[Fantasy] Verlorene Wege

@Albra: Ich hab's zumindest nicht vor.

Die Formatierung zerhaut mir übrigens gerade wieder meinen Text... mit Lücken zwischen jedem Absatz wird's immerhin ein wenig übersichtlicher. Bitte denkt nicht, dass ich das nur mache, um es wie mehr aussehen zu lassen, als es tatsächlich ist. Ich bin schlichtweg zu faul, all die Absätze wieder herauszulöschen, wenn das copy-paste immerhin schon so schön übersichtlich aufgedröselt wird.

PS.: Wenn ihr "plot holes" findet, sagt bitte umgehend Bescheid! Keine Lust, mich wieder im selben Mist zu verfangen wie das letzte Mal...
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Kapitel 8 – Eine neue Haut


Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug. Ich konnte nicht einmal genau sagen, wie viele Tage sie bildeten, weil Undercity komplett von der Sonne abgeschnitten war. Ich zählte stattdessen Fackeln, die abbrannten, und Kohlepfannen, die aufgefüllt werden mussten. Fünf Fackeln waren schon zu kleinen Stümpfen verkommen und ausgetauscht worden seit meinem Ausflug ins Schurkenviertel.

Inessa hatte ich seitdem nicht wieder gesehen. Ohnehin hätte ich keine Zeit gehabt, mich mit ihr zu unterhalten: Direflesh hielt mich erbarmungslos auf Trab, verlangte Kräuter, die man nur in den hintersten Winkeln von Undercity finden konnte, forderte Eingeweide und Gedärme von Tieren, die beinahe ausgerottet waren, und ließ sich alles von mir liefern, ohne auch nur ein einziges Mal Dank zu zeigen. Zu allem Überfluss hatte er es sich auch noch in den Kopf gesetzt, mich stets mit einigen Flammenbällen zu begrüßen. Wahrscheinlich hoffte er, dass ich einmal zu spät ausweichen und mit einem Schlag verbrennen würde; zumindest seine Augen glitzerten stets mordlüsternd, wenn er mich ansah. Nach der ersten Attacke, der ich nur mit viel Glück entronnen war, lernte ich sehr schnell, mich ihm leise zu nähern und nicht allzu lange in seiner Nähe zu verweilen.

Doch so sehr ich das alte Gerippe verabscheute, musste ich dennoch zugeben, dass ich einige kleine Vorzüge genoss, seitdem ich ihm zwangsweise als Laufbursche diente. Zum einen war Direflesh eine stadtbekannte Figur; es genügte vollends, seinen Namen auszusprechen, und Gespräche verstummten. Die meisten der Untoten, die mitbekamen, dass ich für ihn arbeitete, bedachten mich mit einem hämischen Blick. Die wenigsten schienen damit zu rechnen, dass ich den nächsten Sonnenumlauf überleben würde. Andere, vor allem die wenigen Tauren, die ich zu Gesicht bekam, schienen dagegen regelrecht Mitleid mit mir zu haben. Wirte und Schankmeister gaben mir jedenfalls umsonst zu trinken, was ich wollte, entweder aus Mitleid oder aus Furcht. Ich genoss es, solange ich konnte.

Außerdem hatte ich Eintritt in das Refugium des Apothekers erhalten. Wenn man durch die Tür trat, fiel zuerst das bläuliche Netz auf, welches sich kaum sichtbar über den Eingang spannte. Direflesh hatte es mir gegenüber nur ein Mal erwähnt. Es schien all jene in kleine Würfel zu schneiden, die ohne seine Erlaubnis Zugang zu seinem Haus suchten. Von dem Netz abgesehen, glomm in jeder noch so winzigen Ecke des Hauses ein Zauber, von denen die meisten wohl zerstörerischer Natur waren. Nur die helle Lichtkugel, die an der Decke schwirrte und dem alten Griesgram auf Schritt und Tritt folgte, machte einen einigermaßen freundlichen Eindruck.

Das Haus, welches lediglich aus einem verlies-artigen Zimmer bestand, war spartanisch und nutzbringend eingerichtet. Es war praktisch leer, mit Ausnahme einiger gläserner Geräte und Röhrchen, einer Feuerstelle, über der ein rostiger und kaum gebrauchter Kessel hing, und einem riesigen Regal, in welchem Direflesh all das aufbewahrte, was ich ihm brachte. Süßlicher Verwesungsgestank erfüllte stets die Luft, ab und zu geschwängert von dem betörenden Duft fremder Kräuter. Direflesh schien nie zu schlafen, denn er hatte es nicht für nötig gehalten, ein Bett aufzustellen. Dafür führte eine verrottendeTür, die in dem großen Raum ein wenig falsch am Platz wirkte, in eine winzige Kammer, vollgestopft mit Büchern in fremden Sprachen und Sprachen, die ich sogar verstand. Einige dieser Bücher, die ich für interessanter hielt als die anderen, hatte ich kurzerhand eingesteckt, und jedes Mal, wenn ich mir eine kleine Pause zwischen meinen ewigen Botengängen leisten konnte, schmökerte ich in ihnen herum.

Eines hatte es mir besonders angetan. Es befasste sich mit der Kunst der Magie, vor allem der schwarzen Beschwörungsformeln. Schattenblitze waren illustriert dargestellt, mitsamt aller Wörter, die für den Zauber nötig waren, und den dazugehörigen Handbewegungen. Weiter hinten tauchten andere, nützliche Sprüche auf: etwa die Dämonenhaut, welche am ehesten einer magischen Rüstung ähnelte; oder die Beschwörung eines Leerwandlers, welcher den Befehlen seines Herren bedingungslos folgte und für ihn sogar bis zum Tod kämpfte. Gerade der Leerwandler weckte mein Interesse. Er hätte sich um meine Arbeiten kümmern können, während ich das Buch weiter gelesen hätte. Dummerweise verstand ich praktisch nichts von Magie und Beschwörungen, und obwohl ich danach stöberte, konnte ich in Direfleshs Bibliothek kein Buch finden, das mir die grundlegenden Dinge erklärt hätte.

Immer wieder war ich versucht, meinen neuen Meister einmal darauf anzusprechen. Aber jedes Mal hielt mich meine Furcht, ihm auch nur einen Schritt näher zu kommen als unbedingt notwendig, zurück.



Gerade stand ich wieder einmal vor dem Arbeitstisch des Untoten. Was auch immer er braute, es stank scheußlich nach Schwefel, Verfall und Tod. Angesichts dessen, was ich bisher schon im Apothekarium zu Gesicht bekommen hatte, ging ich davon aus, dass Direflesh besonders bösartige Experimente durchführen musste. Solange er jedoch nicht vorhatte, mir etwas von seiner Braukunst verabreichen zu wollen, war es mir ziemlich gleichgültig. Ich legte die kleine Phiole mit Gift, die er von mir verlangt hatte, neben den Überresten irgendwelcher grünlich schimmernden Gedärme, und ging dann rasch zur Tür hinüber.

Direflesh selbst schien sich in seiner Bibliothek aufzuhalten: Licht strahlte aus dem kleinen Raum und der halb geöffneten Tür hervor, und ich konnte hören, wie er achtlos einige seiner Bücher zu Boden warf. Ein Grunzen, dem eines zufriedenen Schweines nicht unähnlich, folgte, und der Apotheker trat wieder in sein Labor, wo er mich an der Pforte zur Freiheit stehend entdeckte. »Ah, du bist schon wieder zurück gekehrt. Tüchtig, tüchtig, der kleine Streuner…«

Er bleckte seine gelben Zähne und eilte zu seinem Tisch hinüber, wo er die Phiole zur Hand und die glasklare Flüssigkeit darin genauer in Augenschein nahm. »Das reine Gift einer Königskobra… was noch? Was könnte noch fehlen?«, murmelte er leise vor sich hin.

Ich beobachtete ihn genau. Direflesh hatte die Angewohnheit, reizbar zu werden, wenn er länger überlegen musste. Seine Wut ließ er gerne an den Wänden seines Hauses aus – die meisten der Steine waren schwarz verbrannt, als hätten unzählige Feuer an ihnen geleckt – und seit neuestem auch an mir.

Als er sich wieder an mich wandte, machte er zu meiner unendlichen Erleichterung einen ruhigen Eindruck, solange man einen Wahnsinnigen ruhig nennen konnte. »Ich muss nachdenken… und du störst mich dabei!«, brüllte er mich plötzlich an. Während ich noch erschrocken zusammen zuckte, hatte meine Hand bereits die Türklinke gefunden und nach unten gedrückt. Der Feuerball zischte über meinen Kopf hinweg, als ich mich hastig duckte, und durch die inzwischen offene Tür hinaus in das Apothekarium. Schreie und Rufe, nicht minder erschrocken wie ich, ertönten, bis das Klirren und Bersten von Glas zu vernehmen war.

»Raus! Verschwinde, und komm nicht vor morgen wieder, oder ich reiße dir deinen Kopf ab!«

Meine Augen wurden groß, als die Worte aus Direflehs Mund an meine Ohren drangen. »Natürlich, Meister!«, erwiderte ich ein wenig zu schnell, um meine Freude verbergen zu können. Einen Moment später rannte ich bereits durch den schlecht beleuchteten Gang in Richtung Äußeren Rings. Die Umhängetasche, die ich inzwischen erstanden hatte, um meine Bücher darin aufzubewahren, hüpfte auf und ab und brachte mich fast aus dem Gleichgewicht, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, wenigstens für kurze Zeit aus Direfleshs eisernen Griff zu entfliehen, um darauf zu achten.

Erst, als ich das Apothekarium mit seinen finsteren Kammern und noch finstereren Bewohnern hinter mir gelassen hatte und wieder vor dem giftgrünen Kanal stand, zwang ich mich, stehen zu bleiben. Es benötigte einiges an Willenskraft, nicht in lauter Jubel auszubrechen und Luftsprünge zu machen; stattdessen folgte ich eilig und mit einem breiten Grinsen im Gesicht dem Fluss, bis ich eine der unzähligen und schlecht gewarteten Brücken fand und auf die andere Seite übersetzte. Nicht einmal die Leere der Katakomben Lordaerons konnte mir meine gute Laune nehmen, während ich meinen Weg fortsetzte.

Es dauerte nicht lange, bis ich die allmählich auftauchenden Giftmischereien und Geschäfte voller Halsabschneider hinter mir gelassen und in den gehobeneren Bereich Undercitys eingedrungen war. Man konnte über den Inneren Ring sagen, was man wollte – dass es hier genauso stank wie in allen anderen Teilen der Kanalisation, dass die Untoten keinen Deut freundlicher waren, und dass man die Stadt der lebenden Toten sowieso besser nie betrat – aber ich fühlte mich hier, wo jeder Winkel von Fackeln ausgeleuchtet war und zu jeder Zeit geschäftiges Stimmengewirr herrschte, rundum wohl. Ich wusste zwar, wie naiv es war, aber es fühlte sich so an, als wäre man hier sicher.

Die unterste Ebene war die schäbigste der drei, welche den Inneren Ring bildeten. Dennoch gab es hier unten ein Plateau mit hervorragender Aussicht auf die grünen, schleimigen Fluten, die sich durch Undercity wandten, und hier wurden auch die hervorragendsten Pilzgerichte gekocht, die man in Undercity bekommen konnte. Jedes Mal, wenn ich an den offenen Feuerstellen vorbei lief und den vom Rauch geschwängerten Inhalt der bauchigen, riesigen Kesseln roch, lechzte es in mir nach einer Schüssel des Pilzragouts, das dort vor sich hin köchelte. Inzwischen hatte ich jedoch auch eingesehen, dass ich in meinem Zustand nur noch bedingt Hunger, Durst und Müdigkeit verspürte. Ich konnte den Begriffen etwas zuordnen; aber sie fühlten sich leer an, wie aus einem anderen Leben, und nicht so bedeutend, wie sie sein sollten. Dennoch gab ich nur zu gerne den Verlockungen nach.

Ich ging an dem sabbernden Untoten vorbei, der versuchte, dressierte, daumengroße Schaben zu verkaufen, und erklomm die Treppe zur mittleren Ebene. Dort stand, alleine und schon deshalb geradezu erhaben, das Bankhaus von Undercity.

Meine Laune erhielt doch noch einen entschiedenen Dämpfer, als mir bewusst wurde, was mir bevor stand.

Ich straffte meine Schultern, nestelte ein wenig an meiner zerrissenen Hose herum und versuchte, möglichst einschüchternd zu wirken, als ich auf eines der Gitterfenster zuging. Noch ehe ich dort angekommen war, konnte ich schon sehen, dass ich erwartet wurde: Die geisterhafte Dame mit dem zum Leben erwachten Haar grinste mich breit an. »Na, mein Kleiner? Hast du etwas verloren?«

»Einen Lederbeutel voller Münzen, um genau zu sein«, erwiderte ich mürrisch. Ich hoffte inständig, dass sie mich nicht wieder mit ihren Haaren packen würde. »Ich brauche mein Geld wieder.«

Als hätte sie nur darauf gewartet, schlängelte sich eine ihrer weißen Haarsträhnen durch die Gitterstäbe. Sie hielt den Lederbeutel fest umschlungen, ließ ihn aber umstandslos in meine offene Hand fallen.

Auch wenn ich mir vorgenommen hatte, sie nicht leiden zu können, konnte ich mir ein Lächeln doch nicht verkneifen. »Ihr scheint Euren Beruf wohl gelernt zu haben, Milady.«

Der Geist starrte mich an, als stände ein lebender Mensch vor ihr. Für einige Augenblicke und mit steigender Panik glaubte ich, etwas gesagt zu haben, das ich gleich bereuen würde; doch stattdessen entspannten sich die Züge der Dame wieder. Sie erwiderte sogar mein Lächeln, und es gab ihr einen sehr hübschen Eindruck, sah man davon ab, dass man die Steine der gegenüberliegenden Wand durch sie hindurch sehen konnte.

»Sicher, dass du ein Untoter bist, Kleiner?«

Ihre Frage überraschte mich so sehr, dass ich nicht so recht wusste, wie ich darauf antworten sollte. Ein Blick auf meine Hände entpuppte sich als äußerst hilfreich, wenn man bedachte, dass meine Fingerspitzen von Ratten angenagt worden waren und die Knochen blank lagen. Ich hielt sie hoch, wackelte ein wenig mit den Fingern und erwiderte: »Ich glaube nicht, dass es daran irgendwelche Zweifel gibt.«

Sie kicherte. Die geisterhafte Dame kicherte wie ein kleines Mädchen, und sie war das erste Wesen in Undercity, dessen Lachen sich nicht falsch oder schadenfroh, sondern ehrlich anhörte. Als ihr mein verwirrter Blick auffiel, zwinkerte sie mir zu. »Ich habe meine Zweifel.«

»Und warum das?«

Mit den Ellenbogen auf dem Fenstersims, stützte sie ihren Kopf in ihren Händen und sah mich belustigt an. »Du wärst der erste Untote, dessen Humor nicht grausam ist und der auch noch freundliche Worte formulieren kann.«

Eine meiner Augenbrauen hob sich wie von selbst. »Ich kann nicht der einzige Untote sein, der freundlich ist. In– eine Weggefährtin von mir ist ebenfalls sehr freundlich, und sie ist untot.«

»Dann muss sie etwas Besonderes sein, genau so wie du.«

»Und was, wenn Ihr die Untoten nur falsch einschätzt? Ihr seid doch selbst untot, oder nicht?«

Der Geist lächelte auf meine Frage hin versonnen. »Es gibt Geister, und es gibt Untote. Geister entstehen durch eine enge Bindung an etwas, das wir zurücklassen mussten. Wir sehnen uns so sehr danach, dass wir zu den Lebenden zurückkehren. Aber Untote, so wie du? Ihr werdet von der Seuche wiederbelebt, die Arthas in das Land geschleppt hat. Ihr ward Menschen; jetzt seid ihr Monster mit einem letzten Rest Willen, um selbst zu bestimmen, wen ihr tötet. Und ihr tötet alles, was lebendig ist, weil ihr es hasst, und die Lebenden hassen euch dafür, und für das, was ihr seid.«

Ich starrte die Frau an. Sie sagte die Worte voller Überzeugung, so sehr, dass es fast schon angsteinflößend war.

»Warum also, mein lieber Freund, schaffst du es, freundliche Worte zu formulieren, obwohl du die Gabe dafür hättest verlieren sollen? Warum schaffst du es zu lächeln, obwohl du keinen geschändeten Leichnam vor dir liegen siehst oder eine Leiche, über die du selbst im nächsten Moment herfallen kannst? Warum beäugst du nicht hasserfüllt die wenigen Lebenden, die sich überhaupt noch in unsere Stadt trauen?«

Hilflos hob ich meine Hände und zuckte nur mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Warum sollte ich die Lebenden hassen? Sie haben mir nichts getan.«

Die Augen der Dame wurden mit einem Mal hart wie Granit. »Die Lebenden verabscheuen uns. Sie würden uns lieber unter der Erde sehen als auf ihr wandelnd. Sie fürchten uns.«

»Ihr hasst sie deswegen doch auch nicht, oder?«, fragte ich zögerlich.

Ihre schemenhaften Lippen formten ein schmales Lächeln. »Ich lebe zu lange, um ewig einen Groll gegen sie zu hegen. Und es wäre zudem schlecht für das Geschäft. Aber ich bin auch ein Geist.«

»Und Geister sind keine Untoten«, führte ich den Gedanken laut zu Ende.

»Du bist der Bursche, der für Direflesh arbeitet, nicht wahr?«

Ich nickte nur stumm, während ich den Lederbeutel einsteckte. Beinahe fiel er durch ein Loch in meiner Hosentasche wieder heraus, und ich musste ihn auf der anderen Seite einpacken. Ich nahm mir noch im selben Moment vor, als erstes anständige Kleider zu kaufen, und einen Gürtel, an dem ich den Beutel festmachen würde.

»Er gehört zum grausamsten Abschaum in unserer Stadt. Lass dich nicht von ihm täuschen. Er mag verwirrt und verrückt wirken, aber er ist das genaue Gegenteil. Bleibe in seiner Gunst, solange du kannst, und verschwinde, sobald es dir möglich ist.«

Ich blickte die Frau ein letztes Mal an, nickte wieder und wandte mich dann von ihr ab. Meine Füße liefen wie von selbst die Stufen zur nächsten Ebene hinauf, während meine Gedanken noch um das Gespräch kreisten. Niemand gab mir eine Chance, noch lange unter ihnen zu weilen. Ich hatte bereits am eigenen Leib erfahren, wie impulsiv Direflesh sein konnte; trotzdem sah es nicht so aus, als würde er in nächster Zeit auf meine Dienste verzichten wollen. Aber womöglich hatte die geisterhafte Dame ja Recht, und er brauchte mich nur noch für eine kurze Zeit. Zum Beispiel so lange, bis er die letzte Zutat für seinen Todestrunk gefunden hatte.

