich nicht mag. Oder die, die mich angreifen.«

»Dich angreifen?«

»Ja, so wie die drei Skelette.« Ihr Lächeln nahm einen diabolischen Ausdruck an, und ihre Augen glühten regelrecht. Die ungelenken Schläge in die Luft wurden mit einem Mal zu schnellen, gezielten Stichen, während sie erwiderte: »Sie wollten mich ausrauben, zusammen, aber sie haben es nicht geschafft! Und ich habe ihnen gezeigt, was ich mit denen anstelle, die versuchen, mich auszurauben!«

Aus einer geschmeidigen Bewegung heraus steckte sie das Schwert schwungvoll wieder in die Scheide zurück. Dann blickte sie mich verwundert an. »Geht es dir nicht gut?«

»Doch, doch! Mir geht es fabelhaft!«, entgegnete ich ihr hastig. Wie zum Beweis meiner Worte gesellte ich mich wieder an ihre Seite, von der ich gerade wegen ihrer ausufernden Kampfübung geflohen war. Das wenige, was sie mir gezeigt hatte, war mehr als genug, um mich von ihren Künsten mit dem Schwert zu überzeugen.

Je weiter wir in den Wald eindrangen, desto anhänglicher schien Inessa zu werden. Obwohl sie den Körper und das Gesicht einer erwachsenen Frau hatte – einer hübschen sogar – schien sie vom Geist her tatsächlich eher wie ein Kind zu sein. Sie summte Lieder vor sich hin, während sie die Fackel mühelos hoch über unsere Köpfe hielt und so ausreichend Licht spendete, um selbst den Wegesrand beleuchten zu können. Ab und zu sah sie mich mit einem neckenden Blick an, lachte dann, wenn ich ihr aus einer Laune heraus zuzwinkerte, und hüpfte dann um mich herum, als ständen wir im hellen Tageslicht in einer von Mauern umgebenen Stadt anstelle eines von Geräuschen und dem Heulen der Wölfe erfüllten Waldes.

Als ich sie auf die Tiere ansprach, winkte sie bloß ab. »Die sind viel zu feige, um sich uns zu zeigen. Außerdem fressen sie fast nur Aas.« Sie machte auch keinen Hehl aus ihrer Überzeugung: Wo ich am liebsten leise und schnell vorgegangen wäre, schlenderte sie gemächlich die Straße entlang und sang manchmal sogar Lieder von Kämpfen und Huren. Immer wieder fragte ich mich, ob sie überhaupt verstand, was sie da sang.

Als sie einmal öfters ihre Stimme zwischen den Bäumen hallen ließ, musste sie meinen zweifelnden Blick bemerkt haben. Sie unterbrach ihre Darbietung, die gerade in den wahrscheinlich schmutzigsten Teil des gesamten Liedes übergegangen war, und fragte mich herausfordernd: »Gibt es einen Grund, dass du mich so anstarrst?«

»Nein, nicht wirklich«, erwiderte ich überrascht. Ihre Stimme hatte sich verändert; sie klang nicht mehr wie die eines kleinen Kindes, sondern jener einer geübten Kämpferin, die sie ja augenscheinlich auch war.

»Glaubst du etwa, ich würde nicht bemerken, wie du von mir denkst?« Ihr schmales Lächeln alleine reichte schon, um mir Angst einzujagen. Als sie auf mich zukam, wuchs meine Angst und wurde zur schieren Panik. »Es tut mir leid, ich -«

Sie blieb direkt vor mir stehen. Obwohl ich ein kleines Stückchen größer war als sie, fühlte ich mich wie ein Zwerg, der einem Riesen gegenüber stand. »Du denkst auch nur darüber nach, wie du mich am besten ausrauben könntest, nicht wahr? Schließlich bin ich ja nur ein kleines, wehrloses Mädchen!«

»Eine Frau mit einem Schwert gegen einen unbewaffneten Mann!«

Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Stimmt… Keine Waffen an dir. Entweder bist du unsagbar dumm oder sehr selbstsicher.«

»Eher keines von beidem«, gab ich kleinlaut zurück.

Verdutzt schaute sie mich für einen Moment an, dann lachte sie hell und klar auf. »Ich mag dich wirklich!« Überschwänglich umarmte sie mich und schmiss mich dabei fast um, bevor sie mich wieder entließ und mich breit angrinste. »Ich kann gute böse Gesichter machen, nicht wahr?«

Ich musste ein paar Mal blinzeln, bis ich so recht verstand, was gerade vorgefallen war. »Kann man wohl sagen.«

»Kann man wohl sagen?!«, wiederholte die Frau aufgebracht. »Ich mache die besten bösen Gesichter überhaupt! Du hattest Angst, ich habe es genau gesehen!«

Das Ganze war so absurd, dass ich gar nicht anders konnte, als lächelnd zu nicken. »Ja, du hast mir unheimliche Angst eingejagt.«

»Siehst du!« Ihr Grinsen wurde noch ein Stückchen breiter, bevor sie wieder laut singend davon hüpfte. Allerdings blieb sie gleich wieder stehen und wartete auf ihren Füßen wippend, bis ich zu ihr aufgeschlossen hatte.

»Weißt du«, sagte sie dann mit leiser Stimme und ernstem Blick, »du bist der Erste, der lacht.«

»Ich bezweifle, dass ich tatsächlich der Erste sein soll, der lacht. Du lachst schon die ganze Zeit.«

»Nein, nicht so!«, erwiderte sie kichernd. »Du lachst wie ich.«

Ich schaute sie mit einer erhobenen Augenbraue an. Ihr Kichern wurde sofort noch ein wenig lauter. »Du machst komische Gesichter, genau wie ich!«

»Ja, schon möglich.« Nachdenklich betrachtete ich die Kriegerin, die mir jetzt mehr denn je wie ein kleines, verspieltes Mädchen vorkam, und beobachtete sie dabei, wie sie wieder davon sprang und mit tänzelnden Schritten den Weg entlang eilte. »Beeil dich!«, rief sie mir lachend zu. »Die Nächte sind lang und gefährlich, und du willst doch bald in Undercity sein!«

Ein tiefer Seufzer entrang sich meiner Kehle, bis ich noch ein wenig schneller lief und Inessa folgte. Wenigstens begannen wir jetzt, mit einer Geschwindigkeit durch den Wald zu wandern, die ich gerne von Anfang an angeschlagen hätte; allerdings hatte das keinerlei Einfluss auf die Laune meiner erwachsenen kleinen Begleitung, die mir singend und lachend den Weg wies.

*

Der Weg wurde immer enger, je weiter wir gingen. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, als würden die verfluchten Bäume auf uns eindringen und die wilden Bestien verstecken wollen, die zwischen ihnen hausten und von denen wir immer wieder ihr Heulen wahrnahmen. Inessa musste bemerkt haben, dass ich mir Sorgen machte, denn sie lief bereits seit geraumer Zeit neben mir her und hielt meinen Arm umschlungen. Zuerst hatte ich eher überrascht und abweisend reagiert, dann jedoch sofort ein schlechtes Gewissen bekommen, kaum dass ich ihren bedauernden, fast schon enttäuschten Blick gesehen hatte. Jetzt hatte ich also nur noch einen Arm frei, mit dem ich die Fackel hoch über unsere Köpfe hielt, und beobachtete misstrauisch die Gebüsche und Bäume, die den Wegesrand säumten.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, wisperte mir Inessa gerade zu. »Die wilden Hunde jagen nur nach uns, wenn sie sehr, sehr hungrig sind. Meistens jagen sie die riesigen Fledermäuse, die sind einfacher zu töten.«

»Riesige Fledermäuse?«, fragte ich mit einem flauen Gefühl im Magen.

»Ja, so groß wie ein Hund! Aber noch ein bisschen kleiner als die Hunde, die hier leben.« Inessa seufzte leise und kuschelte sich dabei noch ein wenig mehr an mich, was mich allmählich doch nervte. »Sie essen gerne die Hunde, wenn sie hungrig sind. Sie kämpfen oft miteinander, aber verschwinden sofort, wenn ich komme. Sie schmecken gut…«

Ihre letzte Bemerkung ließ Neugier in mir aufkeimen. »Bist du etwa hungrig?«

»Ein wenig. Ich esse gerne!« Sie grinste mich breit an. Bei ihrem Anblick konnte ich kaum glauben, dass genau diese Frau mich vor noch nicht einmal einem Tag in einer Taverne verprügelt hatte, scheinbar aus reiner Freude am Kampf heraus. Entweder war sie wirklich verrückt, oder sie hatte eine zweite Seele in ihrem Körper wohnen, die nur selten herauskam und dafür umso brutaler vorging.

»Isst du denn nicht gerne?«

»Ich habe nie darüber nachgedacht«, antwortete ich mit einem Achselzucken. Tatsächlich verspürte ich weder Hunger noch Durst noch Erschöpfung, und das, obwohl ich schon seit fast zwei Tagen unterwegs war. Etwas in meinem Hinterkopf sagte mir, dass ich schon längst müde sein müsste, aber dennoch ging ich mühelos den Weg entlang.