Mir wurde allmählich unwohl, während ich darüber grübelte. Seufzend beschloss ich, mich später damit zu befassen und zuerst einmal ein wenig in meinen Büchern zu schmökern. Als ich aufsah, stellte ich verblüfft fest, dass mich meine Füße direkt zu der heruntergekommenen, viel zu engen Taverne geführt hatten, die mir Inessa gezeigt hatte. Nur zu gerne nahm ich an einem der leeren Tische Platz und nickte dem dürren Wirt zu. Er musste nicht einmal fragen, um zu wissen, was ich wollte, und noch bevor ich mein Buch – jenes über Nekromantie – ausgepackt und vor mir hingelegt hatte, stand bereits ein Krug mit der übel riechenden Flüssigkeit daneben.

Ich kramte rasch meinen Lederbeutel hervor, hielt dann aber kurz inne. Mit einem finsteren Blick und eiserner Miene starrte ich dem Untoten mitten in die Augen, der noch immer neben mir stand und mir seine geöffnete Hand entgegen streckte. »Du weißt, für wen ich arbeite.«

Ein hämisches Grinsen entblößte etliche Lücken zwischen seinen Zähnen, als er antwortete: »Deshalb kassiere ich dich auch gleich ab.«

Ich konnte spüren, wie sich meine Augen zu Schlitzen verengten. Als das Grinsen bestehen blieb, seufzte ich innerlich auf, schnürte aber scheinbar unberührt den Lederbeutel auf und zählte dem Wirt fünf Kupfermünzen in seine Hand ab. »Das sollte für die nächsten Runden reichen.«

Mein Gegenüber grunzte nur zufrieden und verzog sich wieder hinter seine Theke, wo er begann, mit einem schmutzigen Lappen schmutzige Krüge noch schmutziger zu machen.

Ich schlug das Buch auf und blätterte ein wenig durch die Seiten. Der Ledereinband knirschte dabei leise. Obwohl sich bestimmt niemand außer Direflesh selbst in seine Bibliothek verirrte, waren die Bücher zu einem großen Teil in einem erbärmlichen Zustand. Die wenigen, die ich eingepackt hatte, wiesen Risse auf, ihnen fehlten Seiten oder sie waren von Flüssigkeiten benetzt worden, die Löcher in das Pergament gebrannt und die Buchstaben ausgelöscht hatten. Ihr Besitzer ging nicht eben zimperlich mit ihnen um, und das Ausmaß der Zerstörung jagte mir immer wieder einen Schauer über den Rücken, wenn ich Zeuge davon wurde.

Nach kurzer Suche fand ich den Schattenblitz. Schlussendlich war es eine schwarze Kugel aus Magie, die alles auffraß, was sich ihr in den Weg stellte. Sie missachtete herkömmliche Rüstungen und brannte sich in das Fleisch des Unglücklichen, um es zu verzehren. Es schien kein schwerer Zauber zu sein, aber dennoch war er mächtig genug, um den Feind töten zu können. Einige der Illustrationen zeigten Leichen, in deren Brust etwa faustgroße Löcher klafften oder denen Gliedmaßen fehlten. Die Stümpfe sahen aus, als hätte man sie ihnen weggerissen.

Auch wenn das alles grausame Darstellungen waren und sie mir nicht gerade gefielen, faszinierten sie mich umso mehr, da sie so zerstörerisch waren. Wenn ich den Schattenblitz beherrschen würde, hätte ich mich bereits einigen Anweisungen Direfleshs mit Leichtigkeit widersetzen können. Zumindest war das etwas, worüber ich gerne und ausgiebig nachdachte.

Aber ich wusste nicht einmal, ob ich überhaupt dafür geschaffen war, Zauber zu weben. Ich konnte nicht sagen, welche Voraussetzungen man dafür benötigte, noch, ob ich sie besaß. Zwar schwirrte mir immer wieder der Zwischenfall mit dem Zombie im Wald durch den Kopf – das blaue Licht, das erstrahlt war, und der leblose Leichnam, der daraufhin neben mir gelegen hatte – aber ich wusste nicht, was das bedeuten zu bedeuten hatte. In jedem Fall konnte ich nicht auf Hilfe von Direflesh bauen, wenn ich mir irgendwelche magischen Künste beibringen wollte. Ich konnte höchstens versuchen, möglichst viel Wissen zu sammeln und es dann irgendwie anzuwenden.

Ich strich mir nachdenklich über das Kinn, während ich die Seiten ein ums andere Mal durchlas. Es klang alles so einfach, dass ich für einige Augenblicke meine Hand betrachtete, dann wieder die Zeichnung in dem Buch, dann meine Finger genau so wie dort gezeigt verbog. Ich atmete so tief aus, dass ich keine Luft mehr in meinen Lungen zu haben schien; in diesem Zustand konnte ich mich am besten konzentrieren.

So leise, dass es auch der Wirt nicht hören konnte, wisperte ich die fremd anmutenden Worte, die im Buch standen, und ließ zugleich meine Hand nicht aus den Augen.

Als ich das letzte Wort gesprochen hatte, spürte ich ein angenehmes Kitzeln in meinen Fingerspitzen. Aufgeregt wartete ich darauf, dass sich die schwarze Kugel zwischen ihnen bilden, sie wachsen und dann mit atemberaubender Geschwindigkeit hinfort fliegen würde.

Aber nichts geschah.

Enttäuschung machte sich in mir breit. Trotzig wiederholte ich die Worte noch einmal, aber wieder passierte nichts, und auch das Kitzeln blieb aus. Der Gedanke, dass ich es mir nur eingebildet hatte, wurde so unerträglich laut, dass ich mit der eben noch ausgestreckten Hand unwirsch meinen Krug krallte und den Inhalt in einem Zug in mich hinein goss. Murrend und über den Seiten brütend wartete ich darauf, dass der Wirt ihn füllte, und kaum dass das Lagerbier wieder darin herum schwappte, setzte ich den Krug von neuem an und leerte ihn bis zur Hälfte.

Wahrscheinlich war ich eben doch kein Magier, und das blaue Licht hatte ich mir am Ende auch nur eingebildet. Vielleicht war der Zombie einfach so tot umgefallen. Womöglich war seine Zeit abgelaufen, und was ihn zum Leben erweckt hatte, hatte ihn in genau dem Moment verlassen, als er mir in meine Nase hatte beißen wollen.

Ich verbrachte noch ein wenig Zeit damit, einige Seiten des Nekromanten-Buchs zu studieren, mir Wörter und Bewegungen zu merken. Auch wenn es nicht viel Sinn machte, hinterließ es ein gewisses Gefühl der Sicherheit, oder zumindest des Trotzes; ich tat etwas, das mir vielleicht einmal helfen würde. Wenn nicht, dann hatte ich meine Zeit zumindest mit etwas Interessantem verbracht.

Als ich den Krug vollends leerte, packte ich das Buch wieder in meine Ledertasche und machte mich auf. Ich musste nicht lange suchen, um einen Laden zu finden, der Kleidung verkaufte: Stoffroben waren in Undercity hoch im Kurs. Wie schon in Brill zuvor schien auch hier jeder, der Wert auf sich legte, eine reich verzierte Robe zu tragen, um seiner Position Ausdruck zu verleihen. Ich konnte all dem Gehabe nicht viel abgewinnen, aber außer Roben schien es praktisch nichts anderes zu geben. Als ich einen der untoten Schneider auf einfache Hosen und Hemden ansprach, lachte dieser mich aus. »Geh raus und grab einen von den Toten aus, wenn du solchen Tand willst!«, zwitscherte er mir noch hinterher, als ich ihm mit finsterer Miene den Rücken zukehrte und weiter suchte.

Tatsächlich hatten die wenigsten Schneider herkömmliche Kleidung im Angebot. Die meisten hatten sich auf Magierroben spezialisiert, wie mir eine überaus hässliche, aber zumindest nur unfreundliche Schneiderin erzählte. »Wir weben Zauber ein, machen sie robust gegen die Elemente, versuchen manchmal auch, sie gegen Schwerter und Äxte zu wappnen.« Als sie mir einen Blick zuwarf, schüttelte sie aber nur den Kopf. »Du bist kein Magier, und du könntest dir eine Robe nicht mal leisten, also verschwinde.«

Meine Suche endete erst bei einem Händler, der mir überaus dreckige, aber immerhin intakte Klamotten für einen unverschämt hohen Preis überließ. »Nicht die beste Qualität«, gab er grinsend zu, »aber vermutlich die einzigen Hosen, die man in ganz Undercity findet.«

»Sie sehen aus wie frisch aus dem Grab geklaut«, gab ich verärgert zurück, als ich aus der engen Umkleidekabine heraus trat, die hinter dem Stand aufgebaut worden war.

»Was glaubst du, warum sie so teuer sind?«, erwiderte der Verkäufer mit einem bösartigen Lachen.

Meine Hände hätten sich schon längst an die Kehle des kleinen Bastards gekrallt und sie heraus gerissen, wenn ich sie nicht mühsam unter Kontrolle gehalten hätte. Als er die Hand aufhielt und auf die Silbermünze wartete, die er für ein paar zusammen geschneiderte Leinen verlangte, betrachtete ich ihn mit einem möglichst vernichtenden Blick. »Ich bin der Gehilfe von Direflesh.«

Die Hand schloss sich für einen Moment, als der Händler erschrocken in meine Augen blickte; einen Moment später wurde seine Miene grimmig, und seine Hand öffnete sich wieder. »Wir hatten einen Preis vereinbart. Zahl ihn.«

Inessa kam mir wieder in den Sinn. Sie verstellte sich, um zu überleben.

Jetzt war wohl die Zeit gekommen, um herauszufinden, ob ich es ihr gleichtun konnte.

Meine linke Hand stieß nach vorne und packte den Untoten am Hals. Er war fast ein Kopf kleiner als ich und dürr wie ein wandelndes Gerippe; ich musste mich nicht einmal sonderlich anstrengen, um ihn nach oben zu heben. Einige panische Laute drangen aus seinem Mund hervor, verebbten jedoch sofort, als ich meinen Griff ein wenig verstärkte.

»Ich denke, du weißt, was ein Schattenblitz ist? Nick einfach.«

Sein Versuch misslang kläglich, aber dennoch war die Kröte eindeutig darum bemüht zu nicken. Seine Augen, die ohnehin schon weit aufgerissen waren, quollen geradezu hervor, als sie meine rechte Hand einige filigrane Bewegungen ausführen sahen und er die Formel für den Zauber vernahm. Mit seinen Fingern kratzte er von meinem Arm die Haut ab, ohne dass ich mich darum geschert hätte.

Beim letzten Wort verharrte ich für einen Moment. Der Händler hatte die Augen bereits geschlossen und blinzelte dann zögerlich, als das erwartete Ende doch nicht eintrat.

Ich rümpfte meine Nase in gespielter Verachtung und schmiss den Untoten dann einfach über seine Ladentheke hinweg. Er fegte dabei einige seiner Kleider vom Tisch herunter und landete mit ihnen im Dreck.

Um mich herum war es sehr still geworden. Als ich kurz über meine Schulter sah, konnte ich viele Untote sehen, die mich ausdruckslos ansahen. Die wenigen lebenden Wesen, die zwischen ihnen standen, betrachteten mich hingegen weniger leidenschaftslos: Ihre Gesichter spiegelten Hass und teilweise, wenn auch eher versteckt, Furcht wieder.

Dann, unter einigem Stöhnen und Grunzen, bahnte sich eine Monstrosität ihren Weg durch die Menge wie ein Riese durch eine Herde von Schafen. Die meisten der Schaulustigen waren schlau genug, dem Leichenberg auszuweichen, doch ein Untoter hatte ihn wohl zu spät bemerkt. Einen Moment später segelte er, von einer der mächtigen Fäuste getroffen, durch die Luft und landete weiter unten schreiend in den grünen Fluten von Undercity.

Eine noch immer panisch quietschende Stimme hinter mir schrie sofort: »Töte diesen Madenfresser! Töte ihn, augenblicklich!«

Ein einziger Blick genügte, um den Händler zum Schweigen zu bringen. Ich schaffte es tatsächlich noch immer, meine Maskerade aufrecht zu erhalten, auch wenn es inzwischen eher Verzweiflung war, die mir Kraft gab, anstatt wie vorher noch die berauschende Wirkung von Macht. Die Monstrosität kam direkt auf mich zu und blieb nur einen Schritt von mit entfernt stehen.

Als ich aufblickte und in das unförmige Gesicht sah, hätte ich fast zu lachen begonnen. Ich ließ mich schließlich zu einem schmalen Lächeln hinreißen, das Gordo zwar nicht mit seinem unförmigen, geöffneten Mund erwiderte, wohl aber mit seinen kleinen Augen. Wir mussten nicht einmal Worte wechseln, um uns zu verständigen.

Ich drehte mich noch einmal zu dem Händler um, als mir ein schlichter, schwarzer Umhang auffiel, der das Chaos unversehrt überlebt hatte und noch immer an seinem Haken hing. Ich nahm ihn herunter, warf ihn mir um die Schulter und schloss die Schnalle, um mir dann die angenähte Kapuze über den Kopf zu ziehen. Gordo war währenddessen bereits weiter marschiert und pflügte auf der anderen Seite durch die verblüffte Menge hindurch. Selbst die Verlassenen, die meinen kleinen Kampf beobachtet hatten, schauten der Monstrosität verwundert nach.

Als ich auf sie zuging, bildete sich rasch eine Gasse. Bei jedem meiner Schritte hörte ich gewisperte Worte und getuschelte Gespräche. Ich konnte die Blicke der Untoten und der Lebenden auf mich spüren, und in den Bruchteilen einer Sekunde beschloss ich, ihnen mit Schweigen und Verschlossenheit zu begegnen. Unbeteiligt, ohne meine Schritte zu verlangsamen oder jemanden eines Blickes zu würdigen, ging ich die Straße entlang und folgte ihr, bis ich endlich aus der Menge heraus trat. Dann bahnte ich mir einen Weg in die äußeren Viertel der Stadt.

Erst, als ich mich in einem der dunklen Gänge zwischen den größeren Arealen Undercitys befand, wagte ich es, stehen zu bleiben und mich umzusehen. Einige waren mir gefolgt, dessen war ich gewiss, aber ich musste sie inzwischen abgeschüttelt haben. Niemand war zu sehen, und was noch viel wichtiger war: niemand hatte mich aufgehalten.

Ich betrachtete fassungslos meine Hände. An meinem Arm hingen noch kleine Stücke der Haut weg, die der Händler aufgekratzt hatte, stumme Zeugen des Kampfes. Ich spürte, wenn auch nur schwach, den Stoff auf meiner Haut, und ein Gefühl, das mich von innen her auffraß.

Ich lachte. Ich lachte so laut, dass es sich in dem engen Gang anhörte, als würden hunderte verrückte Leute mit krächzender Stimme gemeinsam lachen.


Und während ich lachte, wurde mir klar, dass ich ab sofort etwas war, das ich nicht sein wollte.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
gelesen und nix widersprüchliches gefunden ^^
gogo weiterschreiben
 
Kapitel 9 – Ein alter Bekannter und ein Lehrer


Die nächsten Stunden verbrachte ich in den dunklen Winkeln und Ecken von Undercity und versuchte dabei, andere Tote und Lebende zu meiden, was mir auch mühelos gelang. Ich nutzte die Zeit, in der ich alleine war, um einige meiner Bücher zu lesen und weiterhin zu versuchen, Magie zu wirken, jetzt mehr denn je.

Es war ziemlich seltsam: Euphorie hatte mich ergriffen, aber es war eine Aufregung, die ich nicht hätte spüren sollen. Etwas in mir schien regelrecht danach zu gieren, in meine neue Haut zu schlüpfen, Terror zu verbreiten und Respekt einzufordern, von jedem lebenden und nicht lebenden Wesen in Undercity. Ich ertappte mich beim Studieren der Zeilen dabei, wie ich vor meinem geistigen Auge die Zauber anwandte, um den Kleidungshändler in Flammen zu hüllen, seinen Willen zu zerquetschen und ihn von der obersten Ebene bis hinunter zu den Küchen springen zu lassen, um sich dabei alle Knochen im Leib zu brechen. Meine Finger zuckten dabei aufgeregt, als könnten sie es gar nicht erwarten, und erst, wenn ich verstand, worüber ich nachdachte, kam Ekel in mir auf – gepaart mit der unheimlichen Euphorie.

Doch zu meiner ehrlichen Enttäuschung blieben auch alle weiteren Versuche eben nur das. Keine Flammen züngelte in meiner offenen Hand, kein Schattenblitz schoss aus meinen Fingern hervor, und die Dämonenhaut, vermutlich der derzeit nützlichste Zauber für mich, zeigte sich genauso wenig. Irgendwann, nachdem bereits Stunden vergangen waren, stopfte ich missmutig meine Bücher in die Umhängetasche zurück und schaute mich seufzend um.

Ich konnte nicht einmal mit völliger Gewissheit sagen, wo ich mich gerade befand. Der Äußere Ring Undercitys war riesig, voller stiller und toter Gänge, in denen keine Fackel die Steine erleuchtete. Die einzigen, die sich hier wohlfühlten, waren die Ratten, die manchmal über meine Füße hüpften und deren Tatzen die einzige Quelle von Geräuschen war.

Ich packte mich wieder in meinen neuen Umhang ein und zog die Kapuze tief ins Gesicht. Ich konnte wunderbar in der vollkommenen Finsternis sehen, jeden Riss im Boden, jede Fuge der Steine. Untot zu sein, hatte also wirklich seine Vorteile. Ich musste auch nicht lange suchen, um zu wissen, wo ich war: Das Gluckern des langsam vor sich hin ziehenden schleimigen Flusses drang allmählich an mein Ohr; allerdings erst, nachdem ich seinen bestialischen Gestank bereits für einige Minuten in der Nase hatte. Es dauerte dann auch nicht lange, bis ich die ersten Fackeln und Kohlepfannen ausmachte, Anzeichen für die belebteren Stadtteile Undercitys.

Als ich in den Schein des brennenden Holzes trat, brauchte ich nur ein paar Momente, um zu wissen, wo ich war. Der Kanal führte nur wenige Schritte von mir entfernt seine grünen Fluten um Undercity herum. Auf der anderen Seite erkannte ich den Apothekerladen der alten Hexe, bei der ich die Innereien für Direflesh gekauft hatte. Ein Blick nach links bestätigte meine Vermutung: Die Brücke, welche mit einigen hässlichen, Dämonen ähnlichen Fratzen verziert war, führte einige Meter entfernt über den Fluss und praktisch gleich zum Eingang in den Inneren Ring.

Ein wenig unschlüssig blieb ich stehen. Ich wusste nicht so recht, wohin ich jetzt gehen sollte; zu Direflesh zurück stand außer Frage. Solange mir der alte Knochen keine Befehle geben konnte, war mein Leben einfacher und sicherer. Die Taverne war eine weitere Möglichkeit, aber sie saß mitten im Inneren Ring, und ich verspürte nur wenig Lust, mich bereits wieder dort zu zeigen.

Da erhaschten meine Augen eine Bewegung. Ich drehte meinen Kopf nur unscheinbar nach rechts, gerade genug, um aus den Augenwinkeln einen Troll zu erkennen. Diese Kreaturen hielten sich eigentlich immer im Inneren Ring auf, so wie der Rest der Lebenden, und umso mehr verwunderte es mich, einen hier unten, mitten im Reich der Untoten, anzutreffen. Die Bemalungen auf seiner breiten Nase und dem Gesicht wiesen auf seinen Clan hin; allerdings konnte ich nicht erkennen, welchem er genau angehörte. Dass die Bemalungen überhaupt irgendwelche Bedeutungen hatten, hatte ich aus einem der vielen Bücher Direfleshs.

Auch wenn ich den schlurfenden, dürren Riesen nicht kannte, schien er mich umso besser zu kennen. Als er nahe genug war, um mich endlich zu bemerken – ich hatte mich wieder ein wenig in den Schatten des Ganges geflüchtet, aus dem ich gekommen war – blieb er argwöhnisch stehen. Doch kaum dass er meinen dunklen Umhang sah, erkannte ich, wie ihn eine böse Vorahnung überfiel: seine Hände griffen wie automatisch nach den beiden Äxten, die an seinem Gürtel hingen, nahmen sie aber noch nicht zur Hand. Dafür bildeten sich einige Sorgenfalten auf seiner Stirn, was ihm bei der nach hinten aufbäumenden Mähne, die seine Haare bildeten, einen merkwürdig lächerlichen Eindruck verschaffte.

»Bist du Direfleshs Gehilfe?«, fragte er mich unvermittelt. Er sprach sehr gedehnt, aber man konnte ihm anhören, dass er sich gerade sehr unwohl fühlte.

Meine Gedanken rasten. Es gab mehrere Möglichkeiten, mit der Frage umzugehen; meine eigene Frage war, welche mir wohl am besten dienen würde. Und so sehr ich es auch hasste, musste ich mir eingestehen, dass es am einfachsten sein würde, die scheinbaren Sorgen meines Gegenübers auszunutzen.

»Wer will das wissen?«, erwiderte ich leise und ein wenig hissend, wie eine Schlange, die sich über ihr Opfer aufbäumte. Zumindest hätte es so klingen sollen; im Nachhinein hörte es sich einfach nur lächerlich an, und ich musste mir auf die Zunge beißen, um einige Flüche herunterzuschlucken.

Jedenfalls war wohl meine Auseinandersetzung mit dem Händler keineswegs vergessen worden, wie ich insgeheim gehofft hatte. Der Troll blickte mich mit mehr als nur unsicheren Augen an, während er vermutlich genauso scharf darüber nachdachte, was zu tun war, wie ich es noch einige Augenblicke zuvor getan hatte. »Niemand«, brachte er schließlich hervor.

Ich setzte ein schmales Lächeln auf, in der Gewissheit, dass außer dem Mund mein Gesicht im Schatten der Kapuze lag. »Gut«, erwiderte ich, dieses Mal ohne Zischen.

Wir schwiegen beide, der Troll mit einem Ausdruck, der von Sorge zu Furcht zu Abscheu wechselte, und ich mit meinem schmalen, schelmischen Lächeln. Schließlich, nachdem wir uns für eine Weile so angestarrt hatten, wandte sich mein Gegenüber sehr zögerlich ab und setzte seinen Weg den Kanal entlang fort. Allerdings behielt er mich dabei, so gut es ihm möglich war, im Auge, und seine Hände lagen noch immer auf seinen Äxten, bereit, sie sofort zu ziehen und sich zu verteidigen. Ich würdigte ihn indes keines weiteren Blickes, sondern starrte angestrengt auf die grünen Fluten, die stinkend und zäh nur wenige Schritte entfernt vorbei flossen. Erst, als ich mir sicher war, dass er mich nicht mehr sehen konnte, wandte ich mich in die entgegengesetzte Richtung und marschierte hastig los.

Wieder durchströmte mich das abartige Hochgefühl, das ich schon bei dem Händler verspürt hatte. Meine Finger zuckten vor Begeisterung, und obwohl ich es nicht wollte, war mein Gang regelrecht beschwingt von meiner kurzen Begegnung mit dem Troll. Wenn ich überhaupt etwas Gutes aus dem Zusammentreffen ziehen konnte, dann, dass meine Maskerade angsterregend gut funktionierte.

Schließlich blieb ich wieder unschlüssig stehen und sah mich um. Ich war dem Äußeren Ring für eine Weile gefolgt und wohl inzwischen aus dem Apothekerviertel herausgekommen. Weiter vorne erblickte ich einen Platz, von dem ich allerdings nur ein kleines Stück sehen konnte: Er verschwand in einer riesigen Kaverne, die man in die Wand gehauen hatte. Obwohl es in Undercity meistens eher ruhig zuging, kamen von dort einige Geräusche zu mir herüber gesegelt, die Neugierde in mir weckten. Es war das Rauschen und Zischen und eine merkwürdige Ahnung, die in mir bohrte und mich regelrecht weiter die Straße entlang zog. Diese wurde mit jedem Schritt besser: War sie vorher noch in ihrem jämmerlichen, für Undercity typischen Zustand gewesen, hatten jetzt Untote dafür gesorgt, dass alle Steinplatten an ihrem Platz waren und ordentlich saßen. Die in regelmäßigen Abständen aufgestellten Kohlepfannen rauchten nicht nur vor sich hin, sondern gaben sowohl Licht als auch Wärme ab, welche ausreichten, um Dunkelheit und Kälte zu vertreiben. Tatsächlich schien es fast so, als würde ich mich im Inneren Ring befinden, obwohl das nicht möglich war.

Dann stand ich endlich am Rande des Platzes und starrte den riesigen Totenschädel an, der genau in der Mitte residierte. Er war so glatt poliert, dass sich die Flammen der überall verteilten Fackeln darin spiegelten und ihm einen lebendigen Eindruck verschafften. Das Gebilde war Bestandteil einer gewaltigen, fast den gesamten Platz ausfüllenden Pyramide und thronte direkt über ihrem Eingang, von wo aus es jeden, der Eintritt verlangte, mit glühenden und bösartigen Augen anstarrte.

Die Pyramide selbst verfügte über verschiedene Plateaus, wobei ihre Spitze fast an die Decke der Kaverne stieß. Treppen, an denen Moos hing und die dennoch rege Benutzung aufwiesen, führten zu ihnen hinauf und wiederum in die Pyramide selbst hinein. Von dort kam auch das Fauchen, manchmal vermischt mit gepeinigten Schreien.

Plötzlich verschwamm meine Sicht. Mein Herz begann zu rasen und gegen meinen Brustkorb zu trommeln, als wollte es den Knochen entfliehen. Das Hochgefühl, welches mich so anekelte, wurde mit einem Mal so stark, dass ich würgen musste und mich mit zitternden Armen an die kalten Mauern der Katakomben krallte. Obwohl Atem ein Privileg der Lebenden war, stockte meiner, und panisch versuchte ich, ihn in mich hinein zu saugen.

Und dann – so stark, als würde mir ein Riese mit einer Steinkeule auf den Schädel einhämmern – drangen Erinnerungen in mir auf. Bilder rasten vor meinen Augen vorbei: der riesige Totenschädel und das Innere der Pyramide, von Gängen durchzogen und abweisend wie ihr Äußeres; Zellen unter dem Platz, in welchen abgemagerte, hilflose Menschen saßen und an denen sich Magier-Novizen versuchten; das Gesicht eines einzelnen Untoten, von unzähligen Angriffen und Zaubern zerfressen, aber mit solch leuchtenden, hasserfüllten Augen, dass allein ein Blick genügte, um alles und jeden zum Schweigen zu bringen.

Das Magier-Viertel. Ich befand mich im Magier-Viertel, und der Name des Untoten war Ismael Blackweaver.

Was auch immer gerade mit mir passiert war, und warum, es war mir egal. Ich kannte diese wandelnde Leiche, die mehr nach Tod aussah als nach Leben. Und es mochte gut möglich sein, dass sie mich genauso kannte.

Mein Herz hatte sich wieder beruhigt und verharrte, wie es sich für einen Untoten gehörte, in vollkommener Stille. Ich schüttelte meinen Kopf, um den letzten Rest von Benommenheit loszuwerden, ließ dann von den Steinen ab, die jetzt einige Kratzer zierten, und schloss meine Finger zu Fäusten, während dickes, schwarzes Blut aus ihren Spitzen hervor quoll. Dann ging ich los.

Ich wählte meine Schritte mit Bedacht und konzentrierte mich auf jeden einzelnen, während ich immer wieder blinzelnd den Platz überquerte. Die Nachwirkungen meiner Vision waren noch recht lebhaft, und manchmal glaubte ich, nicht so recht zwischen Traum und Realität unterscheiden zu können: mir kam es so vor, als würde der Totenkopf mich beobachten und genau darauf achten, wohin mich mein Weg führte. Außerdem hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden, obwohl nur ein paar wenige Untote zu sehen waren und allesamt besseres zu tun hatten, als mich anzustarren.

Als ich durch die offene Pforte unter dem Schädel hindurch trat, hätte ich schwören können, ein leises, bösartiges Lachen zu hören. Ich drehte mich augenblicklich um und suchte misstrauisch nach der Quelle, aber ich konnte sie nicht finden. Für einen Moment dachte ich sogar, dass ich das Lachen nur in meinen Gedanken gehört hatte, dass es dort sogar seinen Ursprung hatte. Und ich fragte mich, ob mich Direflesh vielleicht vergiftet hatte, oder ob ich einfach nur wahnsinnig wurde.

Selbst nach einigen Sekunden, in denen ich nur in dem hell erleuchteten Gang stand, regte sich nichts. Missmutig ging ich wieder weiter, und noch immer konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, dass fremde Blicke auf mir lagen.

Nicht nur von außen hatte die Pyramide einen riesigen Eindruck gemacht. Auch die vielen Gänge, die sich kreuzten und in alle möglichen Richtungen, nach oben und unten führten, mussten jeden verunsichern, der sich das erste Mal in dem Gebäude befand. Es war das reinste Labyrinth, durch das ich mich seltsamerweise ohne Sorgen oder Zweifel hindurch bewegte. Es war nicht sehr viel mehr als eine Ahnung, die mich voran trieb, aber dennoch wusste ich zugleich, dass ich mich auf dem richtigen Weg befand.

Die Gänge waren in helles, magisches Licht gebadet. Kleine, blaue Kugeln hingen in regelmäßigen Abständen an den Decken, flackerten manchmal und erstrahlten dann umso stärker. Was mich verunsicherte, war die Tatsache, dass sie jedes Mal zu flackern begannen, wenn ich eines von ihnen passierte. Meine wiedergekehrten Erinnerungen schienen nichts davon zu wissen. Überhaupt halfen sie mir nur bedingt weiter: jedes Mal, wenn ich mich auf sie konzentrieren wollte, glitten sie mir durch die Finger wie Wasser, und wollte ich sie festhalten, verflossen sie nur noch schneller.

Sie fühlten sich ohnehin nicht richtig an. Das, was ich sah, war verschwommen und selten klar, als wäre ich nur ein Zuschauer und würde das Geschehen durch verzerrendes Glas betrachten; als wären es gar nicht meine Erinnerungen, sondern die eines anderen.

»Trete ein.«

Erschrocken schaute ich auf. Meine Füße hatten mich geradewegs zu einer offenstehenden Tür getragen. Der Raum dahinter sah der kleinen und vollgestopften Bibliothek Direfleshs zum Verwechseln ähnlich, sah man davon ab, dass keine Unordnung herrschte und ein kleiner Tisch in der Mitte des Raums stand. An dem Tisch saß Blackweaver, auf den ich nur einen einzigen Blick werfen musste, um ihn zu erkennen. Seine Augen funkelten mich an, und sein unförmiger Mund, den einige Narben zeichneten, verzog sich zu einem schrägen Lächeln. Ich nahm an, dass er freundlich wirken wollte, aber die Grimasse stieß mich eher ab. Dennoch kam ich zögerlich seiner Aufforderung nach und betrat das mit alten, staubigen Teppichen ausgelegte Zimmer.

Es stand kein zweiter Stuhl am Tisch, und so blieb ich ein paar Schritte von ihm entfernt vor dem untoten Magier stehen. Obwohl seine Augen wie tiefe Lavaseen waren und sein Blick vernichtend, erwiderte ich ihn, so gut ich konnte. Ich hätte mich gerne abgewendet, aber etwas in mir wisperte auf mich ein, es nicht zu tun.

»Wie ist es dir ergangen?«, fragte mein Gegenüber unvermittelt. Seine Hände schlugen bedächtig das Buch zu, welches vor ihm auf dem Tisch lag, und ruhten dann auf dem Einband. Ich konnte nicht viel vom Titel erkennen, aber das geöffnete Tintenfässchen sowie die Feder, die daneben lagen, ließen mich erahnen, dass er es selbst schrieb.

»Nicht sonderlich gut«, erwiderte ich knapp. Ich versuchte, meiner Stimme einen möglichst ausdruckslosen Klang zu verleihen und so meine Nervosität zu überspielen. Meine Finger hatten sich bereits an den Gurt meiner Tasche geklammert, und die Übelkeit von vorhin stieg wieder allmählich in mir hoch.

Blackweaver brummte zur Antwort nur kurz, während er mich eingehend betrachtete. »Und was führt dich zu mir?«

»Ich hatte gehofft, dass Ihr mir das sagen würdet.«

Stille legte sich wie ein schweres Leichentuch über das Zimmer. Der Geruch von altem Pergament stieg mir allmählich in die Nase, gepaart mit süßlicher Verwesung. Es war das erste Mal, dass mir der Gestank des Todes auffiel, aber ich konnte nicht sicher sagen, ob er von mir oder von dem Magier stammte.

Eine Bewegung riss mich aus meinen Gedanken. Blackweaver schob seinen Stuhl ein wenig zurück, stand auf und umrundete gemächlich den Tisch. Seine alte, verwitterte Robe, die im gleichen Zustand war wie sein Gesicht, raschelte bei jedem Schritt leise. Und mit jedem Schritt, den er auf mich zukam, wurde der Verwesungsgeruch stärker und stärker, als würde der rissige Stoff unzählige Wunden verdecken, die niemals heilten.

Direkt vor mir blieb er stehen, vielleicht ein paar Zoll von meiner Nase entfernt. Wir waren in etwa gleich groß, auch wenn ich unter seinem Blick am liebsten geschrumpft und klein geworden wäre. Dennoch hielt ich ihm, wie bisher, stand. Noch immer wisperte eine eifrige Stimme in meinem Hinterkopf auf mich ein, dass alles andere ein Fehler sein würde.

»Ich habe jedenfalls keinen weiteren Auftrag mehr für dich. Aber soweit ich informiert bin, arbeitest du jetzt für Direflesh?«

»Eure Informanten müssen schnell und gut arbeiten«, gab ich leise zurück.

»Sie gehören zu den Besten«, stimmte der Untote mit dem Anflug eines Lächelns zu. »Leider habe ich noch keinen einzigen, der mir etwas Brauchbares über Direflesh und seine… Projekte sagen konnte, abgesehen von den Gerüchten, die es mannigfaltig gibt.«

Meiner Finger verkrampften sich noch mehr, doch ich nickte nur. Das Lächeln meines Gegenübers wurde breiter, was ihn endgültig wie eine zu klein geratene Monstrosität wirken ließ, bevor er sich umdrehte und wieder zu seinem Stuhl zurück schlurfte. »Brauchst du etwas für diesen Auftrag, wofür ich sorgen kann?«

Die Frage, die ich mir so sehr gewünscht hatte, kam so unerwartet, dass ich für einen Augenblick sprachlos da stand.

»Nein? Dann -«

»Ich brauche einige Unterweisungen.«

Der Untote schaute merklich verdutzt auf. »Unterweisungen? Wofür?«

»Magie. Schwarze Magie, um genau zu sein. Schattenblitze, Dämonenhäute, vielleicht die Beschwörung eines Leerwandlers.«

»Eines Leerwandlers?«, wiederholte Blackweaver gedehnt, während er sich in seinem Stuhl zurück lehnte und mich wieder forschend ansah. »Seit wann kämpfst du mit Magie anstelle eines Dolchs?«

Hätte ich Spucke in meinem toten Mund gehabt, hätte ich schwer geschluckt. Der Kampf mit den Gnollen kam mir wieder in Erinnerung, und wie ich die Schritte wie von alleine getan hatte, ohne darüber nachzudenken. Und trotzdem hatte ich diesen unbändigen Drang danach, mehr über Zauber herauszufinden.

»Wie lange kennt Ihr mich schon?«

Blackweaver starrte mich lange an. Mir entging nicht, dass sich seine Hände wieder auf das Buch legten, als er sagte: »Ein paar Monde. Du bist sehr geschickt darin, deine Spuren zu verwischen. Um ehrlich zu sein, wusste keiner meiner Spitzel, wo du dich bis vor kurzen aufhieltst, bis du plötzlich wieder in Tirisfal aufgetaucht bist. Wo warst du?«

Ich überging seine Frage, innerlich jubilierend, auf diese Goldader gestoßen zu sein, und zugleich niedergeschmettert. Blackweaver kannte mich also auch nur flüchtig, scheinbar nicht einmal meinen Namen. Aber er hatte mir einen perfekten Ausweg aus diesem unangenehmen Gespräch gezeigt, ohne es selbst zu bemerken.

»Wenn Ihr mich also nicht kennt, woher wollt Ihr wissen, wie ich zu kämpfen pflege?«

Der Untote erwiderte für einige Momente nichts, bevor sich ein leises Lachen aus seiner Kehle entrang. »Geh hinunter zu den Katakomben, und finde Elias. Er ist ein Lehrer der Nekromantie. Er sollte dir das Nötigste beibringen können. Nimm es als… Bezahlung für deine Dienste.«

Meine Finger lockerten sich wieder ein wenig, und meine Beine, vorher stramm wie dünne Baumstämme, knickten ein wenig ein. Ich konnte fühlen, wie sich von einem Moment auf den anderen mein gesamter Körper entspannte, während ich nickte. »Erwartet mich in zwei oder drei Sonnenumläufen.«

Ohne einen weiteren Blick auf den Magier zu werfen, wandte ich mich von ihm ab und trat in den Gang, von wo aus ich rasch in Richtung der Treppen eilte. Hinter mir hörte ich noch das leise Rascheln von Pergament, als Blackweaver wieder sein geheimnisvolles Buch aufschlug, und dann noch das leise Kratzen der Feder, bis meine Schritte alles waren, was die Gänge erfüllte.
 