»Du musst unbedingt gebratene Fledermausschwingen probieren! Sie schmecken köstlich!«

»Warum nicht?« Ich lächelte Inessa kurz an, bevor ich mich wieder auf die Straße konzentrierte. »Ist es noch sehr weit bis nach Undercity?«

»Wir müssten gegen Sonnenaufgang dort ankommen. Falls wir keine Pause machen und ein paar Fledermäuse jagen!«

»Ich glaube, ich verzichte dankend auf die Fledermäuse.«

»Wirklich?!« Ich konnte meiner Begleiterin die Enttäuschung anhören, blieb aber dieses Mal entschlossen. »Ich muss so schnell wie möglich nach Undercity. Dringende... Geschäfte warten dort auf mich.«

»Was für Geschäfte?«

»Das darf ich dir nicht sagen.«

Die Frau brummte etwas vor sich hin, das ich nicht verstand, hatte aber bald wieder zu ihrem fröhlichen Gemüt zurück gefunden. Ihre Laune hellte sich noch weiter auf, als wir endlich den Wald verließen und an eine Weggabelung kamen ‒ die erste seit einer gefühlten Ewigkeit. Inessa drückte mich sofort zur rechten Abzweigung hin. »Wir müssen hier lang!«

»Und wohin führt der andere Weg?«

»Da willst du nicht hin«, erwiderte sie ernst. »Die Geisel wartet dort. Sie würden uns sofort töten.«

Inessa musste nicht mehr sagen, um mich von der Wahl unseres Weges zu überzeugen. Trotzdem schaute ich noch einmal neugierig die kleine Straße hinunter, die sich schnell in der Dunkelheit verlor. In weiter Ferne glaubte ich, ein paar Lichtpunkte ausmachen zu können, die auf ein Lager hindeuteten, aber Inessa zog mich rasch weiter und die Lichtpunkte verschwanden hinter einem sanften Hügel.

Die Straße war jetzt viel besser befestigt als zu Anfang unserer Reise. Die Steine sahen aus, als würden sie regelmäßig von Dreck und Moos befreit werden, zumal sie allesamt vorhanden waren. Fackeln waren in regelmäßigen Abständen an Holzpflöcken angebracht und spendeten genügend Licht, um die Straße und alles, was um sie herum lag, erkennen zu können. Ab und zu ertönte sogar das Scheppern von Rüstungen und Schwertern in der Nacht, und ein gerüsteter Wächter kam uns entgegen und passierte uns, ohne uns auch nur eines Blickes zu würdigen. Inessa kommentierte eine dieser Begegnungen mit den Worten: »Sie sind alle so verbittert, dass sie vergessen haben, wie man lächelt.«

»Aber es gibt doch genügend Untote, die über mich gelacht haben. Die Skelette in der Taverne zum Beispiel.«

»Ja. Lachen.« Ihre Stimme klang belegt, während sie die Fackel in ihrem Rucksack verstaute, die wir kurz zuvor gelöscht hatten. »Sie lachen aus Bosheit, Schadenfreude, Hass. Sie lachen nicht, weil sie lachen wollen.«

Wieder einmal überraschte mich die untote Frau mit ihrer Andersartigkeit. Noch während ich über ihre Worte nachdachte, zeigte sie mir das Lächeln, das sie meinte. »Schau! Undercity!«

Ich folgte mit meinem Blick die Richtung, in die sie zeigte. Der Mond war gerade dabei, sich wieder gen Horizont zu senken, aber bereits jetzt wurde er von spitzen Türmen verdeckt, die hoch in den Himmel ragten. Mein Atem, der ohnehin nur noch sehr unregelmäßig ging, stockte vollends, als ich die riesigen Gemäuer erblickte, die sich unterhalb der Türme erstreckten. Obwohl wir noch Meilen von diesem Bauwerk entfernt sein mussten und die Nacht womöglich noch weite Teile davon verschluckte, fühlte ich mich schon jetzt klein und nichtig gegenüber dieses Bollwerks.

Einen Moment später erkannte ich, dass nicht wenige der Türme keine Dächer oder Spitzen mehr hatten, dass die Mauern löchrig und die Zinnen halb verfallen waren. Meine Begeisterung bekam einen merklichen Dämpfer, als ich feststellte, dass Undercity eine Ruine war. Dennoch konnte diese Erkenntnis meine Vorfreude auf die Stadt nicht zerstören. Zu groß und zu mächtig war sie, zu glorreich schien ihre Vergangenheit gewesen zu sein, als dass ich mich nicht hätte freuen können, sie von Nahem sehen zu dürfen.

Selbst Inessa musste bemerkt haben, was für eine Anziehungskraft die alten Gemäuer auf mich auswirkten, denn sie lachte und meinte nur: »Du machst schon wieder ein komisches Gesicht!«
 
Der Charakter von Inessa is diesmal irgentwie komplett anders, gefällt mir.
Schade irgentwie, dass hier das keiner liest, aber schreib weiter!
 
Och, ich denke, das lesen genügend Leute... die "Aufrufe"-Zahl erhöht sich jedenfalls jedes Mal ordentlich, wenn ein neuer Post von mir kommt.
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Kapitel 5 - Die Stadt der Toten



Ich saß in einer Zwickmühle.

Einerseits gierten meine Augen geradezu danach, Undercity zu betrachten, das Ziel unserer kurzen Reise. Je näher wir kamen, desto mehr fühlte ich mich zuhause, fast so, als gehörte ich in diese Stadt, als wäre ich einer der Mauersteine. Ein tiefes Gefühl der Geborgenheit durchfloss mich, wenn ich nur einen Blick auf die Mauern und Türme warf.

Andererseits warf ich immer wieder einen verstohlenen Blick auf meine Begleiterin. Inessa war immer stiller und schweigsamer geworden, je näher wir an die Stadt herangekommen waren. Jetzt, da der Mond sich allmählich gen Horizont senkte und die Sonne erste zaghafte Strahlen über die Welt sandte, konnte ich auch endlich das Tor sehen, das in die Stadt hinein führte. Mächtige Flügel hingen zerborsten und schief in den Angeln. Wären sie nicht zerstört worden, hätten wir unmöglich alleine Zutritt zu der Stadt erlangen können. Bei ihrem Anblick fing mein Herz tatsächlich an zu pochen, was es bisher noch nie getan hatte; die Miene der Kriegerin hingegen versteinerte zu einer Maske des Misstrauens, und sie trug sie mit der unausgesprochenen Warnung, es gar nicht erst zu wagen, sich ihr in den Weg zu stellen.

Ich behielt meine Gedanken für mich. Von allem, was ich bisher über meine Begleiterin wusste, war sie einerseits ein freundliches, lustiges Mädchen, aber auch eine Diebin und Mörderin, die vor nichts zurück schreckte. Bisher war ich nur dem Mädchen begegnet. Auf die andere Twinblade konnte ich jedenfalls gut verzichten.

Die Straße wurde stets breiter, und als wir das massige Tor erreichten, war sie breit genug, um mühelos vier oder fünf Karren nebeneinander fahren lassen zu können. Die Mauern waren von Moos bewachsen und dreckig, aber deshalb nicht minder beeindruckend. Tatsächlich machten sie den Eindruck, als könnten sie selbst jetzt noch jeder Belagerung standhalten, die man gegen die Stadt führen mochte, und sogar die halb verfallenen Türme schienen noch wie geeignet für das Erspähen von anrückenden Feinden zu sein. Lediglich der Tordurchgang, dem neben dem Wehr auch noch Fallgitter wie auch Tore selbst fehlten, war wohl nicht mehr die besten Verteidigung, welche Undercity zu bieten hatte.

Als wir zwischen den Trümmern hindurch die Stadt betraten, empfing uns gespenstische Stille. In den dicht an dicht gedrängten und doch geräumigen Häusern, denen oftmals das Dach fehlte oder deren Wände eingestürzt waren, rührte sich nichts, ebenso wenig wie auf den breiten Straßen, die sich in einem verdächtig guten Zustand befanden. Ich hatte keine Zeit, mich noch ein wenig näher in den Ruinen umzuschauen, da Inessa zielstrebig voran und auf eine Art Palast zuschritt, der weit hinten am Ende der Straße aufragte, und ich mich beeilen musste, um ihr hinterher zu kommen. Ich saugte, so schnell es mir eben möglich war, alle Eindrücke in mich auf, während wir an verstaubten Schänken, alten Wohnhäusern, Webstuben, Schmieden und noch vielen anderen Geschäften vorbei gingen.

Die Straße, die zum Eingang des imposanten Palastes führte, war bald darauf statt von Häusern von Statuen flankiert, die gnädig und wohlwollend auf die Reisenden niederschauten. Einigen der Abbilder alter Krieger und Magier war diese Tätigkeit allerdings nicht mehr gegönnt: man hatte ihnen die Köpfe abgerissen oder den Rumpf zertrümmert, um die Reste würdelos am Boden verwittern zu lassen. Und trotzdem, da kein sichtbares Leben mehr zwischen den Steinen umher huschte, wirkte bei ihrem Anblick eine ehrfurchtsheischende Ausstrahlung auf mich, und ich konnte nicht anders, als zögerlich meinen Kopf zum Gruße zu senken, während ich sie passierte. Fast glaubte ich, dass mir eine der steinernen Frauen im Vorbeigehen verschmitzt zu schmunzelte, doch als ich mich verwirrt umdrehte, um noch einmal genau nachzusehen, hatten sich die Lippen zu einem feinen Lächeln zusammen gefunden. Mit einem teils unguten, teils wundersam warmen Gefühl im Magen wandte ich mich um und folgte Inessa, die bereits die wenigen Stufen zur Pforte hinauf bewältigt hatte.