Kapitel 10 – Müde Knochen

Die Treppen in der Pyramide zu finden, war nicht schwer; es gab nur eine einzige, die nach unten führte,und sie befand sich ziemlich nahe dem Eingang. Auch hier war nichts von Prunk oder Protz zu sehen, nur kahler Stein. Die Stufen selbst zeigten regen Gebrauch auf: Ihre Kanten glätteten sich bereits von den vielen Schuhsohlen, die über sie gingen und sie langsam, aber sicher abschabten. Außerdem schien auf jeder dritten oder vierten Stufe ein dunkler Fleck zu prangern, manchmal so groß wie ein Daumennagel, dann so groß wie eine ganze Faust. Die Schreie, die ab und angedämpft von weiter unten her nach oben gellten, ließen nicht viel Zweifel daran, um was es sich genau handelte. Auch hier spendeten die magischen Kugeln Licht, und noch immer flackerten sie kurz auf, wenn ich unter ihnen hindurchging. Der Geruch von Fäulnis und Tod drang langsam zu mir auf, und je mehr Stufen ich hinter mir ließ, desto stärker wurde er.

Meine Finger hielten inzwischen wieder die Tragriemen meiner Tasche fest umklammert. Jedes Mal, wenn ich eine gepeinigte Stimme der Unbekannten vernahm, zu denen ich gerade ging, zuckte ich ein wenig zusammen. Allerdings merkte ich auch, wie ich jedes Mal weniger davon überrascht wurde; ich merkte sogar, wie es mir mit jedem Mal weniger auszumachen schien.Etwas in mir nahm die Schreie wahr und tat sie sogleich wieder ab. Unweigerlich musste ich an meine kleine Kraftdemonstration mit dem Verkäufer denken, und eine Mischung aus Abscheu und Hass kam in mir auf. Der Dämon, der von mir Besitz ergriffen hatte, war nicht gebannt, ganz im Gegenteil.

Nach einer Weile hörte die Treppe unvermittelt auf. Ein unscheinbarer Gang führte weiter in die Katakomben hinein, und ein paar Schritte entfernt konnte ich Abzweigungen erkennen, aus denen flackerndes Licht von Fackeln heraus strahlte. Die Schreie waren nun lauter und eindringlicher, und zugleich prallten sie mehr denn je von mir ab.Ich stählte mich für das, was kommen mochte.

Gerade, als ich losgehen wollte, hörte ich schlurfende Schritte aus einem der Gänge kommen, verbunden mit einer alten, müde klingenden und fast unverständlichen Stimme. »Ist da der Untote, der Nekromantie lernen will?«

Perplex blieb ich stehen und schaute den Schatten an, der gerade aus dem linken Gang fiel und mit jedem schlurfenden Schritt größer wurde. Dann griff eine halb vermoderte Hand an die Kante des Tunnels, und der verwesende Kopf eines Zombies schaute um die Ecke. Er entblößte ein paar wenige, übrig gebliebene Zähne, als er mich breit anlächelte, und ein Stück unförmiges, totes Fleisch, das ihm wohl als Zunge diente.

Wieder kam Abscheu in mir auf, auch wenn er dieses Mal nicht auf mich selbst gerichtet war. »Wer will das wissen?«

»Der Lehrer Elias, oder der Schlächter Elias. Der Lehrer, falls du es bist. Der Schlächter, falls nicht.«

Ich überlegte kurz, ob sich der Untote einen Scherz mit mir erlaubte oder seine Worte ernst meinte, aber das Lächeln verbunden mit den milchig weißen Augen verriet weder das eine noch das andere. Auch wenn mir nicht sonderlich danach zumute war, beschloss ich, es selbst mit ein wenig Galgenhumor zu versuchen. »Also wäre ich dumm, wenn ich mich nicht den Schüler nennen würde.«

»Das kommt ganz darauf an, wie dein Name lautet.«

Ich konnte spüren, wie sich meine Finger in meine Handballen bohrten. Man konnte den verdammten Augen nicht einmal ansehen, ob sie selbst sahen; womöglich war der Zombie tatsächlich blind, und ich könnte einfach wegrennen.

Sein Grinsen wurde noch ein Stück breiter, je länger ich schwieg. Und je länger ich schwieg, desto mehr dämmerte es mir, dass Elias nur von einer einzigen Person wissen konnte, dass ich kam; und diese Person hatte meinen Namen nicht ein einziges Mal erwähnt, vermutlich, weil sie ihn selbst nicht kannte.

Ich kratzte das bisschen Mut, das noch nicht die Flucht ergriffen hatte, zusammen und erwiderte leise: »Ich habe keinen Namen.«

Das Grinsen wurde schmaler, während sich diemilchigen Augen zu Schlitzen verengten. »Gut. Man findet nicht mehr vieleUntote, die keine Scherereien machen, und noch weniger, die ehrlich sind. DeinTraining beginnt sofort. Folge mir.«

Mit diesen Worten schlurfte er in den Gangzurück, aus dem er getreten war. Ich blieb noch für einen Moment stehen,verwirrt darüber, was gerade geschehen war, bevor ich ihm schließlich in einemkleinen Abstand folgte.

»Nicht viele kommen mehr zu mir, umNekromantie zu lernen«, brummte Elias mir zu, während er mich durch die Gängeführte. »Die meisten sind zu dumm oder zu weich, um meine Lehren zu verstehen.Du hingegen... na, wir werden sehen.«

Zu weich klang in meinen Ohren nicht geradegut. Die Schreie, die noch immer ab und an durch die Stollen gellten, bekamenmit einem Mal eine ganz neue Bedeutung: Bestrafungen jener, die nicht meisternkonnten, was ihnen der Zombie vor mir zeigte. Hatte ich vorher nur Angstgehabt, schlug diese spätestens jetzt in Todesangst um. Unwillkürlich mussteich aber auch darüber lächeln.

Eine Einbuchtung im Stollen kam näher. Alswir sie passierten, bewahrheitete sich meine Vermutung, und dennoch hätte ichder Wahrheit nicht weiter entfernt sein können. Statt einer Tür versperrtelediglich ein Gitter den Durchgang; dahinter, in einer finsteren, dreckigen undvon Unrat stinkenden Zelle, saß ein Mensch.

Ich hatte noch nie einen Menschen gesehen;ich wusste von irgendwoher, dass Untote einst Menschen gewesen waren. Doch dieKreatur, die dort am Boden kauerte, hatte weder mit einem Untoten noch mit dem,was ich von einem Menschen wusste, viel gemein. In dem schwachen Licht derFackel, die vom Gang aus in die Zelle hinein leuchtete, sah sie lediglich auswie ein Tier. Lange Haare vielen vom Kopf; das, was einst die Nase gewesen seinkonnte, war deformiert und so oft gebrochen, dass sie keine klare Struktur mehrhatte. Ihre Fingernägel erinnerten an Krallen. Der Körper war über und über mitblauen Flecken, Narben oder offenen Wundmalen übersät. Und bei der kleinstenBewegung zuckte sie zusammen, als würden wahnsinnige Schmerzen durch jeden Nervzucken.

Ekel stieg in mir auf, gepaart mit derunheimlichen Freude und einer seltsamen, tiefen Genugtuung. Je öfters ich siespürte, desto mehr wurde mir bewusst, dass der Ekel von mir selbst, allesandere aber von etwas anderem in mir kam. Manchmal schien es mir fast so, alswürde ich nicht alleine in meinem Körper sein.

Ich hatte nur zwei, drei Sekunden Zeit, denMenschen zu betrachten. Kaum dass er aus meinem Blick entschwunden war,richtete ich mich wieder an Elias. »Warum sind diese Menschen hier unteneingekerkert?«

»Womöglich bist du doch zu dumm für meinenUnterricht«, erwiderte der Zombie nur schroff. Nach einer kurzen Pause fügte eretwas versöhnlicher hinzu: »Lebend zu sein, ist eigentlich schon Grund genug.Aber meine Schüler brauchen auch ein Ziel, an dem sie Zauber ausprobierenkönnen. Und außerdem ist es ein guter Zeitvertreib.«

»Ihr... foltert sie? Aus Langeweile?«

»Natürlich!« Elias lachte fröhlich - daserste Mal, dass ich ihn lachen hörte - und selbst dann klang das Lachen inmeinen Ohren nicht nur fröhlich, sondern auch mordlüstern und grausam. Es wäregenug gewesen, um mich abzuwenden und dem Untoten den Rücken zuzukehren. Aberich wollte nicht, und etwas in mir lachte sogar leise mit.

»Wie wird ein Untoter geschaffen?«

Elias blieb für einen Moment stehen undschaute mich forschend an, fast so wie Blackweaver, als er gehört hatte, dassich Magie studieren wollte. »Das ist etwas, was die Apotheker versuchenherauszufinden.«

»Aber ich bin auch auferstanden. Sie müssenalso schon eine Lösung gefunden haben, oder nicht?«

»Nein, nicht wirklich.« Der Zombie winktemich weiter und trat in einen Gang ein, den ich in der immer größer werdendenDunkelheit einfach übersehen hätte. Immer weniger Fackeln beleuchteten den Weg,und wenn man eine sah, dann immer öfters nur als kleinen, gelben Punkt ineiniger Entfernung. Ich mochte mir gar nicht ausmalen, wie weit die Katakombenhier reichten, und vor allem nicht, für wie viele Menschen sie Platz boten. »Dubist ein Opfer der Seuche gewesen, wie jeder andere auch. Man sollte meinen,das hätte sich inzwischen herumgesprochen.«

Die Seuche. Ich versuchte, mit dem Begriffetwas anzufangen, und für die nächsten Minuten folgte ich nur schweigend meinemFührer, während ich mir mein Hirn darüber zermarterte, was die Seuche war. Dochwie so viel anderes blieb auch diese Erinnerung an mein früheres Lebenversteckt.

Schließlich blieb Elias in einem kleinenRaum stehen, der etwas besser erleuchtet war als die Gänge. Immerhin zweiFackeln an den gegenüberliegenden Wänden spendeten flackerndes Licht undbeschienen so einige alte Stühle und Tische, die am Rand standen. Der Raum warnicht sonderlich groß und abgesehen von dem wenigen Mobiliar leer.

»Was weißt du über Nekromantie?«, fragtemich Elias unvermittelt, während er sich zu mir umdrehte.

»Nun, ich habe bereits einiges darübergelesen«, erwiderte ich mit einem schwachen Schulterzucken. »Ich weiß zumBeispiel, wie man eine Dämonenhaut -«

Noch ehe ich reagieren konnte, holte derUntote aus. Ich sah noch für einen Augenblick etwas in seiner Hand aufblitzen,bevor ein dumpfer Schmerz durch meinen Arm zuckte. Überrascht aufschreiendsprang ich zurück und starrte den tiefen Schnitt an, den das blank polierteMesser hinterlassen hatte.

»Du kannst keine Dämonenhaut zaubern«,widersprach Elias genüsslich. »Und du wirst es auch niemals lernen.«

Noch ehe ich antworten konnte, stürmte ermit einem lauten Schrei auf mich zu und hieb wieder nach mir. Ich schaffte esdieses Mal, seinem ersten Angriff auszuweichen; der Rückhandschlag allerdingstraf mich mit dem Knauf in der Brust. Ich stolperte noch zwei, drei Schritte,bevor ich der Länge nach auf den Rücken fiel. Und noch ehe ich überhauptrealisieren konnte, was gerade passierte, war der Zombie bereits wieder übermir und stach auf mich ein. Panisch drehte und wandte ich mich unter ihm undkrabbelte dabei vor ihm weg, bis ich mit einem Mal die Wand in meinem Rückenmeinen Weg blockierte.

Der triumphale Schrei aus Elias Kehle ließin mir keinen Zweifel aufkommen. Seine nächste Attacke würde vermutlich mit demMesser in meinem Kopf enden. Verzweifelt verschränkte ich meine Arme vor meinemGesicht, um mich zu schützen, und murmelte mit geschlossenen Augen dieerstbesten Formeln, die mir in den Sinn kamen.

Ein dumpfer Schlag ertönte. Ich spürte, wieetwas gegen meine Arme prallte und dann an ihnen abglitt, um mit einemmetallischen Klingeln gegen den Stein zu stoßen. Mit aufgerissenen Augenstarrte ich auf den vor mir knieenden Zombie, der nicht minder überrascht meineArme ansah. Ein violetter Schimmer umgab sie, ähnlich einer Nebelbank, diegemächlich um meine Haut waberte.

Die Überraschung währte nicht lange. Eliasbrummte nur verstimmt, während er sich halb aufrichtete und den Dolch wiederhob, um erneut zuzustechen. Ein Tritt in den Magen hielt ihn allerdings davonab und warf ihn stattdessen nach hinten um. Ich rappelte mich hastig auf, trateinen Schritt zur Seite und warf meine Tasche von mir. Dann hob ich meineFäuste, bereit, mich zu verteidigen.

Ein hässliches Lächeln zuckte über dieLippen meines Gegenübers, als auch er sich aufrichtete und das Messer fester indie Hand nahm. »Der namenlose Untote... Ich hatte wirklich gedacht, ich würdeden Tag nicht mehr erleben. Aber du erinnerst dich vermutlich nicht mehr anmich.«

Mit einem weiten Ausfallschritt und einemwütenden Schrei stach Elias zu, aber ich konnte ihm ausweichen. Es folgten einpaar weitere Stiche, die uns quer durch den Raum trieben, bis auch Eliaseinsah, dass er mich so nicht treffen würde. Die Überraschung war verflogen,meine Kampfinstinkte geweckt. Allerdings waren sie nicht wach genug, um denKampf dankend in Kauf zu nehmen. Jedes Mal, wenn ich einen Schritt in Richtungdes Ganges machte, aus dem wir gekommen waren, versperrte mir jedoch Eliassofort den Weg.

»Es ist lange her, das gebe ich zu. Du hastmir meine Minna genommen. Meine einzige Freude... und dafür wirst du sterben!«

Elias vollführte eine Kombination ausStichen und Hieben, denen ich nur bedingt ausweichen konnte. Zwei Trefferblockte ich mit meinen Armen, die nun scheinbar härter waren als der Stahl desDolchs; allerdings zerriss ein weiter Ausholschlag mein Hemd und hinterließ aufder Haut darunter einen feinen Schnitt. Wie auch immer ich den Zauber gewobenhatte, er schützte mich nicht vollständig.

Hastig dachte ich nach, während ich vor dennächsten, wütenden Attacken zurück wich. Ich konnte dem dolchschwingendenKnilch nicht ewig ausweichen, und ich hatte keinerlei Waffen bei mir. Auf kurzoder lang würde er sein Versprechen wahr machen.

Dann keimte eine Idee in mir auf, wie voneiner leisen Stimme in mein Ohr gewispert, die so verrückt war, dass sie sogarklappen konnte. Meine Angst hatte ich inzwischen weit genug zurück gedrängt, ummir mehr als nur meinen defensiven Kampfstil zuzutrauen. Meine nächstenSchritte setzte ich mit mehr Bedacht, immer weiter zurück, bis ich mir sicherwar, dass ich meinen Plan in die Tat umsetzen konnte.

Elias tat mir mit seinem nächsten Ausfalleinen riesigen Gefallen, ohne es zu wissen. Ich duckte mich unter dem Stichhinweg und jagte meine rechte Faust mit aller Kraft in seinen Magen. Ich konnteein pfeifendes Geräusch hören - vermutlich die Luft, die ich gerade aus demuntoten Körper herausgepresst hatte - bevor mein Gegner zusammen klappte. Nochehe er den Boden erreicht hatte, fing er allerdings schon wieder an, sichaufzurappeln. Seine hasserfüllten Augen, die in dem Licht der Fackeln rot zuleuchten schienen, starrten mich an, als ich einen der Stühle an der Lehnepackte und ihn mit aller Kraft über seinen Rücken zusammen schlug.

Knochen barsten lautstark, und derschmerzerfüllte Schrei meines Feindes tat sein Übriges, um mich von der Wirkungmeines Angriffs zu überzeugen. Von dem Stuhl war nur ein Teil der Lehne übriggeblieben, die ich achtlos zur Seite warf. Ich atmete ein paar Mal tief ein undaus - obwohl ich nicht außer Atem war - und starrte dann den zuckenden und sichwindenden Körper unter mir an. Ich konnte hören, wie Elias in den Stein, aufdem er lag, Verwünschungen hinein murmelte und sich abmühte, sich auf denRücken zu drehen. Eben jener schien gebrochen zu sein, ebenso wie einer seinerArme, den er nicht mehr bewegte.

Kurz ballte ich meine Hände zu Fäusten undschaute sehnsüchtig zu dem Gang, der mich zurück in die Katakomben bringenwürde. Dann schüttelte ich hastig den Kopf, als mir auffiel, wie grausam essein würde, einen Sterbenden einfach liegen zu lassen. Auch wenn es mirwiderstrebte, kniete ich mich doch neben Elias hin, packte ihn an der Schulterund drehte ihn vorsichtig um.

Sein Mund verzog sich zu einem grausamenLächeln, als er mich anstarrte und seine gesunde Hand hob. Die schwarze Kugel,die in ihr waberte, machte mir klar, warum er es nicht geschafft hatte, sichaus eigener Kraft umzudrehen.

»Schattenblitz.«

Wie von selbst schlug ich mit meiner Handdie seine zur Seite. Das Nächste, was ich spürte, war ein sengender Schmerz,als würde ich meine Hand in ein glühend heißes Feuer halten. Dann drang derGeruch von verbranntem Fleisch an meine Nase. Elias lachte unter mir leise undkeuchend, während schwarzes, dickflüssiges Blut aus seinem Mundwinkel rann.

Perplex starrte ich die Finger meiner linkenHand an. Von ihnen waren nur noch verkohlte Knochen übrig, die aufeinandersaßenund sich noch immer feingliedrig bewegen ließen. Ein Stück meiner Handflächewar noch Fleisch, von dessen verbrannten Enden Rauch aufstieg und die einengrauenvollen Gestank verbreiteten.

Langsam stand ich auf. Nichts regte sich inmir; keine Angst, kein Mitleid, kein Grauen, keine Freude. Bis, immer lauter,eine Formel in meinen Kopf drang und dort widerhallte, so lange, bis es sich soanfühlte, als würde mir jemand das Wort in beide Ohren schreien.

»Schattenblitz«, wisperte ich leise.

Die Knochen verblassten und wurden von einemschwarzen Mantel verschluckt, der sich um sie legte. Er zog sich von denFingerspitzen ausgehend langsam über meine gesamte Hand und hörte erst beimGelenk auf. Kleine Blitze zuckten ab und zu zwischen meinen Fingern hin undher, während ich meine Hand hin und her drehte, um sie aus allen Richtungen zubegutachten.

Elias hatte aufgehört zu lachen und starrtestattdessen ebenso fasziniert wie ich meine Hand an. »Was, bei Arthas kaltemBart, ist das?«

Anstatt ihm eine Antwort zu geben, ballteich meine nun knöcherne Hand zu einer Faust und stieß sie herab. Sie versankfast mühelos in den Stein neben dem Kopf des Zombies, bevor der schwarze Mantelmit einem lauten Knall verschwand und Risse in den soliden Boden sprengte.

Elias Atem hatte kurz gestockt; jetzt abersah er mich voller unbändigem Hass an. »Eine Demonstration?!«, röchelte erwütend. »Bring es zu Ende, du elende Ratte!«

Ich betrachtete den Untoten für eine Weile.Er sah miserabel aus, aber ich glaubte nicht, dass er sterben würde. Womöglichwürde er ein Krüppel bleiben, womöglich konnte er sogar mit genügend Wissen undMagie geheilt werden. Während ich so über ihm gebeugt neben ihm kniete, schmissmir Elias einen kraftlosen Fluch nach dem anderen an den Kopf, bis ichschließlich aufstand und ihm nur kurz zunickte.

»Es tut mir leid.«

Dann drehte ich mich um, hob meine Tascheauf und ging in den finsteren Gang hinein, der mich wieder zurück an dieOberfläche bringen würde. Hinter mir ließ ich einen schweigenden, verwundertenund vermutlich sehr verwirrten Untoten, und einen unsichtbaren Mann, der in mirnach Blut und Macht schrie und der immerleiser wurde, je weiter ich ging.
 
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Kapitel 11 - Von alten und neuen Feindschaften

Die Gänge nahmen kein Ende. Ich hatte auf dem Hinweg versucht mir einzuprägen, wo wir abgebogen waren, doch konnte ich nicht mehr sicher sagen, ob ich noch auf der richtigen Fährte war. Anhaltspunkte gab es keine: Die Stollen sahen allesamt gleich aus, hatten in gleichem, regelmäßigem Abstand Fackeln an den Wänden hängen und immer wieder eine vergitterte Tür, die in dreckige, finstere Zellen führten.
Hastig lief ich weiter. An manchen Stellen war ich mir ziemlich sicher, wohin ich mich wenden musste, an andere Kreuzungen erinnerte ich mich nicht einmal mehr. Das Labyrinth, in dem ich mich befand, musste es seinen Gefangenen unheimlich schwer machen, sollten sie doch einmal aus ihren Zellen entfliehen. Und ich fühlte mich von Minute zu Minute mehr wie ein weiterer Unglücksseliger, den man nie mehr fortkommen lassen wollte.
Gerade, als ich an einer weiteren Kreuzung ankam, hörte ich ein leises, metallisches Klicken. Augenblicklich blieb ich stehen und presste mich an die Wand. Schritte ertönten, die sich schnell entfernten, und nach einigen Sekunden war nichts mehr zu hören.
Misstrauisch lugte ich um die Ecke in einen weiteren, inzwischen altbekannten Gang. Nichts war zu sehen, nicht einmal das kleinste Anzeichen dafür, dass gerade eben noch jemand hier vorbeigekommen war. Und so sehr es mich auch wurmte, ich war mir sicher, dass dieser Gang zu den Treppen führte.
Vorsichtig und auf jeden Schritt bedacht schlich ich weiter. Immer wieder warf ich einen vorsorglichen Blick über meine Schulter, um sicherzugehen, dass mir auch niemand folgte, und einige weitere nach vorne, stets hoffend, dass der unbekannte Wärter nicht noch einmal durch diesen Gang passieren würde.
Das Quietschen und Knarren von verrostetem Eisen nahm ich erst wahr, als es bereits zu spät war. Ich konnte gerade noch aus dem Augenwinkel erkennen, wie ein wildes Tier eine der Kerkertüren, an denen ich vorbei kam, aufstieß und sich im selben Atemzug knurrend und fauchend auf mich stürzte. Noch während wir zu Boden gingen, versuchte es, mir mit seinen Krallen die Augen auszukratzen. Verzweifelt drosch ich auf den Kopf des Wesens ein, bis ein besonders kräftiger Hieb ein in der Stille markerschütterndes Knacken nach sich zog.
Das Tier bäumte sich auf und schrie. Auch wenn seine Stimme klang, als hätte seine Kehle schon seit Jahren keinen Tropfen Wasser mehr gespürt, war sie dennoch eindeutig menschlich.
Ein Tritt beförderte meinen Angreifer von mir herunter und gab mir genügend Zeit, mich aufzurappeln und drohend meine Fäuste zu heben. Auch mein Gegenüber kam wieder auf die Beine und starrte mich zwischen verdreckten und verfilzten Haarsträhnen aus hasserfüllten Augen an. Es war einer der Gefangenen; seine Kleidung, die früher einmal von leuchtendem Rot gewesen sein mochte, war ausgeblichen und ebenso dreckig wie sein Gesicht.
»Für den Kreuzzug!«
Einen Moment lang starrte ich ihn nur perplex an, während er mit diesem gekrächzten Schlachtruf auf den Lippen auf mich zustürmte. Die Zunge, mit der er gesprochen hatte, kam mir merkwürdig fremd und zugleich vertraut vor.
Dann begann unser Zweikampf aufs Neue, und meine Gedanken wurden sehr schnell abgelenkt. Ich blockte seinen ungestümen Schlag jetzt, da ich auf den Angriff vorbereitet war, mit Leichtigkeit. Die lange Gefangenschaft hatte ihre Spuren hinterlassen: Seine Schläge waren schwach und ungelenk und nur von seinem Hass getrieben. Nach den ersten Attacken fing ich regelrecht an, mich zu entspannen. Manchen wich ich lachend und tänzelnd aus, andere blockte ich betont lässig, was ihn noch mehr in Rage brachte. Und je länger unser gefährlicher Tanz ging, desto mehr spürte ich, wie sich eine heiße Faust um mein Herz schloss und Feuer statt Blut durch meine Adern rann.
Dann tat er einen besonders weiten Ausfallschritt in einem Versuch, mir die Nase zu brechen. Meine Füße bewegten sich wie von selbst, und seine Faust ging seitlich an mir vorbei ins Leere. Dafür hatte sich um meine eine schwarze Finsternis, die nur von einigen Blitzen umtanzt wurde, gebildet, und sie bohrte sich tief in den Bauch meines Feindes. Das bisschen Stoff, was ihm als Kleidung diente, verbrannte an der Stelle, an der ich ihn traf, und das gleiche Schicksal ereilte seine Haut und das Fleisch darunter.
Seine wütenden Schreie stockten, sein Mund öffnete und schloss sich, ohne dass auch nur ein einziger Laut über seine Lippen gedrungen wären. Die Augen weiteten sich und schienen aus ihren Höhlen dringen zu wollen. Dann, nach einem letzten verzweifelten Aufbäumen, hörte ich das Brechen von Knochen und Geräusche, wie wenn ein Koch ein Schnitzel zurecht klopfte. Wärme floss regelrecht über meine Hand und umschmeichelte jeden einzelnen meiner knöchernen Finger.
Der Gefangene lag regungslos am Boden. Dort, wo meine Faust ihn getroffen hatte, klaffte ein Loch im Bauch. Es sah ein wenig aus wie eine Leiche, die von wilden Hunden zerfleischt und nur halb angefressen liegengelassen wurde.
Ich stand einfach nur da und sah dabei zu, wie das Blut von meinen Fingern tropfte. Und dann hörte ich ein leises Lachen, das schnell lauter wurde, bis es fast schon hysterische Klänge annahm und von den Wänden zurückgeworfen wurde.
Es schallte mir so lange in den Ohren, bis ich erkannte, dass es aus meinem Mund drang.
Schlagartig verstummte ich. Blinzelte ein paar Mal, schüttelte dann mit geschlossenen Augen den Kopf, hielt mir meine Hände auf die Ohren und schrie voller Entsetzen auf. Erst, nachdem nicht mehr genügend Luft in meinen Lungen war, verstummte ich und starrte den Leichnam an. Blut war auf meine Kleidung gespritzt, klebte an den Wänden und auf dem Boden. Das Feuer in mir war mit einem Schlag erloschen und hatte kaltem Eis Platz gemacht.
»Das war nicht ich«, wisperte ich verzweifelt. »Das war nicht ich. Das war nicht ich!«
Wie um den Schuldigen zu suchen, sah ich mich hastig um. Noch immer war ich vollkommen alleine, abgesehen von dem Mann, den ich gerade umgebracht hatte.
Ohne einen weiteren Blick auf die Leiche zu werfen, rannte ich los. Der Weg schien nun so klar zu sein, als wäre ich ihn schon Hunderte Male gegangen. Fackeln verschwammen zu leuchtenden Punkten, Steine wurden zu einem eintönigen Grau, durch das ich hindurch hastete. Kaum dass ich die Treppe erreichte, sprintete und stolperte ich sie hinauf, um dann durch die Pyramide und ins Freie zu jagen. Untote, die mir auf dem Weg begegneten, schupste ich einfach zur Seite, und die Flüche, die sie mir hinterher riefen, drangen nur dumpf an meine Ohren.
Draußen auf dem großen Platz angekommen, sah ich mich panisch um, bis meine Augen entdeckten, wonach sie suchten: die grünen Fluten des ekelerregenden Flusses, der sich durch ganz Undercity zu ziehen schien. Sofort rannte ich weiter, versuchte, Passanten auszuweichen oder rannte sie einfach über den Haufen, wenn sie selbst nicht stoppten.
Beim Fluss angekommen, warf ich mich direkt am Rand des steinernen Flussbettes auf den kalten Boden, steckte meine knöcherne Hand hinein und wusch sie. Einige Male betrachtete ich sie eingehend, und erst, als ich nicht einmal mehr einen einzigen Tropfen Blut an den geschwärzten Knochen entdecken konnte, schien sich mein Geist wieder ein wenig zu beruhigen. Ich atmete ein paar Mal tief durch, rappelte mich auf und schaute mich um, während ich meine Gedanken sortierte und überlegte, was ich als nächstes tun sollte.
Zuerst einmal musste ich meine eigene Angst niederkämpfen, die sich wieder in mir ausgebreitet hatte und anfing, mich anzuschreien und anzuflehen, einfach aus Undercity zu verschwinden. Und dafür kannte ich einen Ort, der besser geeignet war als alle anderen: die Taverne im Inneren Ring.
Ich brachte den Weg rasch hinter mich. In der Hoffnung, dass mich niemand erkennen würde, hatte ich mir die Kapuze meines Mantels übergeschmissen und tief ins Gesicht gezogen, und als ich die Bank passierte, achtete ich darauf, einen möglichst großen Bogen um die Gitterfenster zu machen, damit mich die geisterhafte Dame nicht verriet. Während ich der Taverne Schritt für Schritt näher kam, kamen mir auch immer öfters Gedanken darüber, was in den Kerkern geschehen war. Das Lachen war nicht ich gewesen, sondern das Monster in mir; und der schemenhafte Mann, der wütend neben Elias gestanden hatte und meinem Kopf entsprungen schien, wurde mit einem Mal angsterregend echt.
Und dennoch war ich es gewesen, der den Menschen getötet hatte. Es war Selbstwehr gewesen, ohne Zweifel, und das beruhigte zumindest mein Gewissen ein wenig. Übrig blieb die erdrückende Schuld, ein Leben ausgelöscht und dabei, tief in mir, Spaß verspürt zu haben.
Ich bemerkte erst, dass ich in der Taverne angekommen und bereits Platz genommen hatte, als ich das Grunzen des dürren Wirts vernahm. »Lagerbier«, antwortete ich etwas abwesend und starrte dabei auf meine knöcherne Hand.
Sie hatte sich einfach in ihn hinein gebohrt. Bei Elias hatte ich meine Kontrolle gewahrt und ihn absichtlich verfehlt; aber bei dem Menschen, der mich genauso grundlos angegriffen hatte wie Elias, war sie mir einfach entglitten.
Ein etwas lauteres Grunzen und der Klang von Holz auf Holz machte deutlich, dass der Wirt meinen Krug gebracht hatte. Wortlos griff ich danach und nahm einen tiefen Schluck, grunzte ungefähr im gleichen Tonfall und trank dann in einem Schwung den Krug aus.
Der Untote schaute mich für einen Moment mürrisch an, nahm dann schweigend den Krug an sich und ging zurück zur Theke, um ihn neu zu füllen. Die Wärme, die durch meinen Körper strömte, und vor allem die Trägheit, die sich ungefähr zeitgleich in meinem Kopf breitmachte, hatten etwas Beruhigendes und Tröstendes an sich, und ich war gewillt, beides wie nur möglich zu verstärken.
»So, so. Der unbekannte Untote sitzt also dort, wo ich ihn am ehesten erwartet hätte.«
Noch ehe ich meinen Kopf hochreißen konnte, um zu sehen, wer mich da ansprach, hatte sich bereits eine in einer schwarzen Kutte gekleidete Person mir gegenüber an den Tisch gesetzt. Ihre Kapuze war tief ins Gesicht gezogen, so dass man gerade noch ihr Kinn erkennen konnte; dafür stachen zwei weise, spitze Ohren umso deutlicher aus extra hineingeschnittenen Löchern hervor.
Meine knöcherne Hand ballte sich zu einer Faust, und die andere wanderte zu dem Dolch, der noch immer in dem Strick, der mir als Gürtel diente, steckte. Meine Augen verengten sich zu misstrauischen Schlitzen, während ich meinen Gegenüber genau beobachtete. Die Stimme war sehr rau, aber dennoch hoch; eine Frau also. Dass es sich um eine Blutelfe handelte, konnte jeder, der des Sehens mächtig war, an den Ohren erkennen. Allerdings konnte ich nicht einmal sicher sagen, woher ich den Begriff kannte, geschweige denn, warum in eben diesem Moment des Erkennens meine Gedanken, eben noch schwer und träge, zu rasen begannen und ein Feuer in mir aufstieg, das mir nur allzu bekannt war.
Für ein paar Sekunden schwiegen wir, bis ein leises Lachen unter der Kapuze hervordrang. »Nicht sehr redselig, wie ich sehe. Nun, ich dachte eigentlich, ich hätte dich gut entsorgt. Was mich allerdings verwirrt, ist, dass du meine... Warnung nicht zu verstehen scheinst.«
Der Wirt trat an unseren Tisch und stellte meinen aufgefüllten Krug vor mir ab. Ohne zu zögern, nahm ich meine Hand von meinem Dolchknauf weg und umfasste den Henkel.
»Schwerer Fehler«, wisperte die Elfe.
Die Klinge, die einen Augenblick später den Schein der Kerzen reflektierte, verharrte in ihrer erhobenen Faust, als sie meine schwarze und von Blitzen umschlungene Hand einige Zoll von ihrer Nase entfernt bemerkte. Eine Stimme in meinem Kopf schrie, flehte, peitschte mich an, ihr den Zauber ins Gesicht zu rammen, und das Feuer in mir fing an zu toben und unerträglich zu werden. Für einen winzig kleinen Augenblick verschwamm sogar meine Sicht und alles um mich herum schien von Flammen anheim gefallen zu sein, bis auf jene Elfe, die mir gegenüber saß. Sie brennen zu sehen, musste wunderschön sein.