Das Gebäude selbst schien in guter Form zu sein. Es mochte ungefähr hundert Fuß hoch messen und überragte in diesem vorderen Teil der Stadt alles um es herum. Säulen stützten das spitze Vordach, auch wenn die Reliefs, die sich um den Stein herum wandten, längst verblasst und unkenntlich waren. Die Flügeltüren waren aus den Angeln gerissen und achtlos zur Seite geschmissen worden. Inessa kümmerte sich nicht weiter darum und betrat die Finsternis der eher kleinen Eingangshalle, die lediglich von zwei am Durchgang gegenüber hängenden Fackeln erleuchtet wurde. Zerstörte Möbel standen darin, einstmals kunstvoll gefertigte Sitze und Bänke, die nun einigen Holzwürmern als Wohnstätte dienten oder bereits zu Staub zerfallen waren.

Die nächste Halle, in die wir traten, war kreisrund und machte einen noch imposanteren Eindruck, als es der Anblick des Palastes selbst hatte tun können. Ihr Rand versank in der Finsternis und ich konnte nur schätzen, wie groß sie tatsächlich war. Sie wurde, ebenso wie das Vordach draußen, von riesigen und dicken Säulen gestützt, deren vordere Seite man noch erkennen konnte, die dann aber in der Dunkelheit verschwanden. Zwei weitere Ausgänge, die in dieselbe Richtung zu führen schienen, wurden von Fackeln flankiert und öffneten sich gegenüber jenem, durch den wir gerade hereingekommen waren. Zwischen ihnen erhob sich ein gewaltiger Thron, erbaut aus prachtvollem Marmor und geschmückt mit goldenen Ornamenten und kostbaren Edelsteinen sowie meisterhaften Meißelungen. Mit offenem Mund wurde ich mir erst jetzt des ganzen Ausmaßes des Gebäudes bewusst, das eindeutig die Residenz des Königs sein musste.

Gleich vor dem Sitz des Herrschers stand ein aus schwarzem Stein gehauener Sarg, auf dem durch ein Loch in der Decke Licht fiel und ihn so in den Mittelpunkt eines jeden Ankommenden rückte.

Den Atem anhaltend ging ich darauf zu. Jeder Schritt hallte unnatürlich nach, und als Inessa mir folgten, hatte ich das Gefühl, nicht zwei, sondern ein Dutzend Leute würden durch den Königssaal marschieren und dessen heilige Stille durchbrechen. Bei dem Grab angekommen, beugte ich mich vor und las das kleine und reich verzierte Schild, auf dem in geschwungener Schrift eingemeißelt stand:



Hier ruht Menethil, letzter König von Lordaeron, getötet von seinem eigen Fleisch und Blut.



Der Name sagte mir nichts, und irgendwie machte mich das ein wenig traurig. Dass ich mich nicht an ihn erinnern konnte, mochte bedeuten, dass ich niemals unter diesem wunderbaren König gelebt hatte. Schmerzhaft wurde mir einmal öfters bewusst, dass ich ohnehin nichts von mir selbst wusste: Ich hatte keinen Namen, keinen Geburtsort, kein Zuhause, und nicht einmal Anhaltspunkte, an denen ich mich hätte orientieren können.

Ich wäre gerne noch ein wenig mehr in Selbstmitleid versunken, aber Inessa hielt mich davon ab, indem sie mich unsanft weiterschubste. Ich schaute sie verbittert an, kam ihrem stummen Befehl dann aber rasch nach, als sie meinen Blick mit eiskalten Augen erwiderte. Von dem fröhlichen Mädchen war nichts mehr übrig geblieben; stattdessen war sie jetzt ganz die Kriegerin, als die ich sie in der Taverne kennen gelernt hatte. Ich fürchtete mich fast schon vor ihr und hätte es wohl getan, wenn ich ihre andere Seite nicht gekannt hätte; andererseits konnte ich eine gewisse Bewunderung ob ihres vollkommenen Wandels nicht verbergen.

Wir gingen auf einen von zwei Durchgängen hinzu, die beide etwa gleich weit vom Thron entfernt in den hinteren Teil des Palastes führten. Obwohl sie in zwei verschiedene Richtungen zeigten, machten sie nach einer kurzen Strecke eine Biegung und trafen sich wieder in einem weiteren, viel kleinerem Raum, der nur spärlich von in den Ecken stehenden Kohlepfannen beleuchtet wurde und der nichts mehr mit dem Prunk und Ruhm gemein hatte, der noch im Königssaal zu spüren gewesen war.

In der Wand gegenüber der Eingänge war eine Tür zu erkennen, auch wenn sie weder über einen Knauf noch über einen ersichtlichen Mechanismus verfügte, um sie zu öffnen. Sie glich am ehesten einem hohen, spitzen Fenster aus einer Kirche und war von giftgrün leuchtenden Inschriften übersät. Inessa stellte sich direkt vor sie hin und wartete dann geduldig. Ich sah mich noch für einen Moment um, gesellte mich dann aber rasch zu ihr, als ich nichts Interessantes entdecken konnte. Kaum dass ich neben ihr stand, runzelte ich die Stirn und spitzte meine Ohren. Ein dumpfes Grollen drang von irgendwoher an uns heran. Jeder Wimpernschlag wurde es lauter, bis es den ganzen Raum erfüllte und zum Vibrieren brachte. Staub rieselte von der Decke herab und ließ mich bange Blicke nach oben werfen. Inessa hingegen schien sich nicht die geringsten Sorgen zu machen, dass die Decke einstürzen könnte.

Dann, als das Grollen so laut war, dass ich es in meinem ganzen Körper spürte, verstummte es mit einem schabenden Geräusch, als würde Stein auf Stein mahlen. Die Tür öffnete sich einen Moment später, indem sie wie von Geisterhand nach oben geschoben wurde, und gab einen runden Raum preis, der ungefähr so groß war wie jener, in dem wir gerade standen.

Inessa ging geradewegs hinein und winkte mir mürrisch zu, ihr zu folgen. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend betrat ich das Zimmer, dessen Boden mit ähnlichen Runen verziert war wie jene auf der Tür. Kaum, dass ich sie durchschritten hatte, stürzte sie auch schon wieder herunter und verschloss krachend den Eingang.

Das Schaben ertönte wieder, und zu meiner Verwunderung bemerkte ich, wie eine der Fackeln, die an der Wand angebracht waren, gemächlich nach oben wanderte. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich begriff, dass sich nicht die Fackeln, sondern der Boden bewegte und wir uns auf den Weg nach unten befanden. Ich hatte noch nie von solch einer Apparatur gehört, und die grün leuchtenden Verzierungen um uns herum leuchteten immer gespenstischer in der Dunkelheit auf, je weiter wir uns von den Fackeln entfernten. Meine Innereien fühlten sich an, als wollten sie nach oben hin aus mir entfliehen, und Übelkeit machte sich in mir breit, auch wenn das Gefühl schnell wieder verflogen war. Das Grollen wurde lauter, auch wenn es mir bei weitem nicht so ohrenbetäubend vorkam wie vorher, verschwand dann aber bald wieder, als ich spürte, wie wir langsamer wurden. Für einen Moment glaubte ich, die Faust eines Riesen würde auf meinen Schultern lasten und mich nach unten drücken, bis wir schließlich vollends stehen blieben und sich das Gewicht auf wundersame Weise verflüchtigte. Ich erblickte dieselbe Tür wie jene, durch die wir gekommen waren, und als sie sich schleichend öffnete, krabbelte ich auf allen Vieren aus dem verfluchten Raum heraus, sobald der Schlitz breit genug war.

Ich kroch mit vor Angst zugeschnürter Kehle noch ein wenig weiter, bis ich glaubte, weit genug von diesem Teufelswerk entfernt zu sein. Erst dann richtete ich mich zitternd auf. Gerade, als ich ein paar saftige Flüche murmeln wollte, hob ich meinen Blick und verstummte, noch ehe ich etwas sagen konnte.

Wenige Schritte vor mir endete der Boden mitten im Nichts. Stattdessen breitete er sich den Wänden folgend aus und bildete so eine kreisrunde Plattform, von der aus an vier Stellen riesige Treppen in die Tiefe führten. Sie endeten bei einer weiteren runden Plattform, vielleicht fünfzig Schritte unterhalb von mir, auf der nichts weiter stand als ein steinerner, quadratischer Bau. Einige wenige Gestalten mühten sich die Treppen hinauf und herunter und überquerten dabei den Platz, ohne sich auch nur für das Haus zu scheren.

Die Ebene, auf der ich mich gerade befand, war dagegen besser besucht. Untote, mit allen Arten von Verstümmelungen und in allen erdenklichen Klamotten gekleidet, huschten umher, plärrten durch die Gegend und verhandelten lautstark mit Verkäufern, die verschiedene Ware anboten. Ihre Geschäfte befanden sich in Nischen in den Wänden, die manchmal nicht breiter als ein Tisch waren, sich aber an anderer Stelle wieder zu ausladenden Höhlen weiteten. Von Früchten und Pilzen über Rüstungen, Waffen und Kleidung schien alles angeboten zu werden, was man sich nur vorstellen konnte.

»Du brauchen Hilfe?«, polterte eine tiefe, merkwürdig vertraute Stimme neben mir. Erschrocken wirbelte ich herum und starrte geradewegs in das grinsende Gesicht von Gordo, der sich ein wenig zu mir heruntergebeugt hatte, um mich besser betrachten zu können. Aus seinem Mund stank es nach verwesendem Fleisch, doch der Geruch fügte sich perfekt zu jenem hinzu, der hier herrschte und am ehesten zu einer Kanalisation passte.