Meine Hand fühlte sich ein wenig komisch an. Ich brauchte einen Moment, bis ich mich daran erinnerte, den Krughenkel in ihr zu haben. Ohne zu zögern, aber auch ohne meine verfinsterte Faust zurückzunehmen, nahm ich einen neuerlichen Schwung, leerte ihn über die Hälfte und stellte ihn dann krachend wieder ab. Die Flammen verschwanden und auch das Feuer in mir loderte nicht mehr gänzlich so heiß, doch die Stimme in meinem Kopf brachte ich damit noch nicht zum Schweigen.
Die Blitze erhellten ab und an die Finsternis unter der Kapuze, und ich erkannte eine zierliche Nase, einige blonde Haarsträhnen und grün schimmernde Augen, die mit einer Mischung aus Verwunderung und Hass zurück schauten. Allerdings obsiegte die Verwunderung, denn langsam senkte sich das Messer wieder, bis es offen auf dem Tisch lag und sich die zierliche Hand der Elfe davon entfernt hatte. »Was ist das für ein mieser Trick?!«
Ich musste mich zusammenreißen, um nicht ein verräterisches, zittriges Lachen von mir zu geben. Einmal öfters rief ich mir ins Gedächtnis, dass ich ein Mörder war, ein abgebrühter Klingenmeister, und dass jede Regung in meinem Gesicht ein Zeichen von Schwäche sein mochte. Fast wünschte ich, dass das Monster in mir Besitz ergriff, aber kaum war dieser Wunsch geäußert, tauchte der entstellte Leichnam des Menschen vor mir auf, und ich musste aufpassen, dass ich nicht zu würgen anfing.
Mit einem leisen Zischen verschwand der Zauber von meiner Hand, und ich legte sie über meine andere, die den Dolch gezogen hatte, auf den Tisch. Die Stimme in mir tobte vor Enttäuschung, doch ihr Toben wurde leiser und leiser, je mehr ich mich auf die Elfe konzentrierte.
Ich kannte diese grünen Augen, die geradewegs in meine zurück starrten. Es handelte sich um dieselbe Elfe, die ich durch ein Loch im Dach ihres Hauses hatte beobachten können, wie sie einem eingestürzten Untoten einen saftigen Tritt zwischen die Rippen gegeben hatte. Und sie hatte indirekt gerade zugegeben, dass sie mich umgebracht hatte. Nicht als Menschen, sondern als Untoten.
Die Bestie in mir war keine pure Einbildung mehr. Sie musste ich sein, vor meinem Tod. Mein wahres Ich, ein blutrünstiges Monster, das in Undercity einen furchterregenden Ruf erhalten hatte und dessen Namen ich nun trug; ein Name, den es nicht gab, und der vielleicht gerade deshalb so viel Angst und Schrecken verbreitete. Blackweaver hatte mit mir gemeinsame Sachen gemacht, er kannte mein früheres Ich zumindest flüchtig. Und jetzt saß mir genau jene Person gegenüber, die womöglich den Schlüssel zu den Antworten all meiner Fragen in ihren grazilen Händen hielt.
»Nimmst du mir meinen kleinen Giftanschlag etwa übel?« Die Blutelfe beugte sich etwas weiter vor und stützte ihren Kopf auf ihren Händen, genau so, dass ich gerade noch das Lächeln auf ihren Lippen erkennen konnte. »Es war doch sicherlich nicht das erste Mal, dass dich ein Konkurrent ausschalten wollte, oder nicht? Ich habe gehört, du arbeitest jetzt für Direflesh - zahlt er gut?«
»Miserabel«, entgegnete ich möglichst schroff, doch zu meinem Entsetzen hörte ich mich weder schroff noch furchterregend, sondern eher verängstigt an. Ein Giftanschlag? Warum zum Teufel war ich dann jetzt noch am Leben, wenn man mein Dasein überhaupt als Leben bezeichnen konnte?
Ihre grünen Augen blickten mich verschmitzt unter der Kapuze heraus an. Das breiter werdende Lächeln machte mir klar, dass auch ihr mein Tonfall nicht entgangen war. »Ich habe gesehen, wie man dich nach draußen geschleift hatte, um dich irgendwo in der weichen Erde zu vergraben. Warum bist du nicht einfach dort liegen geblieben, hm? Jetzt muss ich mir wieder Sorgen machen, dass du mir meine Kundschaft stiehlst.«
Meine Eingeweide fingen an, sich zu verdrehen und zu winden. Nicht aus Angst, wie ich zuerst annahm, sondern weil ein unheilvolles Feuer begann, erneut in mir zu lodern. Meine Hände begannen bereits, sich unruhig zu Fäusten zu ballen und wieder zu öffnen. Auch der Blutelfe war das nicht entgangen, und sie schien etwas unsicherer dabei zu werden: Sie rutschte auf ihrem Stuhl ein wenig hin und her und beobachtete genau die Bewegungen meiner Finger.
»Du solltest dir um etwas anderes Sorgen machen«, knurrte ich leise. Das Feuer hatte sich inzwischen weiter durch meinen Körper gefressen und erreichte langsam, aber sicher meine Kehle. Es legte mir Wörter auf den Mund, an die ich noch vor einem Augenblick nicht einmal zu denken gewagt hatte. Jetzt allerdings brannte unbändiger Hass in mir auf, den ich nur schwer zu kontrollieren vermochte. Meine Finger zuckten schon begehrlich, um sich in die Augen der Elfe zu bohren und sie herauszuholen, und ich hatte ehrliche Mühe, mich davon abzuhalten, es einfach zu tun.
Dann kam der Schlag, und er traf mich genauso überraschend und unvorbereitet wie das letzte Mal. Ein Gesicht erschien für den Bruchteil einer Sekunde vor meinen Augen – ein wunderschönes Gesicht, makellos, von heller Haut – und dann ein Dolch, der quer über die Wange fuhr und eine hässliche Wunde hinterließ.
Ich schüttelte mich erschrocken, packte meinen Dolch fester und starrte die Blutelfe an. Sie wurde merklich unruhiger, auch wenn sich das Lächeln noch immer auf ihren Lippen hielt. »Dir scheint es nicht gut zu gehen. Womöglich muss ich mich gar nicht erst um dich kümmern?«
Einige Augenblicke lang starrte ich sie nur an, bis ich wisperte: »Wie geht es deiner Narbe?«
Das Lächeln erfror.
Der nächste Schlag war schmerzhaft real. Ihre Faust zuckte so schnell nach vorne, dass ich sie nicht einmal kommen sah; ich spürte und hörte nur das Knacken meines Nasenbeins und dann einen dumpfen, stechenden Schmerz. Ich fiel mitsamt meinem Stuhl um, und erst, als ich mit dem Kopf auf den harten Untergrund aufschlug, begann ich zu verstehen, was gerade passierte.
Gerade, als ich mich aufrappeln wollte, sprang sie mit hoch erhobenem Dolch vom Tisch ab und raste auf mich zu. Mein Arm hob sich wie von selbst und blockte, durch die Dämonenhaut gestärkt, die Waffe ab; dafür vergrub sich ihr Knie tief in meinen Magen und presste mir dabei alle Luft aus meinem Körper. Ein hässliches Schmatzen drang durch das Loch in meiner Brust nach draußen, als hätte sie gerade einige Organe in mir zerquetscht.
Ihr nächster Dolchstich kam zu schnell. Noch während sich die Klinge in meine Schulter bohrte, begannen dumpf pochende Schmerzen sich in meinem Bauch zu bilden; einige Sekunden später kam der sehr viel quälendere Stich hinzu. Ich schrie auf, und meine Faust verwandelte sich in eine schwarze Kugel, mit der ich wild nach der Elfe schlug. Nicht ein einziger Schlag landete im Ziel; sie hatte bereits von mir abgelassen, stand ein paar Fuß von mir entfernt und beobachtete mich dabei, wie ich mich endlich aufrappelte.
»Du bist langsam geworden«, hisste sie mir zu, während sie anfing, mich zu umrunden. Sie hatte einen zweiten Dolch in der Hand - meinen, wie ich einen Augenblick später erkannte.
Ich biss die Zähne zusammen, als sich meine freie Hand um den Griff des Messers legte und es dann mit einem Ruck herauszog. Zu meiner Überraschung ließen die Schmerzen umgehend nach, und es blieb nichts weiter als ein dumpfes Pochen und ein tiefer Schnitt, aus dem schwarzes, dickes Blut träge heraus tropfte. Ich musste zugeben, dass es auch seine guten Seiten hatte, nicht mehr zu leben, denn selbst mir war bewusst, dass so eine Wunde höllische Qualen verursachen musste.
»Ich bin nicht der, für den du mich hältst«, krächzte ich und ging dabei einen Schritt auf den Ausgang der Taverne zu. Als hätte sie erraten, was ich vorhatte, huschte die Elfe umgehend in die andere Richtung und versperrte mir halb den Weg; dennoch ließ sie gebührenden Abstand zu mir und wich auch weiter zurück, je weiter ich mich in Richtung des Inneren Kreises bewegte.
»Dann sag mir, wer du bist, hm?«
»Ich habe keinen Namen.«
Sie lachte. Ein kleines, gehässiges Lachen. »Was für ein dummer Zufall! Immerhin hattest du noch nie einen.«
»Ich kann mich nicht mehr an ihn erinnern. Ich kenne nicht einmal Euch beim Namen.«
»Tatsächlich. Aber an die Narbe, die du auf meiner Wange hinterlassen hast, erinnerst du dich.«
Meine Hände verkrampften sich. Ich musste wirklich lernen, meinen Mund zu halten. »Wollt Ihr mich also hier und jetzt töten?«
»Oh, nein. Das wird das Gift übernehmen.«
Wie angewurzelt blieb ich stehen und schaute sie entgeistert an. Ihre Augen verrieten mir alles, was ich wissen musste, und jegliche Hoffnung, dass sie log, mich nur in Angst und Schrecken versetzen wollte, verflog. Ein Blick auf den Dolch in meiner Hand offenbarte zwischen dem schwarzen Blut einige schillernde Farben, die mich fröhlich im Fackellicht anfunkelten.
Das Messer fiel zu Boden; der Schattenblitz, bis eben noch meine Faust durchzuckend, verpuffte mit einem kläglichen Laut. Meine Knie fingen an zu zittern, bis es sich hinauf in meine Brust fraß und schließlich meinen ganzen Körper erfasste. Ich wollte etwas sagen, gurgelte aber stattdessen nur ein paar Worte vor mich hin, fiel dann auf die Knie und wippte ein wenig vor und zurück, während meine Arme schlaff und nutzlos an mir herunter hingen.
Meine Bezwingerin kam mit einem finsteren, grausamen Lächeln auf mich zu und strich sich dabei die Kapuze vom Kopf. Sie war schön; einige Haarsträhnen, die ihrem Zopf entflohen waren, hingen ihr ins Gesicht und gaben ihr etwas Wildes. Allein eine feine Narbe auf ihrer rechten Wange zerstörte geringfügig die Eleganz, nicht aber die Arroganz, die sich in ihrer Miene widerspiegelte, als sie vor mir in die Hocke ging. »Es wirkt sehr viel besser, als ich erwartet hatte. Du musst wissen, ich habe es extra auf dich -«
Meine knöchernen Finger schossen nach vorne, packten sie am Hals und drückten zu. Ich hörte auf, wirres Zeugs vor mich hin zu gurgeln, ergriff ihre Hand, die noch immer meinen Dolch hielt, und drückte so sehr zu, dass sich ein panisches und gequältes Fiepen und Krächzen aus ihrer Kehle löste, bevor die Klinge auf den Boden fiel.
»Hör mir gut zu«, knurrte ich sie an. Es war nicht meine Stimme, zumindest nicht ganz. Ich spürte, wie sich das Monster in mir einen Weg nach außen krallen wollte, und für einen Augenblick drückte ich fest genug zu, dass der Elfe gar keine Luft mehr blieb. Alle Muskeln in mir spannten sich an, als ich den Griff wieder ein wenig lockerte, gerade genug, dass sie nach Luft schnappen konnte.
»Nein! Nicht jetzt, du verdammtes Scheusal!«
»SIE GEHÖRT MIR!«
Die Stimme dröhnte in meinem Kopf, so sehr, dass ich kurz einknickte und aufschrie. Auch nachdem sie wieder verstummt war, sirrten mir noch meine Ohren.
»Was -«
Automatisch drückte ich wieder ein wenig fester zu und erstickte die Frage im Keim. Ich riss die Elfe heran, so nahe, dass sich unsere Nasen beinahe berührten, und starrte ihr in die Augen. Ich wusste nicht, was sie sah, aber was auch immer es war, es hinterließ pure Angst in den ihren.
»Das Gegengift«, grollte ich noch etwas heißer von ihrer ungestümen Attacke.
Das Krächzen half mir nicht weiter, als ließ ich ihr wieder ein bisschen mehr Luft. Ihre nächsten Worte waren: »Lass... mich... los!«
»Lass sie nicht los! Töte sie! Reiß ihr den Kopf ab! Sieh nur, was für schönes Fleisch sie hat... beiß ihr in den Hals und reiß ihr -«
»Das Gegengift!«, brüllte ich sie an und schüttelte sie dabei voller Wut und Verzweiflung, bis ich von ihr abließ und sie wieder ganz nahe an mich heran brachte.
»Es... gibt... keins!«, würgte sie hervor.
»Was?!«
»Jetzt! Töte sie! Reiß ihr das Herz aus! Tu es, bevor ich sterbe! Lass sie bluten! Die Gedärme sollen -«
»Es muss etwas geben!«, schrie ich ihr ins Gesicht und würgte sie dabei noch mehr als vorher. Ihre bleiche Haut wurde bereits allmählich blau, als sich ihre Lippen erneut bewegten, anstatt wie vorher nur wie ein Fisch am Land vollkommen unnütz nach Luft zu schnappen.
»Heiler...«
»Was für ein Heiler?!«
»P... Pries... ter...«
Mein gesamter Körper zitterte vor Zorn und Angst. Beides brüllte ich mit einem langgezogenen und schrillen Schrei heraus, bevor ich die Elfe einfach zur Seite warf. Sie krachte in den Tisch, an dem wir noch wenige Minuten zuvor gesessen hatten, klammerte sich an ihn und hustete laut vor sich hin bei dem Versuch, wieder zu Atem zu kommen.
»NEIN!«, entsetzte sich die Stimme in meinem Kopf. »Sie lebt noch! Töte sie! TÖTE SIE! TÖTE SIE! TÖTE -«
Die Stimme brach abrupt ab, und das Sirren war verschwunden. Überrascht sah ich mich um. Einige Schaulustige hatten sich am Eingang der Taverne eingefunden und starrten mich ihrerseits an; ich konnte sehen, wie sie sich gegenseitig Dinge zu tuschelten, aber ich hörte nichts davon. Alle Geräusche um mich herum waren plötzlich von einer grausamen Stille verschluckt worden.
Das nächste, das ich bemerkte, waren meine müder werdenden Beine. Der nächste Schritt fühlte sich schon an, als versuchte ich, einen Felsblock zu verschieben; dann fiel ich einfach auf die Knie und fing an, hin und her zu schwanken.
»Gordo!«
Ich hörte meine eigenen Worte nicht. Ich wusste nicht einmal, ob ich laut genug rief, damit mich der Hüne überhaupt hören konnte.
Ich rief seinen Namen einfach weiter, ununterbrochen, und bei jedem Ruf merkte ich, wie der Fackelschein um mich herum etwas dunkler wurde. Gerade, als ich schon fast nichts mehr erkennen konnte, bemerkte ich einen Untoten, der geradewegs an mir vorbei flog, und dann, wie ich merkwürdig sanft aufgehoben wurde.
Das unförmige Gesicht der Monstrosität schwebte über mir, und ich bildete mir sogar ein, in den Augen der Bestie so etwas wie Mitleid und Angst um mich zu sehen.
»Es ist zu spät. Selbst der Fettsack weiß das. Und du hast nicht einmal diese Schlampe erledigt, du unnützer Idiot. Wenn ich es nur könnte, würde ich dich eigenhändig töten. Ich würde -«
»Priester, Gordo. Bring mich... zu einem...«
Meine Gedanken verschwanden unter einem schwarzen Tuch, das sich sanft über mich legte und Licht, Wärme und Kälte erstickte.
 
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sehr interessant auch wenn ich das alles nochmal lesen musste um wieder reinzukommen hat sich das umschreiben auf jeden fall gelohnt
wesentlich düsterer und spannender als davor
bin jedenfalls auf die fortsetzung gespannt
 
Kapitel 12 - Ein Leben nach dem Tod

Ein Grunzen direkt an meinem Ohr ließ mich aufschrecken. Ich saß fast aufrecht in einem finsteren, kahlen Raum. Eine einzelne, verlorene Fackel spendete Licht und beleuchtete feucht glänzende Steinwände und eine morsche, hölzerne Liege, auf der ich mich befand.
»Du wach!«, brummte eine wohlbekannte Stimme neben mir. Gordo - oder besser gesagt, sein Kopf - grinste mich dümmlich an. Außer seinem Kopf sah ich auch nichts von ihm. Er streckte ihn durch eine Öffnung in der Wand herein, der einzige Durchgang, den ich finden konnte.
»Ja, Gordo, ich bin wach.« Ich klang schwächlich, fast so, als hätte jemand meine Lebenskraft ausgesaugt, und ich fühlte mich auch so. Jede Bewegung schmerzte, und das beunruhigte mich. Schmerzen hatte ich bis jetzt noch nie wirklich verspürt; aber das, was durch meine Muskeln zuckte und mich die Zähne zusammen beißen ließ, als ich meine Beine von der Pritsche herunter schwang, war ein Zeichen für etwas Besonderes. Ich konnte nur noch nicht zuordnen, für was.
»Wie lange war ich hier?«, fragte ich den Hünen und massierte mir dabei meine Stirn. Es fühlte sich gut an und hatte etwas beruhigendes, eine Geste, die wie einstudiert und altbekannt wirkte.
»Gordo nicht wissen. Lange. Ich haben geschaut jeden Wachdienst nach dir.«
Der treudoofe Blick, mit dem mich die Kreatur ansah, trieb ein Lächeln auf meine Lippen. Als ich aufstand und meine Beine zu zittern begannen, hörte ich ein kurzes Knirschen und spürte dann zwei seiner dicken Finger, mit denen er mich an der Schulter packte und mich aufrecht hielt. »Danke, mein Freund.«
Gordos Grinsen wurde noch ein großes Stück breiter. »Gordo haben Freund. Schön.«
Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und ging mit Gordos Hilfe auf den Ausgang zu. Das Knirschen kam von dem durch seinen mächtigen Arm abgeschabten Stein, wie ich jetzt sah. Draußen angekommen, bot sich mir ein seltsamer Anblick: Ein kleiner Wasserfall aus grüner Schlacke, wie sie zäh und langsam durch die Kanäle Undercitys floss, stürzte an mir vorbei und nach unten. Von dort floss sie in einen eben dieser Kanäle, und auf der anderen Seite des Kanals war ein kleiner Platz, auf dem sich gerade einige Untote damit vergnügten, gegenseitig Gliedmaßen abzuhacken. Das Grunzen, Graulen und Geschrei war groß, und für einen Augenblick wunderte ich mich, dass ich es in dem kleinen Zimmer gar nicht gehört hatte.
»Ah. Der Patient ist aufgewacht.«
Ein Geist mit der Gestalt einer Frau schwebte direkt neben mir und sah mich aus gespenstisch leuchtenden Augen an. Die Ohren waren merkwürdig spitz, die bläulich schimmernden Haare schwebten in der Luft, anstatt sich über ihren Kopf zu legen. Eine ihrer klauenartigen Hände näherte sich meiner Brust, und ich wäre instinktiv zurückgewichen, hätte mich Gordo nicht in seinem eisernen Zwei-Finger-Griff festgehalten.
Die Berührung war überraschend zart, und Wärme ging von der Stelle aus, wo ihre Finger auf meine Haut trafen. Ein schwaches, goldenes Leuchten trat an dem Punkt aus mir hervor und hörte sofort auf, als die geisterhafte Dame ihre Hand wieder zurück zog. »Das macht zwei Goldstücke.«
Ich starrte sie etwas verständnislos an, bis sich ihre ohnehin nicht sehr freundliche Miene deutlich verfinsterte. »Spreche ich undeutlich, du verrottender Madenpfuhl? Zwei Goldstücke!«
Wie automatisch griff meine Hand nach dem Lederbeutel an meinem Gürtel. Allerdings griffen die Finger ins Leere. Auch ein erschrockener Blick zu der Stelle ließ ihn nicht auftauchen. »Ich... habe kein Geld bei mir.«
Der Schrei, den sie mir entgegen schleuderte, war so schrill und intensiv, dass die Kämpfenden auf dem Platz innehielten und neugierig zu uns hinüber schauten.
»Kein Geld?! Unter diesen Umständen sollte ich das Gift wieder in deinen Körper bannen!«
»Ich habe es nicht hier!«, rief ich hastig und hob dabei abwehrend die Hände. »Bei Direflesh! Direflesh hat das Geld!«
Tatsächlich schien sich der Geist etwas zu beruhigen. Sie begnügte sich damit, mich voller Hass anzustarren, bevor sie sich umdrehte und über den Boden davon schwebte. Ihr rosafarbenes Kleid verlor sich dabei im Nichts, noch bevor es die Steinplatten hätte berühren können.
»Eine Stunde!«, drang ihre schrille Stimme an meine Ohren. »Ich gebe dir eine Stunde. Vergeude sie nicht!«
Hatte ich mich eben noch schlapp und wie verprügelt gefühlt, so durchströmte mich jetzt eine Mischung aus Zorn, Angst und Ratlosigkeit. »Gordo, was soll ich jetzt tun?«
Der Hüne schien tatsächlich nachzudenken; zumindest hatte er seinen sonst offen stehenden Mund geschlossen und starrte angestrengt auf eine der Steinplatten zu seinen Füßen. Schließlich rumpelte er: »Du gehen zu Direflesh.«
Ich vergewisserte mich mit einem kurzen Blick über die Schulter, dass die gespenstische Dame nicht noch immer ihre Ohren spitzte, und bedeutete dem Koloss, dass ich weitergehen wollte. »Das war nur eine Ablenkung, Gordo. Eine Lüge, damit mich meine Retterin nicht sofort wieder in den Tod schickt. Direflesh würde mir niemals Geld geben.«
»Du arbeiten für Direflesh. Er dich bezahlen.«
Ich lachte leise und freudlos. »Woher weißt du das?«
»Ganz Undercity wissen. Namenloser Untoter wieder da. Schrecken unter Apothekern. Ich -«
»Warte, Gordo. Namenloser Untoter? Meinst du mich?«
Gordo sah mich mit einem Blick an, als würde er an meinem Verstand zweifeln. »Du sein namenloser Untoter. Sagen, du gefährlich. Ich nicht glauben. Ich sagen, du freundlich. Lachen.«
Die Stimme in meinem Kopf kam mir in den Sinn. Was Gordo mir erzählte, passte auf meinen inneren Dämon wie die Faust aufs Auge der vermaledeiten Elfe, die mir meine Geldbörse geklaut hatte.
»Gordo, hör mir zu.« Ich atmete einmal tief ein und aus, seufzte dann lange und kratzte mich am Kopf. »Ich bin nicht der, für den mich alle halten. Ich bin... jemand anderes. Aber derjenige, den sie meinen, ist noch in mir.«
Ich konnte seinen Augen entnehmen, dass mich das Monstrum für vollkommen verrückt hielt. »Du gehen zu Direflesh. Holen Geld. Bezahlen Priesterin. Dann ausruhen.«
»Ausruhen klingt gut«, murmelte ich verbittert. »Nur werde ich kein Geld von Direflesh bekommen. Ich werde mich bald mehr ausruhen, als mir lieb ist.«
»Gordo beschützen.«
Ich sah die Monstrosität lange an, bis ich nur mit einem schmalen Lächeln den Kopf schüttelte. Ich musste ein paar Mal blinzeln, doch zu meiner eigenen Überraschung rannen mir keine Tränen über die Wangen. Vermutlich, weil ich untot war, hatte ich nicht einmal mehr die Möglichkeit, Gefühle zu zeigen. Dafür klang meine Stimme erstickt, als ich erwiderte: »Danke, Gordo.«
Unser Weg führte uns durch den Inneren Ring, die Treppen hinunter und in den Äußeren Ring. Gordo schob mit seiner massigen Leibesfülle im Weg stehende Untote, Trolle oder andere Passanten einfach zur Seite, und ich stolzierte etwas wackelig auf den Beinen mit durchbohrten und halb zerrissenen Umhang hinter ihm her. Die Kapuze hatte ich wieder tief ins Gesicht gezogen; wenn ich etwas mitbekommen hatte, dann, dass mein früheres Ich viel auf Mystik und Verschwiegenheit gegeben hatte. Mein Auftreten verfehlte seine Wirkung nicht: Wurde für Gordo nur unwillig und mit lautem Widerreden Platz gemacht, verstummte es spätestens, als ich hinter ihm in Sicht kam. Die Untoten betrachteten mich mit meist unverhohlener Verachtung, doch hielten sich ihre Kommentare in Grenzen. Die wenigen Angehörigen der anderen Rassen starrten mich hingegen an, als sei ich aus dem Grab auferstanden. Aus ihren Blicken konnte ich mir zusammenreimen, dass mein vermutetes Ableben bereits die Runde gemacht haben musste. Besonders eine Blutelfe würde sehr überrascht von meiner Wiederauferstehung sein.
Meinen inneren Dämon hatte ich bis jetzt nicht wieder gehört. Ich hoffte, dass es das Gift irgendwie geschafft hatte, ihn aus mir heraus zu brennen und nur noch mich übrigzulassen, aber bei meinem bisherigen Glück glaubte ich nicht daran.
Als wir die Bank passierten, riskierte ich einen kurzen Blick zwischen die Gitterstäbe hindurch. Meine geisterhafte Freundin bedachte mich nur kurz mit ihrer Aufmerksamkeit, bevor sie sich mit hasserfüllten Augen von mir abwandte und mir nur noch ihren Rücken zeigte. Das Lächeln, dass sich auf meine Lippen geschlichen hatte, erfror.
»Ich hatte viel Spaß mit ihrem Mann.«
Beinahe stolperte ich über eine der Treppenstufen, als mein Dämon - ich hatte beschlossen, ihn nur noch so zu nennen - so plötzlich zu mir sprach. Ich brauchte einen Moment, um mich zu fangen, richtete dann meine Kapuze und lief weiter, als sei nichts gewesen.
»Schade, dass ich dir nicht meine Erinnerungen zeigen kann. Er sah ähnlich aus wie der Gefangene im Kerker, nur hatte ich keine Magie zur Hand. Dieser wunderschöne Einfall kam von dir.«
»Du willst mir also erzählen, dass ich den Mann getötet habe?«, erwiderte ich verbittert in Gedanken.
»Oh, nein. Das war ich. Du feuchter Rattenfurz würdest ohne mich doch schon gar nicht mehr leben. Kam es dir nicht komisch vor, dass die gesicherte Tür plötzlich offen war? Wem wohl die Stiefel gehören, die wir davor gehört hatten, hm?«
»Verschwinde aus meinem Kopf!«
»VERSCHWINDE AUS MEINEM KÖRPER! ICH WERDE DICH UMBRINGEN! ICH WERDE DICH EIGENHÄNDIG -«
Mein Dämon verstummte genauso schnell, wie er vorher aufgetaucht war, als ich ziemlich unsanft stoppte. Zuerst dachte ich, ich wäre gegen eine Wand gedonnert, bis ich bemerkte, dass Gordo stehen geblieben und ich in ihn hineingerannt war. Ihm selbst schien das nichts auszumachen, denn ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, deutete er auf den Eingang zum Apothekarium. »Du gehen zu Direflesh.«
»Kommst du nicht mit, mein Freund?«
Gordo schüttelte entschieden den Kopf. »Gordo zu groß. Und Apotheker nicht gut für Gordo. Schneiden andere Wächter auf, nehmen Sachen raus, tun andere Sachen rein. Wächter oft tot.«
Ich nickte nur und klopfte ihm aufmunternd auf den Arm. Ich hätte ihm auf die Schulter geklopft, wenn er nicht so groß gewesen wäre, doch auch so schien die Geste das auszudrücken, was ich beabsichtigt hatte. Dann nahm ich einen tiefen Atemzug und marschierte durch die Gänge, Keller und Folterräume der Apotheker.
Wie das letzte Mal herrschte auch heute rege Betriebsamkeit. Viele der Untoten, die mit dem Mixen von Giften und Säuren beschäftigt waren, beachteten mich nicht weiter; andere warfen mir kurze, argwöhnische Blicke zu und richteten ihr Augenmerk erst dann wieder auf ihre Apparaturen, als ich sie passiert hatte. Der Dämon in mir regte sich immer wieder, und ich konnte so etwas wie ein Raunen in mir spüren, doch ich verdrängte es so gut wie möglich und zu meiner Freude ziemlich erfolgreich. Ich hatte andere Dinge im Kopf als den mordgierigen, rachesüchtigen Metzger. Zum Beispiel jenen Untoten, der mit einem Metzgersbeil durch die Gegend hastete und den ich nun besuchen ging; der mich zudem schon seit ein paar Stunden zurück erwartete und mehr als nur sauer sein musste.
Die letzten Schritte zu der Tür schienen Ewigkeiten in Anspruch zu nehmen. Jedes Mal, wenn ich einen Fuß vor den anderen setzte, überlegte ich, ob ich nicht einfach umdrehen und davonlaufen konnte, vielleicht aus Undercity fliehen mit einem der Zeppeline, die ich vor vielleicht zwei Tagen gesehen hatte.
Zwei Tage. Sehr viel länger war es nicht her, dass alles seinen Lauf genommen hatte. Jetzt würde es womöglich sein Ende nehmen.
Meine knöcherne Hand hob sich mechanisch und klopfte drei Mal an das Holz, bevor sie den Knauf umschloss, ihn drehte und die Tür aufschob.
Direflesh stand neben seinem Kochfeuer, das ausnahmsweise brannte und nicht nur vor sich hin glomm. Die Lichtkugel, die ihn stets verfolgte, hing darüber und warf genug Licht auf sein Gesicht, dass ich die Überraschung darin lesen konnte. Was mich selbst jedoch erstarren ließ, war die zweite Gestalt, die mich nicht minder verwundert anschaute. Ihre spitzen Ohren zuckten regelrecht, als sie mich erkannte, und ihr Mund öffnete sich einen Spalt weit, als wollte sie etwas sagen, dass dann doch nicht über ihre Lippen trat. In dem Licht schimmerte die langgezogene Narbe auf ihrer Wange.
»So, so... Er ist also mit absoluter Sicherheit tot.«
Direfleshs Stimme klang eisig kalt und schneidend. Auch der Blutelfe entging der gefährliche Unterton nicht, denn sie tat einen eiligen Schritt von ihm weg, während ihre Blick zwischen mir und ihm hin und her huschte. »Das Gift war perfekt! Ihr habt es selbst mitgebraut! Ihr -«
»Ich habe dich für einen Toten bezahlt, Aritana, nicht für einen Untoten. Du enttäuschst mich.«
Angst flackerte in der Frau auf, als sie zusah, wie sich Direflesh umdrehte und sein Hackbeil ergriff, dass er in eins seiner hölzernen Regale gerammt hatte. Ohne zu zögern, stürzte sie los und auf den einzigen Ausgang zu, den ich ihr gerade versperrte. Hinter ihr sah ich, wie der Apotheker mit hoch erhobener Waffe auf sie zustürmte und innerhalb eines Augenblicks bei ihr angekommen war.
Meine knöchernen Finger streckten sich aus und erhaschten die Stoffbluse der Elfe. Man konnte ihr ansehen, dass sie mit ihrem Leben bereits abgeschlossen hatte; ihre Augen waren halb geschlossen, ihre Lippen zu zwei dünnen Strichen zusammengepresst, als wollte sie unter keinen Umständen aufschreien.
Sie schrie dennoch, als ich sie, statt sie festzuhalten, von den Füßen riss und hinter mich zog, während ich meinen verbleibenden Arm schützend über meinen Kopf hob.
Der Schlag erschütterte mich in Mark und Bein. Die Dämonenhaut, die ich wie von selbst gewirkt hatte, nahm dem Beil einen Großteil seiner Schärfe, aber nur wenig von seiner Wucht. Ich hörte das Knacken meiner Knochen, verbunden mit einem dumpfen Schmerz, wo sich die Klinge in mein Fleisch gebohrt hatte.
Direflesh sagte nichts, während er mich prüfend betrachtete. Er machte keinerlei Anstalten, sein Beil aus meinem Arm herauszuziehen. Meine Finger wiederum ließen nicht einen Deut nach, als sich die Elfe halb aufrappelte und uns anstarrte.
Ein merkwürdiges Feuer loderte in mir. Es war nicht das hasserfüllte Feuer des Dämonen, das ich in den Kerkern gekostet hatte; es war ein Feuer, das mich und jede tote Faser in meinem Körper elektrisierte. Es fühlte sich gut an; es fühlte sich an, als hätte ich das Richtige getan.
Das Feuer war ich.
Allerdings spürte ich bereits, wie es wieder zu erlöschen drohte. Im nächsten Moment fragte ich mich, was zum Teufel mich dazu bewogen hatte, das verfluchte Spitzohr zu retten; und dann spürte ich bereits den Dämon in mir, der versuchte, sich einen Weg in mein Bewusstsein zu krallen, während alles in mir danach drängte, die Beine in die Hand zu nehmen und davonzulaufen. Ich brauchte kurz, um mich zu sammeln, und entschloss mich dann, trotz besseren Wissens - und nicht zuletzt wegen des Beils in meinem Arm - alles auf eine Karte zu setzen.
»Sie gehört mir«, knurrte ich Direflesh an.
Für einige Sekunden schwiegen wir uns an, bevor mein Gegenüber unmerklich nickte. »Du hast mitbekommen, dass ich dich töten lassen wollte.«
»So viel habe ich verstanden.«
»Nun, da du nicht tot bist, würde mich interessieren, was dich zu mir führt.«
Meine Augen verengten sich zu Schlitzen, während ich seinen kalten, berechnenden Blick erwiderte. Ich hatte erwartet, dass der verrückte Apotheker meinen Bluff sofort durchschauen und anfangen würde, mich wahllos zu zerhacken. In Gedanken hatte ich mich bereits von meinem Arm verabschiedet.
»Ich brauche Geld. Zwei Goldstücke.«
»Gold.« Ein trockenes Lachen kam zur Antwort. »Nun, ich brauche etwas anderes. Etwas aus einer Region, die ziemlich gefährlich ist. Besorge mir ein paar Kürbisse von den Feldern der alten Farmer, und ich gebe dir nicht nur zwei Goldstücke.«
Mehr Worte bedurfte es nicht. Er wusste, was ich wusste und vor allem, was ich nicht wusste. Direflesh hatte Antworten. Genauso wie das sich windende Häuflein Elend, das meine Klauen noch immer eisern festhielten.
»Ich nehme Aritana mit, wenn es Euch genehm ist, Meister.«
Sein Lächeln wurde zu einem bösartigen Grinsen. »Wie du willst, mein Schüler.«
 
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Pusten wir doch mal wieder den Staub von diesem Thread... Irgendwie mag ich die Story ja zu sehr, um sie jetzt einfach fallen zu lassen.

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Kapitel 13 - Kürbisse und hohle Köpfe