»Gordo!« Ich konnte meine Freude kaum verheimlichen, als ich die riesige Hand packte, die mir die Monstrosität zur Begrüßung hingestreckt hatte. »Was machst du hier? Bist du nicht mehr in den Wäldern unterwegs und suchst nach Kräutern?«

»Apotheker Holland mich nicht mehr gebraucht, weil du ihm gebracht Kräuter. Er geschickt Gordo nach Undercity, und Gordo jetzt Wächter von Undercity.«

»Dann…« Ein weiteres Mal ließ ich meinen Blick über die Ebene, auf der ich mich befand, schweifen, bevor ich mich verwundert an den Riesen wandte. »Dann ist das hier Undercity? Dieses stinkende Loch?«

Gordo nickte grinsend. »Aber Undercity kein Loch, kleiner Untoter. Undercity gewaltig. Undercity große Stadt voller kleiner Untoter.«

Inessa tauchte neben mir auf, warf mir einen höhnischen Blick zu, den ich nicht so recht einordnen konnte, und fragte dann an den Fleischkoloss gerichtet: »Wir suchen einen Untoten namens Direflesh.«

»Er sein im Apothekarium«, antwortete Gordo, ohne zu zögern. »Ihr ihn finden in den hinteren Ecken. Großes Labor, und rund. Einziges rundes Labor im ganzen Apothekarium. Ihr gehen über Treppe«, und er deutete mit einem seiner Finger, die so dick waren wie mein Handgelenk, auf die Stufen direkt vor uns. »Unten überqueren Bankplatz, dann gehen Treppe herunter und gehen in äußeren Ring. Dort gehen nach rechts, finden Apothekarium. Rundes Labor ganz am Ende.«

Inessa begnügte sich mit einem leichten Nicken und ging los. Ich sah ihr für einen Moment nach, bevor ich Gordo ein »Danke!« zurief und ihr dann hinterher eilte.

»Gordo immer hier sein«, rumpelte die Monstrosität. »Wenn Hilfe brauchen, kommen zu Gordo!«

Das Wiedersehen mit meinem Freund, wenn man ihn denn so nennen konnte, hatte mich richtig aufgeheitert. Der Gestank schien weniger aufdringlich zu sein und fast schon erträglich zu werden, die finsteren Katakomben, in denen wir uns befanden, hellten geradezu auf. Das zumindest mochte daran liegen, dass wir uns jetzt auf der mittleren Ebene befanden und das große steinerne Haus rundherum mit Fackeln ausgestattet war, die an den rußgeschwärzten Wänden hingen. Alle paar Schritt weit war ein Fenster mit einem Gitter davor in den Mauern eingelassen, und dahinter schien reger Betrieb zu sein. Als wir bei einem der Fenster vorbei kamen, traute ich meinen Augen kaum: Berge von Gold türmten sich genau in der Mitte des Raumes auf, und allem Anschein nach war das nur die Spitze des Haufens, die aus einem riesigen Loch im Boden hervor schaute. In Regalen, die an den Wänden standen, fanden sich noch unendlich viele andere Dinge wie Tränke, Schwerter, Rüstungen, Schilde, sogar Fleisch, Pilze und Met fein säuberlich aufgereiht.

Wie betrunken von dem Anblick blieb ich stehen und starrte die Schätze an, bis auf einmal etwas mein Handgelenk packte und mich halb von den Füßen riss. Noch bevor ich überhaupt aufschreien konnte, klatschte ich mit meinem Gesicht gegen die Gitterstäbe des Fensters und sah mich einer breit grinsenden, merkwürdig durchsichtigen Dame gegenüber. Ihre Miene konnte nur als diebisch bezeichnet werden, und ihre Haare schienen ein beunruhigendes Eigenleben zu haben, denn eine der grell-weißen Strähnen hielt noch immer meinen Arm umklammert.

»Na, genug gesehen? Wird Zeit, dass du deine Ersparnisse vorbei bringst, Kleiner!«

Ich verstand nicht im geringsten, was sie meinte, und schaute sie auch entsprechend an. Ihr Grinsen wurde dagegen noch ein Stückchen breiter, während sie etwas fester an meinem Arm zog. Die ersten Knochen knirschten wie morsches Holz, was meine Zunge sofort lockerte. »Aufhören! Was muss ich tun?!«

»Oh, das erledige ich schon!« Mit ihrem Grinsen, das dem eines Haifischs immer ähnlicher sah, ließ sie eine ihrer Haarsträhnen zwischen die Stäbe hindurch gleiten und an meinem Gürtel herum nesteln; einen Moment später zog sie sich mit meinem Lederbeutel voll Geld wieder zurück. Gleichzeitig entließ die Frau meinen Arm, und ich stolperte überrascht ein paar Schritte zurück.

»Vielen Dank für deine Einzahlung, Kleiner!«

Ich blieb nicht lange genug, um etwas zu erwidern, sondern hastete die Treppe hinunter, die direkt vor mir lag. Inessa folgte mir gemächlich, und ich hätte schwören können, dass sie innerlich vor Lachen zusammenbrach, auch wenn man ihrer Miene nicht das Geringste ansehen konnte.

Zu meiner unendlichen Erleichterung blieben mir weitere Begegnungen mit geisterhaften Bankiers erspart. Wir folgten dem Tunnelsystem der Katakomben, bis wir uns in einem riesigen Gang wiederfanden. Die Decke schwebte mindestens fünfzig Schritte über uns und verengte sich zu ihrer Spitze hin. Unter ihr waren zu beiden Seiten des Gangs breite Stege aus Stein angelegt, und in der Mitte zog sich ein grünlich-dreckiger Fluss träge dahin, von dem ein ungeheurer Gestank ausging. Obwohl überall Kohlepfannen oder Fackeln Licht verbreiteten, schafften sie es bei weitem nicht, die Dunkelheit vollkommen zu vertreiben, und so verblieben überall dunkle und schattige Nischen, in denen man zwar Bewegungen erkannte, aber nicht sagen konnte, wer sich dort genau befand. Alles in allem schien Undercity kein sonderlich angenehmer Ort zu sein, und dennoch fühlte ich mich geborgen und wie zu Hause, auch wenn ich nicht verstehen konnte, warum.

»Wir sind gleich da«, brach Inessa ihr Schweigen, als wir dem Fluss für eine Weile gefolgt waren. Ich nickte, und während wir gingen, sah ich mich möglichst verstohlen um. Erst als ich mir sicher war, dass sich niemand in unmittelbarer Nähe befand, fragte ich sie leise: »Warum dieses Gehabe?«

Ihr Lächeln war kühl und berechnend, ganz anders, als ich es von ihr in Erinnerung hatte. Sie glich jetzt mehr denn je der Kämpferin aus der Taverne, als die ich sie das erste Mal gesehen hatte. »Ich habe lange gebraucht, um mir einen guten Ruf aufzubauen. Eine falsche Bemerkung, und die ganze Arbeit wäre umsonst.«

»Warum bist du dann nicht einfach, wer du bist?«

Sie sah mich mit einer Mischung aus Mitleid und Verbitterung an. »Keine Sorge, du wirst es noch früh genug herausfinden.«

Ihre kryptische Antwort ließ mich verstummen. Sie wollte offensichtlich nicht darüber reden, und ich verspürte nicht das Bedürfnis, einer begnadeten Schwertkämpferin auf die Nerven zu gehen. Stattdessen marschierten wir wortlos nebeneinander her, bis wir an eine Brücke kamen und diese überquerten. Auf der anderen Seite öffnete sich die Wand und machte für eine kleine Halle Platz, die mit Tischen und seltsamen Geräten vollgestopft war. Ein Glaskonstrukt stand neben dem anderen, voller Kolben, sich windenden und drehenden Röhrchen und allerlei mehr. Flüssigkeiten schwappten hin und her, köchelten auf kleiner oder großer Flamme vor sich hin, wechselten ihre Farben innerhalb weniger Sekunden und jagten durch das Glas. Aus jeder Ecke drang das Pfeifen der Gerätschaften, die unter Druck standen, und an jedem der Tische huschte ein Untoter mit dreckiger Robe und im Wahn weit aufgerissenen Augen herum, der vor sich hin murmelte, hastig Notizen machte oder an den Geräten herum pfuschte.

Inessa ignorierte sie alle und steuerte geradewegs auf einen Durchgang zu, der sich im hintersten Winkel der Halle verborgen hielt. Ich folgte ihr, auch wenn ich den Geschehnissen um mir herum etwas mehr Aufmerksamkeit schenkte; allerdings nur so lange, bis eines der Gläser etwas weiter weg von mir mit einem lauten Knall barst. Die Flüssigkeiten ergossen sich augenblicklich auf den Tisch fingen an, diesen unter lautem Zischen zu durchbohren. Das verrückte Kichern des Untoten, auf dessen Robe ebenfalls ein paar Tropfen gelandet waren und diese bereits zersetzten, schreckte mich so sehr ab, dass ich die letzten Schritte bis zum Durchgang rannte.

Inessa erwartete mich bereits in einer Halle, die jener erschreckend glich, die wir gerade verlassen hatten. Sie war kleiner, aber dafür umso voller gepackt mit den gläsernen Experimenten. Auf einem Tisch sah ich beim Vorbeigehen etwas, das einer Monstrosität glich, auch wenn es weder Kopf noch Arme besaß und am ehesten einem verrottenden Haufen von Leichenteilen glich, die jemand ohne Nachzudenken einfach aneinander genäht hatte. Der Untote, der sich gerade über den riesigen Wanst beugte und etwas darin zu suchen schien, brabbelte unablässig vor sich hin. Ich verstand fast kein Wort, aber als wir ihn schon halb passiert hatten, erhaschte ich doch einen wütend geäußerten Satz: »Warum lebst du nicht, du verrottende Made?!«

Schlagartig blieb ich stehen und sah den Untoten an, der sich jedoch schon wieder an seiner Kreatur zu schaffen machte. Mein Blick fiel auf die Leichenteile, dann auf meine Hände. Eine Frage, die sich mir schon längst hätte stellen müssen, drängte jetzt mit aller Gewalt in mir hoch.

Warum lebte ich?

Eine filigrane Hand packte mich energisch und zog mich rücksichtlos weiter. Ich fiel fast hin, als ich Inessa hinterher stolperte, und die Kriegerin ließ mich erst los, als ich wieder neben ihr her ging. Sie ignorierte dabei so gekonnt meine giftigen Blicke, dass ich nicht sagen konnte, ob sie sie überhaupt bemerkte.

Dennoch hatte ich die Frage bereits gestellt, und jetzt ließ sie mich nicht mehr los. Ich erinnerte mich an nichts aus meiner Vergangenheit, ich hatte keinen Namen, keine Eltern, keine Geschwister. Aber irgendetwas - oder irgendwer - hatte mich zurückgeholt, und das bedeutete, dass es irgendwo jemanden geben musste, der mich kannte, der mich womöglich sogar brauchte. Oder, was meiner Hoffnung umgehend einen entscheidenden Dämpfer gab, ich war nur ein zufälliges Opfer, das es eben erwischt hatte, ohne Hintergedanken, ohne Plan.

Kurz entschlossen wandte ich mich an meine Begleiterin. »Inessa, warum lebst du?«

Die Frau blieb nicht stehen, sah mich aber mit einem verwirrten Blick an. »Was meinst du?«

»Warum lebst du? Hat dich jemand beschworen? Warum wurdest du als Untote auferweckt?«

Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, als hätte ich etwas gesagt, das besser unerwähnt geblieben wäre. »Nicht hier, nicht jetzt«, erwiderte sie knapp und leise, als befürchte sie, man könne uns hören. Etwas lauter fügte sie hinzu: »Wir müssten gleich bei Direflesh sein.«

Ich nickte, wenn auch widerwillig. Ich hatte das Gefühl, einer Antwort auf meine Frage so nahe zu sein, dass ich sie nur zu greifen brauchte, und Inessa hielt meine Hand fest, um mich daran zu hindern. Um mich ein wenig abzulenken, griff ich in meine Hosentasche und befühlte kurz den Brief, der noch immer dort saß. Er fühlte sich inzwischen reichlich verknittert an, und das Pergament schien rauer zu sein, als es vorher gewesen war, aber es war mir fast egal. Der Auftrag war, den Brief zu überbringen; in welchem Zustand er sein sollte, hatte niemand erwähnt.

Schließlich - nachdem wir noch einige ähnliche Räume mit unterschiedlich stinkenden Gerüchen und unterschiedlich verrückten Untoten passiert hatten - kamen wir bei einer Tür an, der ersten und scheinbar einzigen im ganzen Apothekarium. Unansehnliche Brandflecken prangerten auf dem Holz, und ein Schildchen aus Messing verkündete matt den Namen des Besitzers: Zacharias Direflesh.

Inessa stellte sich neben die Pforte, lehnte sich lässig an die Wand und schaute mich erwartungsvoll an. Für einen Moment erwiderte ich ihren Blick nur ausdruckslos, bis ich mir selbst einen Ruck gab und drei Mal an der Tür klopfte. Das Pochen klang sehr dumpf, das Holz musste ziemlich dick sein.

Zur Antwort ertönte das gedämpfte Knirschen eines alten Schlosses und das Klirren von Ketten. Es dauerte einige Sekunden, bis es endete; dann sprang die Tür regelrecht auf, krachte lautstark gegen die steinerne Mauer und fegte mich dabei fast von den Füßen.

Eine kleine Gestalt, in einer teuer aussehenden, purpurnen Robe gekleidet und mit einem Gesichtsausdruck, als wollte sie mich im nächsten Moment zum Teufel jagen, starrte mich an. Die Augen des Untoten leuchteten in einem trüben Weiß, das irgendwie gefährlich aussah. Noch bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte, schnarrte er mich mit einer krächzenden und bösartigen Stimme an: »Wer bist du Wicht und was willst du von mir?«

Angesichts der Tatsache, dass ich fast einen Kopf größer war als mein Gegenüber, fand ich diese Beleidigung fast schon lustig; als ich jedoch in seine Augen blickte, verging mir jegliches Lachen. Rasch zerrte ich den Brief aus meiner Hosentasche hervor und überreichte ihn den Knilch. »Ein Brief für Euch«, erwiderte ich mit mehr Respekt, als ich gerne in meine Worte gelegt hätte.

Der Apotheker riss mir den Umschlag aus der Hand, öffnete ihn ungestüm und schmiss ihn dann auf den Boden, kaum dass er den eigentlichen Brief in den Händen hielt. Seine Augen huschten über die Worte, die dort geschrieben standen; am Ende angelangt, knüllte er das Pergament einfach zusammen, warf es achtlos über die Schulter, streckte mir seine Hand entgegen und sah mich mit verbitterter Miene an.

Ich erwiderte seinen Blick voller Ahnungslosigkeit. Für eine Weile standen wir schweigend so da, bis meinem Gegenüber der Kragen platzte. »Mein Geld!«, schrie er mich mit sich überschlagender Stimme an.

»Was für Geld?«

»Was für - du willst mich wohl auf den Arm nehmen, du jämmerliche Ratte?!«

Das war der Zeitpunkt, da mein Respekt für den erbarmungslosen Blick des Untoten verblasste und mein Zorn obsiegte. Ohne ein weiteres Wort an den Giftzwerg zu verschwenden, drehte ich mich um und winkte Inessa, dass ich gehen wollte.

Ein merkwürdiges Zischen ertönte in meinem Rücken. Dann, als ob plötzlich ein Feuer in meinem Rücken entfacht worden wäre, spürte ich eine unheilvolle Wärme auf mich zukommen. Ohne darüber nachzudenken, warf ich mich zur Seite und in den Dreck; gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie ein faustgroßer Flammenball über mich hinweg zischte und an der Wand zerschellte, wo er die Steine rauchend und geschwärzt hinterließ.

Einen Moment später thronte Direflesh mit funkelten Augen über mir. Seine eine Hand stand in Flammen, und mit der anderen packte er mein Hemd und zog mich näher an sein Gesicht. Seine Nase glich jetzt, da ich sie so genau in Augenschein nehmen konnte, jener einer Ratte, und aus seinem Mund drang der faulige Gestank von Essensresten, die nicht einmal mehr frisch gewesen waren, als er sie gegessen hatte. »Ich frage dich zum letzten Mal, Bursche. Wo ist mein Geld?!«

»Ich weiß nichts von irgendwelchem Geld!«, gab ich panisch zurück.

»Lüge!« Das Gesicht des Untoten verzerrte sich vor Wut, und was er noch an Spucke in seinem Mund besaß, verteilte sich über mir, als er mich anschrie. »In dem Brief stand, dass du mir die Hundert Goldstücke bringen würdest!«

»Ich - ich habe kein Gold -«

Im nächsten Moment schüttelte mich der Knilch so sehr, als wollte er mich gleich umbringen, während sein Wutgeheul durch das ganze Apothekarium hallte. Dann, vom einen Moment auf den anderen, ließ er von mir ab. Ich nutzte die Gelegenheit, um hektisch von ihm weg zu krabbeln und ihn dabei nicht aus den Augen zu lassen.

Der Blick, den er mir zuwarf, gefiel mir gar nicht. Als dann auch noch ein widerwärtiges Lächeln auf seinen Lippen Platz nahm, schwante mir Übles.

»Ab sofort arbeitest du für mich, bis die Hundert Gold abbezahlt sind.«

Ich starrte den Untoten wortlos an. Er nahm meine Sprachlosigkeit wohl als Einverständnis, denn ohne auf eine Erwiderung zu warten, stürmte er zurück in sein Laboratorium. Bevor er die Tür hinter sich zu riss, steckte er jedoch noch einmal seinen hässlichen, unförmigen Kopf heraus. »Ich brauche Krötenaugen, das Gift einer Orgrimmar-Natter und die Innereien eines Stranglethorn-Tigers! Wenn du mir all das nicht binnen eines Sonnenumlaufs besorgt hast, werde ich dich eigenhändig verbrennen!«

Dann knallte er die Tür mit solcher Wucht zu, dass ich den Luftzug spüren konnte, obwohl ich einige Schritte von der Pforte entfernt auf dem Boden saß.

Ich brauchte eine Weile, bis ich verstanden hatte, was gerade passiert war. Als ich meinen Blick endlich von der Tür losreißen konnte, fiel er auf Inessa, die mich grinsend ansah. »Und genau deshalb bin ich nicht ich selbst.«
 
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*hust* Ja, ich lebe noch. Entschuldigung für die lange Wartezeit, und... hoffentlich liest das hier überhaupt noch einer.
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Kapitel 6 - Von Räubern und Giften

»Dieser... dieser...«
Händeringend suchte ich nach einem Wort, das meinen Gefühlen Direflesh gegenüber gerecht werden konnte. Madenfressende Leiche war bereits ebenso gefallen wie verlauste Kanalratte, winzige, kotfressende Wanze und noch einiger anderer Wortkreierungen, die Inessa immer wieder zum Schmunzeln brachten.
»Du solltest dich weniger in deinen Zorn steigern und lieber noch einmal darüber nachdenken, was du ihm besorgen solltest«, unterbrach sie meine Suche nach einem neuen Titel.
Ungläubig starrte ich sie an, während sie entspannt ihren Krug hob. »Ich soll diesem Hackebeil-Knilch behilflich sein und mich zu seinem Sklaven machen? Ist es das, was du sagen willst?«
Die Kriegerin legte ihren jetzt leeren Krug auf den Tisch. Es dauerte keinen Augenblick, bis der dürre Wirt - ein unangenehmer Zeitgenosse mit kalten Augen und keinem einzigen Zahn mehr im Mund - sich das Gefäß geschnappt und es mit einem neuen, vollen ausgetauscht hatte. Die kleine, von Menschenhand geschaffene Kaverne, in der sich das Gasthaus befand, war bis auf Inessa und mir vollkommen leer.
Die Frau griff bereits wieder nach dem Krug, als sie nickte. »Es sei denn, du willst lieber von dem Hackebeil-Knilch über einer kleinen Flamme gegrillt werden.«
Ihre Worte hatten mehr Wahrheit in sich, als mir lieb war. Direflesh verfügte über Kräfte, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Der Flammenball etwa hatte mich so sehr erschrocken, dass ich meinen Mund erst aufbekommen hatte, als wir das Apothekarium verlassen hatten. Und selbst ohne diese magischen Fertigkeiten hatte der Untote mehr Eindruck auf mich gemacht, als ich es mir zugestehen wollte. Dennoch schaute ich meine Begleiterin eher mürrisch an, als ich sagte: »Ich frage mich manchmal, auf wessen Seite du eigentlich stehst.«
»Ich stehe nur auf meiner«, erwiderte sie lächelnd. »Jetzt trink endlich, ich will dich noch jemandem vorstellen, bevor wir uns trennen.«
»Trennen?«, wiederholte ich erschrocken. »Warum denn trennen?«
»Ich habe dich nicht aus reinem Vergnügen begleitet. Auch ich habe Auftraggeber. Manche von ihnen sind noch bei weitem schlimmer als Direflesh. Du kannst dir vorstellen, dass ich sie nicht gerne warten lasse.«
Ich zog ein schiefes Lächeln, das ungefähr meinem Gemütszustand entsprach, und schnupperte dann an dem Gesöff in dem Krug vor mir. Es stank nach Abfall, und ich glaubte, eine leichte Note des Kanals von Undercity heraus riechen zu können.
»Du sollst nicht deine Nase hinein stecken, sondern es trinken.«
Ich sah Inessa mit einem finsteren Blick an und versuchte gar nicht erst, meinen Ekel zu verbergen, als ich den Krug hob. Das Zeug war warm, und ich trank es mit einigen wenigen Zügen aus, um mich nicht noch einmal überwinden zu müssen. Gerade, als ich den Krug geleert hatte und ihn so weit wie möglich wegschmeißen wollte, hielt ich mitten in der Bewegung inne. So abscheulich der Geruch auch gewesen war, der Geschmack war das genaue Gegenteil: würzig, fein, sanft. Er entfaltete sich auf meiner Zunge und hinterließ eine wohlige Wärme in meinem Magen.
Vorsichtig stellte ich den Krug ab und starrte ihn dann verwirrt an, bis ich bemerkte, dass sich Inessa bereits erhoben und neben meinen Stuhl gestellt hatte. »Weißt du noch, was du besorgen musst?«
»Krötenaugen, Natterngrift und Tigerinnereien«, gab ich mechanisch zurück, während ich einen weiteren Blick auf meinen leeren Krug warf. »Was ist das?«
»Undercitys Lagerbier. Greg ist der einzige, der das Rezept dazu hat. Fast niemand trinkt es, weil es so abartig riecht.«
Zögerlich stand ich auf und folgte Inessa ein paar Schritt, die bereits auf den Ausgang der Kaverne zuhielt. Im Vorbeigehen warf sie dem Wirt drei Kupfermünzen zu, die dieser geschickt auffing. »Kann man das auch in Flaschen kaufen?«
»Vergiss nicht, was du besorgen musst.«
Wehmütig drehte ich mich noch einmal zur Taverne um, bevor ich mit Inessa den Inneren Ring betrat. Es war nicht viel los auf der Straße; einige Untote huschten umher, und auch einige andere Wesenheiten waren zu sehen. Da waren die großen affenähnlichen Männer, deren Arme so lang waren, dass sie fast auf dem Boden aufschleiften, wenn sie sich zu sehr bückten. Sie hatten kein Haar, sondern wilde Mähnen, kleine Augen, breite Hakennasen und Hauern, die ihnen aus den Mäulern ragten und an jene von Wildschweinen erinnerten. Ihre Gesichter waren oft mit Bemalungen verziert, und ihre Körper waren drahtig und nicht gerade kräftig gebaut. Ich kannte sie als Trolle, auch wenn ich nicht wusste, woher.
Genauso waren mir die Orks ein Begriff: stämmige, grünhäutige Krieger, muskelbepackte Berserker, die mit ihren Äxten und den langen Zöpfen den Eindruck von Barbaren machten. Sie trieben sich gerne mit den Trollen herum, hatten sie doch ebenso wie diese Hauer aus den Mäulern ragen.
Von den Tauren wiederum konnte ich nur einen einzigen Angehörigen der Rasse ausmachen. Sie sahen aus wie Stiere, die sich auf zwei Beinen bewegten und die ihre Hufe für dicke Hände mit drei Fingern eingetauscht hatten. Sie waren noch größer als die Trolle und noch muskulöser als die Orks, aber sie machten insgesamt einen eher friedfertigen Eindruck. Derjenige, den ich gerade erblickte, hatte sich einen mächtigen Kriegshammer auf den Rücken geschnallt und war in voller Rüstung gekleidet. Alleine der Hammer hätte mich mit seinem Gewicht wohl erdrückt, aber die Rüstung hätte ich nicht einmal im Traum anzulegen gewagt.
Von den Blutelfen hatte ich noch niemanden gesehen, aber ich wusste, dass es sie gab. Ich konnte ihnen kein genaues Bild zuordnen, und jedes Mal, wenn ich an sie dachte, befiel mich ein düsterer Groll, den ich mir nicht erklären konnte.
Inessa war inzwischen vorausgegangen, und ich folgte dicht hinter ihr. Wir marschierten an etlichen Geschäften vorbei, die allerlei Plunder feilboten, bis wir die Treppe hinunter zur Bank erreichten. Gerade, als Inessa ihren Fuß auf die erste Stufe setzte, trat ich neben sie. »Sind die Märkte nicht hier? Was wollen wir unten bei der Bank?«
»Nicht die Bank. Wir müssen in den Äußeren Ring. Dort sind die Fleischereien und Alchemisten. Und im Schurkenviertel sind die Giftmischer.«
Zumindest letzteres überraschte mich kein bisschen. Wenn das Viertel schon einen so vielversprechenden Namen hatte, musste es dort neben Giften vermutlich auch genügend Meuchler und Mörder geben, um Direflesh ausschalten zu können.
»Ich werde dich bis dorthin begleiten«, fügte Inessa mit einem verschmitzten Lächeln hinzu. »Keine Sorge, niemand würde sich an Direflesh wagen. Er ist verrückt und paranoid. Fallen sind überall in seinem Haus verteilt, die Eingänge sind magisch abgesichert. Nur jene, denen er es erlaubt, können bei ihm gefahrlos eintreten.«
Entgeistert darüber, dass sie meine Gedanken gelesen und dazu noch von Direflesh gewusst hatte, trottete ich geknickt neben ihr her. »Und warum hast du mich dann zu ihm gehen lassen, wenn du das alles wusstest?«
»Ich konnte ja nicht ahnen, dass du ihm Gold schuldest.«
Mein Blick brachte sie zum Lachen, was meine Laune noch tiefer sinken ließ.
Wir bahnten uns unseren Weg durch fast leere Gänge und dunkle Ecken. Schon bei unserem ersten Gang durch Undercity zum Apothekarium war mir aufgefallen, dass die Katakomben nicht sonderlich gut ausgeleuchtet waren, sich aber scheinbar niemand darum scherte. Dieser Eindruck verschärfte sich jetzt noch mehr: Fackeln hingen verloschen in ihren Halterungen, Kohlepfannen waren leer gebrannt und nicht wiederaufgefüllt worden. Manche Gänge verschwanden in finsteren Löchern, die ich noch erstaunlich gut ergründen konnte. Aber selbst meine Augen reichten nicht weit genug, um feststellen zu können, was sich in den hintersten Winkeln verbarg.
Es dauerte nicht lange, bis ich begriff, warum ausgerechnet hier Läden zu finden waren. Das Geschäft etwa, das sich um Alchemie-Bedarf kümmerte, war nicht mehr als ein paar Regale, vollgestopft mit den absonderlichsten Dingen, die ich jemals gesehen hatte. Neben eingelegten Augen von Kröten, von denen wir ein Glas voll nahmen, fanden sich noch Dinge wie Krähenschnäbel, zu Staub zermahlene Ochsenhörner und Elfenohren im Sortiment. Die Besitzerin war eine buckelige, sabbernde Leiche, die uns mit verdrehten Augen ansah, immerzu lächelte und mit ihren Händen, an denen Fingernägel wie Klauen prangerten, durch den Kopf strich. Nicht selten ritzte sie sich dabei auf, leckte dann schwarzes Blut von ihren Fingern und kicherte dabei wie eine Verrückte.
Nicht weit von ihr entfernt erkannte ich einige weitere Läden, und die meisten von ihnen schienen einen ähnlichen Besitzer zu haben wie der Alchemie-Bedarf.
Allerdings hatte das wandelnde, verrottende Stück Fleisch einen lichten Moment, als es um die Bezahlung ging. »Fünf Silberstücke!«, kreischte sie mich an und fuchtelte dabei mit ihren Händen dermaßen vor meinem Gesicht herum, dass ich befürchtete, sie würde mir gleich ein Auge ausstechen.
»Dinge für Direflesh«, gab ich nur mit ruhiger Stimme zurück. »Er wird bezahlen.«
Die Wirkung trat ein, kaum dass die Alte meine Worte vernommen hatte. Sie wich vor mir zurück, nickte nur eifrig und stammelte dabei irgendetwas vor sich hin, was ich nicht verstand. Mit steifer Miene wandte ich mich mit dem Glas fest in der Hand von ihr ab, zwinkerte Inessa kurz zu und verschwand dann mit ihr in der Dunkelheit.
»Nicht schlecht«, meinte sie anerkennend, als wir uns auf den Weg zur Fleischerei machten.
»Von dem zu schließen, was du mir erzählt hattest, muss Direflesh stadtbekannt sein. Ich dachte mir, dass er auf andere Untote einen ähnlichen Einfluss haben muss wie auf mich.«
»Trotzdem, du hast das sehr schnell herausgefunden. Du scheinst schlauer zu sein, als du aussiehst.«
Ich wusste nicht, ob ich mich stolz oder beleidigt fühlen sollte, deshalb ließ ich ihren letzten Kommentar unbeantwortet und folgte ihr nur der Mauer entlang, welche den Äußeren vom Inneren Ring trennte.
Für die nächste Zeit waren die Geräusche unserer Stiefel und das Glucksen des giftgrünen Flusses alles, was ich vernehmen konnte. Die Läden hatten wir ein Stück hinter uns gelassen, und vor uns führte die Straße in die Dunkelheit, die wieder seltener von Fackeln durchdrungen wurde.
»Die Diebe und Mörder scheinen es zu mögen, im Finsteren zu leben«¸ murmelte ich mit einem sarkastischen Unterton in der Stimme. Inessa war er nicht entgangen, denn sie lächelte zur Antwort. »Ich vermute, es schärft ihre Sinne. Sie agieren meistens in der Dunkelheit, warum sollten sie also nicht auch in ihr leben?«
»Kein ehrbarer Mann lebt gerne in der Dunkelheit.«
Die Kriegerin sah mich mit großen Augen an und unterdrückte dann nur mit Mühen ihr Lachen, so sehr, dass sie sich sogar die Hand auf den Mund legte. Gereizt setzte ich hinzu: »Ich wüsste nicht, was daran so lustig sein soll.«
Inessa brach in schallendes Gelächter aus, das von den Wänden hin und her geworfen wurde und sich bald anhörte, als würde eine Heerschar von Frauen mich auslachen. »Als ob auch nur ein einziger Untoter wüsste, was Ehre bedeutet!«
Ihre Worte trafen mich hart genug, dass ich stehen blieb. Natürlich hatte sie Recht. Wir waren Untote, reanimierte Leichname, die über eine Welt wandelten, in der es sie wahrscheinlich nicht einmal geben sollte. Ich hatte bereits oft genug den Ausdruck der Lebenden in Undercity gesehen, wenn sie meinem Blick begegnet waren: Abneigung, Verständnislosigkeit bis zu Hass. Niemand schien einen Untoten auch nur leiden zu können.
»Komm schon, du Scherzvogel. Das Schurkenviertel ist gleich da vorne.«
Ich scheuchte die Gedanken aus meinem Kopf, besonders jene, die mir einzureden versuchten, ich wäre besser tot als untot.
Hastig schloss ich zu Inessa auf, die an einem kleinen Torbogen stand. Eine schwere, hölzerne Tür versperrte den Weg. Es war kein Schlüsselloch zu sehen, also musste sie wohl von innen mit einem Balken oder etwas ähnlichem abzuschließen sein. Inessa hob ihre Faust, klopfte drei Mal dagegen, verharrte dann einen Moment und hämmerte noch zwei Mal gegen das Holz.
Scharrend öffnete sich ein Guckloch in der Tür. Das Gesicht, das uns durch die schmale Öffnung entgegen sah, lag hinter einer schlecht geschnitzten, hölzernen Maske verborgen. Soweit ich es erkennen konnte, sollte es wohl einen Teufel darstellen. Mich erinnerte es mehr an einen Ziegenbock mit merkwürdig kurzen Hörnern.
»Losung?«, fragte eine gedämpfte Stimme hinter der Maske hervor.
»Es gibt keine Losung«, erwiderte Inessa.
Der Teufel musterte uns noch für einen Augenblick, dann wurde das Brett wieder an seinen Platz geschoben und das Guckloch versperrt. Holz knarzte und schob gegen Holz, bis die Tür quietschend aufschwang. Der Wächter, in einem schwarzen Umhang verhüllt, deutete mit einer einladenden Handbewegung auf ein winziges Zimmer und den Gang hinter ihm, der tiefer in die Katakomben führte. »Willkommen im Schurkenviertel.«
Inessa marschierte ohne einen weiteren Blick an ihm vorbei und in die Finsternis hinein. Ich hätte wohl noch einen Augenblick bei dem Wächter verweilt, um ihn ein wenig genauer zu betrachten, schon alleine wegen seines Kostüms; allerdings entschied ich mich, lieber nicht zu lange alleine mit ihm in einem Raum zu bleiben. Ich ging also an dem kaputten Stuhl, auf den sich die Wache niederließ, vorbei und der Kriegerin hinterher. Nicht weit vor uns erhellte ein flackerndes Licht den Gang. Weitere Fackeln folgten der ersten, und gleich darauf verließen wir den Stollen.
Der Platz, auf dem wir standen, war klein und gedrungen. Schmucklose Häuser aus Stein drängten sich dicht an dicht beinander, die wenigsten von ihnen schienen Fenster zu haben. Ihre blanken Wände zeugten von der Unkenntnis ihrer Erbauer: sie waren nicht glatt, oftmals nicht einmal gerade. Vielmehr sah es so aus, als hätten ihre Besitzer den billigsten Stein genommen, den sie aufzutreiben vermochten, und diese dann aufeinander getürmt, um nicht mehr gesehen werden zu können. Fackeln waren hier eher spärlich gesät, was überall finstere Ecken und dunkle Gassen begünstigte. Mehr denn je fühlte ich mich wie in einem Schurkenviertel: dreckig, hässlich und voller unsichtbarer Gefahr.
Inessa drehte sich zu mir um, ihre Hand lässig auf den Schwertknauf gelegt. »Du wirst keine Schwierigkeiten haben, hier Gift zu finden. Man verkauft es fast an jeder Straßenecke.«
»Soll das heißen, dass du mich verlässt?«
»Ich hatte das erwähnt. Erinnerst du dich?«
»Natürlich erinnere ich mich«, gab ich missmutig zurück und schaute mich dabei um. »Aber warum lässt du mich ausgerechnet hier alleine zurück?«
»Es wird helfen, deine Sinne zu schärfen.«
»Es wird helfen, mir mit einem Dolch die Kehle durchzuschneiden.«
Inessas Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen, eines jener Sorte, das ich gar nicht ausstehen konnte. »Die meisten Untoten töten keine andere Untoten. Hier«, und sie schnippte mir zwei Silbermünzen zu, die ich auffing. »Das sollte für dein Gift reichen. Deine Innereien musst du dir selbst besorgen.«
»Werden sie denn nicht von Direfleshs Namen eingeschüchtert sein?«
Die Kriegerin zuckte nur mit den Achseln, als sie bereits losging. »Vielleicht. Vielleicht passiert auch das Gegenteil.« Und mit diesen Worten verschwand sie in der Dunkelheit einer der unzähligen Gassen.
Für einen Moment blieb ich nur verwirrt stehen, dann hastete ich ihr hinterher. »Was soll das schon wieder heißen?«
Als ich die Finsternis betrat, konnte ich niemanden vor mir entdecken. Es schien, als wäre Inessa vom Erdboden verschluckt worden. Unsicher tastete ich mich noch ein paar Schritte weiter hinein, als ich bereits erste Abzweigungen von der Gasse vorfand. Die Häuser mussten ein Labyrinth bilden, und ich konnte unmöglich sagen, wie weitläufig es war. Fluchend drehte ich wieder um und lief zum Ausgang des Schurkenviertels zurück. Der kleine Platz war leer, keine lebende oder tote Seele war zu sehen.
Nachdenklich rieb ich die beiden Silbermünzen zwischen Daumen und Zeigefinger aneinander. Wenn ich Inessa Glauben schenken konnte - und bisher hatte sie mich noch kein einziges Mal belogen - dann waren hier mehr Giftmischer unterwegs, als es Klingen gab. Die Frage war, wie ich am ehesten an einen heran kam, ohne dass er mir die Kehle durchschneiden oder meine zwei lausigen Silbermünzen abnehmen würde.
Meine Flucht aus der Taverne kam mir wieder in den Sinn. Tatsächlich formte sich in mir ein Gedanke, der mich sogar zu einem kurzen Lächeln, das erste seit langem, hinriss. Die Häuser waren nicht hoch gebaut, und sie sahen erst recht nicht wetterfest aus. Angesichts der Tatsache, dass sie etliche Meter unter der Erde erbaut waren, war das nicht weiter verwunderlich, aber für mich bedeutete es einen ungemeinen Vorteil.
Rasch wandte ich mich um und lief den finsteren Gang zum Wächter zurück. In dem kleinen Zimmer angekommen, nickte ich ihm nur kurz zu und schob dann die beiden Gläser mit den Krötenaugen unter seinen Stuhl. Er ließ mich gewähren, ohne ein Wort zu sprechen, und ich nahm es als stilles Einverständnis.
Dann kehrte ich eilig zu dem Platz zurück und sah mich, als ich angekommen war, kurz um. Niemand war erschienen, und niemand schien mich zu beobachten. Ein wenig sicherer peilte ich die niedrigste Hauswand an, die ich finden konnte, und nahm dann beherzt Anlauf. Als ich absprang und mich an die Mauerkannte krallte, konnte ich mich ohne Probleme mit den Füßen an den hervorstehenden Steinen abstützen, und im nächsten Augenblick saß ich bereits auf dem flachen, hölzernen Dach des Hauses. Fast alle Gebäude um mich herum schienen so gebaut zu sein: flache Dächer, die praktisch nur aus Holzverschlägen bestanden und die man auf die Mauern gelegt hatte. Manche waren zusätzlich mit Steinen beschwert worden, damit man sie nicht einfach hochheben konnte, aber dennoch waren es armselige, stümperhafte Bauversuche. Die Schurken und Meuchler, die hier lebten, waren entweder nicht viel zuhause, oder ihnen war ein dreckiger Unterschlupf lieber als ein vernünftiges Haus. Je länger ich darüber nachdachte, machte es sogar Sinn: ein hübsches, schön anzusehendes Haus musste in einem Viertel voller Strauchdiebe und zwielichtiger Gestalten zwangsläufig ausgeraubt werden. Je stümperhafter und armseliger aber das eigene Heim aussah, desto weniger Aufmerksamkeit zog es auf sich.
Vorsichtig richtete ich mich auf, darauf achtend, nicht auf ein morsches Brett zu treten und immer auf den Mauern zu stehen. Über mir war keine Decke zu sehen; die von Menschenhand geschaffene Grotte musste riesig sein. Ein kurzer Blick um mich herum ließ mich sogleich daran zweifeln, dass der Sprung auf das Dach eine gute Idee war: Abgesehen von Lichtpunkten, die aus Gassen hervor leuchteten, konnte ich nichts erkennen, außer, dass jedes Haus dem anderen glich. Ich war so verloren wie eine Ratte in einem Labyrinth, und je mehr ich mich umsah, desto mehr fühlte ich mich wie eine.
»Suchst du was bestimmtes?«
Ertappt zuckte ich zusammen und sah mich um. Die Stimme war von unten gekommen, und als ich meinen Hals ein wenig reckte und über die Mauer sah, konnte ich ein Gerippe sehen, das mich fröhlich angrinste. »Gibt nicht viele Untote, die sich auf die Dächer anderer Meuchelmörder trauen.«
»Ich suche einen Giftmischer«, entgegnete ich ausweichend. Ich hatte weder Lust, mich mit dem schäbig gekleideten Kerl zu unterhalten, noch wollte ich ihn verärgern. Womöglich war es sogar sein Haus, auf dem ich gerade stand.
Anscheinend waren meine Sorgen unbegründet, denn ein Lächeln stahl sich auf seine spröde Lippen. Seine Haut verzog sich dabei und knirschte leise wie brüchiges Leder. »Was suchst du dann da oben? Ich bin hier unten!«
Misstrauisch beäugte ich den Untoten. Sein Lächeln mochte mit den fehlenden Zähnen hässlich aussehen, aber es wirkte ehrlich. »Habt Ihr auch das Gift einer Stranglethorn-Natter zum Verkauf?«
»Mein Freund, ich habe alle Gifte, die du jemals brauchen solltest, und noch ein paar mehr!«, gab er lachend zurück. »Komm herunter, es sei denn, du willst durch mein Dach einsteigen!«
Ich konnte mir ein schiefes Lächeln nicht verkneifen, als ich an den Rand des Daches ging und nach einem geeigneten Platz suchte, um herunter zu springen.
Gerade, als ich schon in der Hocke war, hörte ich ein leises Knarzen in meinem Rücken.
Ohne zu überlegen, als hätten alle meine Sinne nur auf das Geräusch gewartet, warf ich mich zur Seite. Ein Messer zischte nur ein paar Zoll weit an mir vorbei und traf die Wand gegenüber, wo es abprallte und mit einem metallischen Klappern auf dem Boden landete.
Ein mürrisches Grunzen ertönte hinter mir, gefolgt von ledernen Stiefeln, die einen hastigen Schritt in meine Richtung taten. Alles wurde von dem Bersten der Bretter übertönt, dem ein lauter Schrei, der Klang von zerbrochenem Glas, ausgeschwappten Flüssigkeiten und saftiges Fluchen aus der Gasse folgten. Als ich mich endlich wieder aufgerappelt hatte, sah ich ein großes Loch im flachen Dach aufklaffen, aus dem ein sanftes, blaues Leuchten drang. Der Untote, der mich hatte herunter locken wollen, rannte gerade davon und verschwand hinter der nächsten Biegung, wo seine Schritte schnell verhallten.
Dafür drangen Geräusche aus der Öffnung vor mir. Für einen Moment war ich versucht, dem Beispiel des Mistkerls, der mich abgelenkt hatte, zu folgen, aber das blaue Licht zog mich fast schon magisch an. Neugierig legte ich mich flach auf den Bauch und kroch etwas näher, um einen Blick in das Haus zu werfen.
Direkt unterhalb des Lochs war der Untote zu sehen, der mich von hinten hatte attackieren wollen. Sein Körper war über und über von Flüssigkeiten benetzt, die in allen möglichen Farben schimmerten. Seine Augen waren weit aufgerissen, und was einmal ein Gesicht gewesen sein mochte, war nun von Verätzungen entstellt. Kampfhaft warf er sich hin und her und röchelte dabei, als hätte man ihm die Kehle durchgeschnitten. Die dreckige Kleidung, die er trug, wies einige Löcher auf, deren Ränder sichtbar weiter wurden.
Ein sanftes, gelbes Leuchten strahlte kurzzeitig in einer Ecke des Raumes, die ich nicht sah, auf. Leises Stöhnen folgte, das nicht von dem Untoten stammte, und einen Moment später tauchte eine mit Kapuze bewehrte Gestalt neben dem Sterbenden auf. Sie war in einer schlichten, grauen Robe gekleidet, bei der jedoch ein Ärmel fortgerissen worden war. Dort, wo die helle Haut nicht sichtbar war, leuchtete nacktes Fleisch in dem blauen Licht, das den Raum erfüllte. Noch während ich es betrachtete, verheilte sie aber schon wieder. Mit großen Augen beobachtete ich, wie die Haut wuchs und sich schützend über die Verletzung legte, um an den Rändern zu verwachsen. Wenige Augenblicke später zeugte nichts mehr von der grausigen Wunde.
Der brutale Tritt, den der Unbekannte dem Untoten verpasste, lenkte mein Augenmerk wieder auf ihn. Das Röcheln wurde kurz lauter, und schwarzes Blut trat aus seinem weit geöffneten Mund hervor. Dann, nach einem letzten Aufbäumen, lag er völlig still.
Ruckartig legte die Gestalt unter mir ihren Kopf in den Nacken, wodurch sie eher unabsichtlich die Kapuze abstreifte.
Grün schimmernde Augen starrten mich an und bohrten sich in die meinen. Spitze Ohren stachen zwischen dem blonden Haar hervor, und auf der zierlichen Nase erschienen Falten, während sich ihr Gesicht zu einer wütenden Maske verzerrte.
Ihr Schrei dröhnte in meinen Ohren wieder, als ich meinen Kopf zurück zog und bereits die Wärme des Feuerballs spüren konnte, der durch die Öffnung zischte und gen der Decke raste. Augenblicklich sprang ich auf, wirbelte herum und landete mit einem beherzten Sprung auf dem Platz.
»Bleib stehen! Bleib stehen, du Ratte! Ich werde dich umbringen!«
Was die hysterische Stimme hinter mir her schrie, bewirkte eher das Gegenteil von dem, was sie von mir verlangte. Anstatt stehen zu bleiben, hastete ich in den Gang, der aus dem Schurkenviertel heraus führte. Die Wache, die am anderen Ende stand, schien mich nicht einmal zu beachten, als ich mir meine Gläser grabschte, die Tür aufriss und hinaus in den Äußeren Ring stürzte.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis mich die Dunkelheit verschluckte. Anscheinend wurde ich nicht verfolgt, denn hinter mir konnte ich die schwere Tür wieder ins Schloss fallen hören. Aber während ich panisch weiter rannte, wurde ich das ungute Gefühl, oder vielmehr die Gewissheit nicht los, mir bereits einen weiteren tödlichen Feind in Undercity gemacht zu haben.
 
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interessante änderungen
ich hoffe du bleibst diesmal auf dem weg und verlierst ihn nicht wieder aus den augen ^^
 
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