Die Elfe hatte nicht einen Mucks von sich gegeben, seitdem wir unterwegs waren. Ich ließ sie immer ein paar Schritte vor mir laufen und die Formel für den Schattenblitz alle paar Minuten durch meinen Kopf flitzen, damit ich nicht einmal großartig nachdenken müssen würde, sollte sie auf mich losgehen und versuchen, ihr Werk zu vollenden.
Bevor wir aus Undercity heraus marschiert waren, hatte ich einen Umweg über die Taverne im Inneren Ring gemacht. Jetzt trank ich immer wieder genüsslich etwas von dem besten Bier der Stadt, das ich in einem ledernen Trinkschlauch mit mir führte. Das Geld dafür war auf wundersame Weise in der Börse meiner Gefangenen aufgetaucht, und eine Goldmünze hatte tatsächlich Spuren eines Bisses gehabt, dessen Abdrücke passgenau auf meine Zähne passten. Es war diese und eine weitere, gelbe Münze, die ich der mürrischen Heilerin überreichte.
Wir folgten der Straße, die von Undercity weg und an dem Zeppelin-Turm vorbei führte. Wieder einmal sah ich die alten und abgestorben wirkenden Bäume, deren Anblick mir noch immer seltsam vertraut vorkam, fast so, als hätte ich sie schon einmal gesehen. Inzwischen nahm ich an, dass es sogar wirklich ein Zeichen des Wiedererkennens war. Mein Dämon musste diese Straßen schon entlang gegangen sein, lange bevor ich auferstanden war. Was mich wurmte, war die Tatsache, dass ich mich scheinbar an Dinge aus seiner Vergangenheit erinnern konnte, aber an nichts aus der meinen.
Nachdem wir schon eine gute Stunde unterwegs waren, rief ich der Elfe zu: »Pause! Setz dich dort an den Hügel.«
Der Blick, den sie mir zuwarf, war ein Ausdruck tiefster Verachtung. Dennoch glaubte ich, in ihren Zügen auch eine gewisse Überraschung und Neugier ausmachen zu können. Womöglich wunderte sie sich, dass ich eine Pause einlegen wollte.
Ihre Überraschung wurde noch größer, als ich anfing, Brot und einen Apfel aus meinem Lederrucksack zu ziehen. Mit meinem Dolch schnitt ich mir ein kleines Stück vom Laib ab und warf dann den Rest ihr zu. Geschickt fing sie es auf, genauso wie den Apfel, der gleich darauf durch die Luft zu ihr hinüber segelte.
»Setz dich. Iss.«
Etwas zögerlich kam sie meiner Aufforderung nach. Sie nahm erst einen Bissen, als ich mein Stück Brot bereits vertilgt hatte und mich ein wenig verträumt umsah. Die Sonne schien spärlich durch die grünliche Dunstdecke am Himmel. Sie stand im Zenit; es musste gerade Mittag sein.
»Warum hast du mich nicht getötet?«
Das war die Frage, auf die ich bereits gewartet hatte, seitdem wir Direfleshs Haus verlassen hatten. Ich starrte noch einen Moment in den Himmel, bevor ich nur mit den Schultern zuckte. »Ich weiß es nicht«, antwortete ich ausweichend. Ich hatte viel Zeit gehabt, um mir eine Antwort zu Recht zu legen, aber nach einer Weile beschlossen, mich bedeckt zu halten. Nicht allzu viele Leute schienen von meinem Zustand zu wissen, und ich wollte zumindest vorerst, dass es dabei blieb. Der Elfe konnte ich von meinen bisherigen Bekanntschaften her wohl noch am wenigsten trauen.
»Du bist nicht das Scheusal, das ich kenne.«
Unsere Blicke trafen sich kurz, und ich musste unweigerlich grinsen. »Vielleicht spiele ich auch nur mit dir. Oder hast du schon einen guten Grund erkannt, warum ich dich hätte retten sollen?«
Sie wandte sich sofort wieder von mir ab, doch ich konnte ihr ansehen, dass sie auch darüber grübelte.
»Womöglich möchte ich dich ja mitten in der Nacht umbringen, wenn du es am wenigsten erwartest. Untote benötigen keinen Schlaf. Wenn du erst einmal übermüdet bist und kaum mehr ein Auge offen halten kannst...« Ich überließ den Rest ihrer Fantasie, und meine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Ihr Blick war wieder von Hass erfüllt. »Scheinbar hast du dich doch nicht verändert.«
»Wenn du wüsstest.« Ich lachte laut, während ich aufstand. Das Gefühl, die Oberhand zu haben, war elektrisierend. Die junge Frau in Angst und Schrecken zu versetzen, war sogar noch elektrisierender. »Ich hoffe, du weißt, wohin wir müssen, denn ich kenne den Weg nicht.«
»Warum sollte ich dir helfen?«
»Weil der Apfel vergiftet war«, erwiderte ich beiläufig, während ich mich umsah und der Straße entlang spähte. Als ich mich wieder an die Elfe wandte, nahm ich ihren offenen Mund mit einiger Genugtuung zur Kenntnis. »Fühlt sich miserabel an, nicht wahr? Ein kleines Dankeschön für deinen Anschlag. Und nein, ich habe das Gegengift nicht bei mir«, unterbrach ich sie, bevor sie etwas sagen konnte. »Es ist bei Direflesh gut aufgehoben. Du hast gute zwei Tage Zeit, bevor es seine volle Wirkung entfaltet.«
Aritana blieb noch einige Sekunden sitzen, bevor sie - mit einem sehr bleichen Gesichtsausdruck - aufstand und langsam auf mich zukam. »Ich muss mich geirrt haben«, wisperte sie leise. »Du bist noch viel schlimmer als früher. Du redest zu viel.«
Ich lächelte sie nur kühl an. »Sag mir, meine Liebe, wohin müssen wir?«
Sie deutete die Straße entlang. »Etwa ein Tagesmarsch. Aber wir müssen auf den Scharlachroten Kreuzzug aufpassen. Sie haben einige Lager bei den alten Farmen.«
»Dann führe den Weg!« Mit einer übertriebenen Verbeugung wartete ich, bis sie sich in Bewegung setzte, und folgte dann dicht hinter ihr.
Ich hatte noch nie etwas von dem Scharlachroten Kreuzzug gehört, aber ich hatte nicht vor, weiter nachzubohren. Ich hatte die Elfe gerade genau dort, wo ich sie haben wollte: verängstigt, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert und in einer Position, wo sie mich weder hereinlegen noch belügen konnte. Dass der Apfel nicht vergiftet war, würde mein kleines Geheimnis bleiben, und womöglich würde ich es mit ihr teilen, wenn wir wieder heil nach Undercity zurückgekehrt waren. In der Zwischenzeit genoss ich es, das arrogante und selbstherrliche Geschöpf vor mir so einfach gebrochen zu haben.
Wir legten den Rest des Wegs ohne große Zwischenfälle zurück. Ein paar riesige Fledermäuse zankten sich einmal über unseren Köpfen, beachteten uns aber nicht einmal dabei. Zu einem anderen Zeitpunkt kreuzte einer der abartigen Hunde unseren Weg, verkroch sich aber schnell wieder im Unterholz, als er so alleine auf dem dreckigen Pfad stand und uns kurz anknurrte. Sein Geheul begleitete uns für eine Weile, bis auch dieses Geräusch erstarb und einer unheimlichen Stille Platz machte, die nur von unseren Schritten durchbrochen wurde.
Es war etwas, woran ich mich erst noch gewöhnen musste. Der Wald war so still wie ein Friedhof, und das, obwohl es eindeutig Lebewesen darin gab. Die meisten davon waren weder sonderlich freundlich noch schön anzuschauen, aber dennoch wunderte ich mich, was mit den Käfern und Insekten sein musste. Jeder Wald, jedes verfluchte Fleckchen Wiese hatte sie, und von ihnen ging stets ein konstantes Zirpen und Rascheln und Summen aus. Aber nicht hier in Tirisfal; hier herrschte Stille.
»Wie erging es dir?«, fragte ich nach einer Weile neugierig. Das Schweigen schlug mir aufs Gemüt, und ich konnte mir gut vorstellen, dass es meiner Begleiterin ebenso ging. Ihr verächtlicher Blick lehrte mich eines besseren, aber sie antwortete dennoch. »Gut, bis du aufgetaucht bist. Haben dich die Würmer nicht mehr unterhalten?«
»Würmer sind schlechte Gesellen. Sie sind zu sehr mit Fressen beschäftigt.« Ich konnte ein weiteres Grinsen nicht unterdrücken. Es machte Spaß, sich so überheblich und lächerlich zu äußern. Vielleicht war ich ja in meinem früheren Leben ein Gecke oder Gaukler gewesen. »Wie lange ist es her seit unserer letzten Auseinandersetzung? In einem Grab tut man sich schwer, die Zeit festzuhalten.«
»Einige Jahre«, erwiderte Aritana mit einem Schulterzucken. »Ich hatte damit abgeschlossen, als ich sicher war, dass das Gift wirkte. Du hattest genug Schaum vorm Mund, um es als Rasierschaum für einen Tauren zu verwenden.«
»Wirklich?«, erwiderte ich mit geheucheltem Interesse. »Eine Schande! Jeder Taure hätte sich sicherlich glücklich geschätzt, diesen kostbaren Schaum aufzubewahren.«
Ihr Blick war eisig kalt, als sie über die Schulter zu mir zurück schaute. »Ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt.«
»Wie schade. Wie weit noch?«
Sie schaute kurz prüfend zum Himmel. Die Sonnenscheibe war bereits ein gutes Stück weitergewandert, und ihr trübes, konfuses Licht, das nur schwerlich durch die grünlichen Nebelschlieren drang, wurde schon schwächer. »Wir sollten in einer Stunde ankommen. Es ist jetzt nicht mehr als eine oder zwei Meilen.«
»Gut, gut.« Meine Augen mussten vor Freude glänzen, zumindest fühlte ich mich so. Womöglich kam ich dem Geheimnis meiner Identität bald schon einen großen Schritt näher.
Ein lauter Schrei zu meiner linken Seite ließ mich allerdings zusammen zucken. Noch ehe ich so recht wusste, was vor sich ging, war meine knöcherne Hand schon in schwärzester Dunkelheit gehüllt und deutete auf den gerüsteten Menschen, der gerade aus dem Unterholz brach. Nahezu mühelos flog der Schattenblitz auf ihn zu, fraß sich innerhalb eines Wimpernschlags durch den makellosen, polierten Brustharnisch und in das Fleisch, das ungeschützt darunter lag. Der Schrei erstarb auf den Lippen des Mannes, das hoch erhobene Schwert entglitt seiner nun kraftlosen Hand, und sein Ansturm endete darin, dass er der Länge nach scheppernd aufs Gesicht fiel.
Aritana starrte ebenso überrascht wie ich den Gefallenen an, dann wurden ihre Züge hart. »Ein Krieger des Scharlachroten Kreuzzugs«, meinte sie mit einer gewissen Spur Abscheu in der Stimme. »Gute Reaktion«, fügte sie erbittert hinzu.
Meine Lippen bebten, als ich einen Schritt auf den Getöteten zuging und ihn mit meinem Fuß stupste. Mit einiger Anstrengung schaffte ich es, ihn auf den Rücken zu drehen. Der Mann war jung, erster Flaum hatte sein Kinn berührt. Die Augen waren glasig, und dennoch glaubte ich, darin noch immer Fanatismus und absolute Ergebenheit einem höheren Ziel gegenüber zu erkennen. Ein dünner Blutfaden zog sich von seinem geöffneten Mund der Wange hinab, während er so dalag. Auf der Rüstung prangerte eine rote, symmetrische Flamme, die jetzt ein Loch aufwies.
Einen Moment später wurde ich mir der Gesellschaft gewahr, in der ich mich befand. Ich straffte so gut es ging meine Schultern, kniete mich neben dem Krieger hin und schloss ihm mit zwei Fingern die Augen. Dann wandte ich mich an Aritana und unterdrückte dabei einerseits die Wellen der Schuld, die sich gerade in mir aufbauten, und andererseits die Übelkeit, die sie begleiteten. »Werden noch mehr von ihnen in der Nähe sein?«
Die Elfe sah mich mit einer Mischung aus Verwirrung und Neugier an, zuckte aber auf meine Frage hin nur mit den Achseln. »Möglich. Vielleicht war er nur ein Späher. Sie haben kleinere Lager hier in der Nähe. Ihr Hauptquartier ist das Scharlachrote Kloster.« Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, bevor sie hinzufügte: »Sie sind Fanatiker. Sie hassen Untote, sie hassen Elfen, sie hassen Trolle und Tauren und Orks. Sie hassen alles außer Menschen.«
Ich spürte, worauf sie hinaus wollte. Mein Blick wurde hart, während ich den Weg entlang ging, aber neben der Blutelfe blieb ich kurz stehen.
»Ich hatte keinen Groll gegen ihn«, erwiderte ich leise.
Aritana schaute mir verblüfft nach, als ich bereits wieder der Straße folgte. Als sie zu mir aufschloss, konnte ich den Unglauben in ihrer Stimme hören. »Wer bist du?«
»Ein Untoter ohne Namen«, entgegnete ich grimmig. »Besorgen wir diese verfluchten Kürbisse, und dann nichts wie zurück.«

Wir hatten uns ein gutes Stück von der Straße entfernt. Sie war ohnehin nicht mehr in einem allzu guten Zustand gewesen – Unkraut hatte Besitz von den Fahrrinnen ergriffen, Bäume ragten hinein oder lagen umgestürzt im Weg – aber vor allem waren wir zu gut sichtbar gewesen, wie der Angriff verdeutlicht hatte. Jetzt schlugen wir uns also durch Gebüsche und an Dornensträuchern vorbei, in denen sich wie auf magische Art und Weise die Gewänder meiner Begleiterin jedes Mal verfingen und einige tiefe Schlitze zurück ließen. Ihr leises Fluchen brachte jedes Mal ein Grinsen auf mein Gesicht und war eine willkommene Ablenkung zu dem, worüber ich ansonsten grübelte.
Ich war es selbst gewesen. Nicht mein Dämon hatte dieses Mal den jungen Mann getötet, sondern ich. Ich konnte es ihm nicht in die Schuhe schieben und musste mir eingestehen, dass ich wohl aus Notwehr gehandelt, aber dennoch ein Leben einfach vernichtet hatte. Und tief in mir hatte sich mein Dämon geräkelt und leise gelacht, als die Übelkeit in mir aufgestiegen war. Er lachte mich aus.
Gerade, als ich wieder einmal ein Gebüsch mit einem langen, knorrigen Ast teilen wollte, den ich unterwegs aufgesammelt hatte, hörte ich einen gebellten Befehl, so laut, dass mir meine Ohren klingelten. Ohne zu überlegen, griff ich nach hinten, krallte das Stück Stoff, das ich von der Elfe erhaschen konnte, und zog sie mit mir zu Boden. Ihre Hand klatschte meine beinahe sofort wieder weg, und ein kurzer Blick über meine Schulter zeigte, dass ich sie wohl am vorderen Kragen erwischt hatte, ihr Gesicht sehr rot wurde und in ihren Augen ein alles verzehrendes Feuer der Entrüstung loderte, während sie hastig ihre Robe richtete. Dennoch blieb sie still, auch wenn ich ihr ansehen konnte, dass sie mir am liebten die wüstesten Flüche entgegen schleudern wollte, die sie aufbringen konnte.
Ich zog zur Antwort nur kurz eine Grimasse, die aus geschürzten Lippen, viel Stirnrunzeln, einer erhobenen Augenbraue und übertriebenem Desinteresse bestand, bevor ich mich wieder dem Gebüsch zu wand, hinter dem wir uns verborgen hatten. Auf der anderen Seite des von Dornen gespickten Gewächses hörte ich hastige Schritte, die abrupt zum Halten kamen, und eine aufgeregte, jungenhafte Stimme, die innerhalb eines Augenblicks von dem Befehle bellenden Mann unterbrochen wurde. Ich konnte nicht verstehen, was sie sprachen, doch dem Klang der Stimme nach zu urteilen war sich der Befehlshaber seiner Sache sehr sicher. Er machte nicht einmal Anstalten, seiner Lunge etwas Luft zu nehmen, und seine Worte wurden noch weit in den Wald getragen. Nach einer Weile, in welcher mehr und mehr Paar Stiefel aufgeregt heran gerannt waren, setzten sie sich schließlich allesamt im Gleichschritt in Bewegung, wobei die prägnante Stimme des Befehlshabenden regelmäßig eindeutig missbilligende Worte in die Reihen seiner Soldaten schleuderte.
Ich traute mich erst, einen Blick über das Gebüsch zu werfen, als die Soldaten bereits in weiter Ferne waren und ich ihren Führer beinahe nicht mehr hören konnte. Eine Feuerstelle, in der die Glut noch glomm und von der sich Rauch in den Himmel hinauf kräuselte, war nur wenige Schritte entfernt zu finden. Um sie herum war das Gras plattgedrückt. Es mussten mindestens sieben oder acht Menschen dort gesessen haben.
»Das nächste Mal, wenn du mich dort anfasst, wo du hingelangt hast, schneide ich dir deine Hand ab«, hörte ich ein bösartiges Zischen hinter mir.
»Deine langen Ohren scheinen nur zur Zierde da zu sein«, erwiderte ich mit einem Grinsen, während ich mir einen Weg durch das Dickicht bahnte. »Irgendeine Idee, warum solch ein Stoßtrupp ausgerechnet hier lagern sollte?«
»Ich habe doch schon gesagt, dass sie Lager hier haben. Sie versuchen, auf den alten Feldern Gemüse anzubauen, damit sie nicht verhungern. Sie trauen sich nicht, die Pilze zu essen, die man hier findet.«
»Isst du sie denn?«
»Nur, wenn ich sie selbst gekocht habe«, erwiderte Aritana.
Kaum dass wir das zeitweilige Lager durchquert hatten, erreichten wir die Grenze des Waldes. Die knorrigen Bäume, die bis eben noch dicht an dicht beieinander gestanden, sich argwöhnisch beäugt und böse Worte zugeworfen hatten, wenn der Wind durch ihre kahlen Kronen fuhr, hatten jetzt Wiesen und Äckern Platz gemacht, die sich eingezäunt um kleine Gehöfte verteilten. Die Äcker lagen zum größten Teil brach, abgesehen von einigen monströsen Kürbissen, die vereinzelt in einigen Reihen wuchsen. Sie wuchsen zudem immer äußerst nahe an den halb verfallenen Häusern, aus deren kleinen und gedrungenen Fenstern das armselige Licht einzelner Kerzen flackerte.
»Sie sind bewohnt?«, fragte ich erstaunt meine Begleiterin.
»Menschen hungern. Sie müssen von etwas leben. Nicht jeder ist bereit, Hunger gegen totes Fleisch einzutauschen.« Bei ihrem letzten Satz bedachte sie mich mit einem langen, verabscheuten Blick.
»Ich hatte kein Mitspracherecht bei dieser Wahl, meine Liebe.« Nachdenklich kratzte ich mich am Kinn und bemerkte dabei vielleicht zum ersten Mal, dass ich einen Bart trug. Er war nicht wirklich lang und nicht wirklich gepflegt, aber dennoch genug, um mit den Fingern darüber streichen zu können. Obwohl mir diese Pose selbst ein wenig lächerlich vorkam, gefiel sie mir. Ich behielt sie erst recht bei, als Aritana neben mir verächtlich schnaubte. »Was gibt es zu überlegen? Wir holen einen der Kürbisse und bringen ihn mit zurück.«
»Ich habe keine Lust, wegen Diebstahl von Fanatikern gejagt zu werden, die mich lieber tot als in einer Zelle sehen wollen.« Ich warf einen prüfenden Blick in den Himmel und lächelte. »Die Sonne geht ohnehin gleich unter. Wir werden hier warten und im Schutze der Dunkelheit einen der Kürbisse pflücken. Ich hoffe nur, mein Rucksack ist groß genug.«
Aritana kaute merklich auf ihrer Zunge, vermutlich in dem Bestreben, einen Makel in meinem Plan zu finden. Als sie schließlich erkennen musste, wie sehr ich Recht besaß, grummelte sie nur ein wenig vor sich hin und ging dann wieder zu dem ersterbenden Lagerfeuer zurück. Ein kleines Häufchen Holz, das fein säuberlich aufgeschichtet gleich danebenlag, erregte ihr Interesse, und sie fing an, die vergehende Glut mit neuem Futter zu versorgen. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Flammen gierig an den Stöcken und kleinen Scheiten leckten.
»Wie lange wird das Gift brauchen, um mich umzubringen?«, fragte sie, als ich mich ihr gegenüber niederließ.
Ich sah sie für einen Augenblick verwundert an, bis ich überhaupt begriff, worüber sie sprach. Dann zuckte ich als Antwort mit den Schultern. »Zwei Tage, schätze ich. Vielleicht ein wenig länger.« Ich überlegte kurz, ob ich ihr hier und jetzt sagen sollte, was es mit dem Gift auf sich hatte, entschied mich dann aber dagegen. Es war unfair, geradezu bösartig, es ihr vorzuenthalten, und ich fühlte mich – gerade nach meinem Kampf – mehr denn je an das Monster in mich erinnert. Auch wenn ich nicht so sein wollte, blieb mir gerade nichts anderes übrig.
»Erzähl mir von dir. Was hat dich in eine Stadt voller Untoter verschlagen?«
Die Elfe sah mich fast schon erstaunt an, bis sie ihre Nase wieder voller Abscheu rümpfte. »Warum sollte ich das dir erzählen?«
»Wir werden nirgendswo hin gehen, bis die Sonne nicht untergegangen ist. Das kann noch eine oder zwei Stunden dauern.«
Sie rümpfte ihre Nase noch mehr, und ihr schönes Antlitz entstellte sich dabei regelrecht. Sie gab ihren Widerwillen jedoch schnell auf, seufzte und lachte dann leise auf. »Ich hätte nicht gedacht, dass das jemals passieren würde.«
»Was?«
»Mit meinem größten Konkurrenten an einem Lagerfeuer zu sitzen und meine Lebensgeschichte zu erzählen. Es kommt mir sehr unwirklich vor.«
Ich lächelte leicht, während ich mit einem kleinen Stecken im Feuer stocherte, um die Flammen ein wenig mehr anzuheizen. »Mein Leben kam mir bisher auch sehr unwirklich vor. Ich…« Für einen Moment schwieg ich, um nach den richtigen Worten zu suchen. »Ich bin nicht viel von dem, was ich wohl einst war, und noch weniger von dem, was ich gerne sein würde. Es ist sehr niederschlagend.«
Als ich aufschaute, erkannte ich, dass Aritanas Blick den meinen suchte. Ich versuchte, Offenheit und ein wenig Vertrauen in den meinen hineinzulegen, und tatsächlich glaubte ich zu erkennen, wie ihre Augen ein wenig weicher wurden.
»Es ist nicht allzu lange her«, begann sie leise. »Ich kam nach Undercity, weil ich in Silbermond nicht mehr gerne gesehen war. Zu viele kleine, aber tödliche Gifte tauchten an Stellen auf, an denen sie nicht hätten auftauchen sollen. Silbermond ist noch immer im Umbruch, und viele Parteien streiten sich darum, was mit dem gereinigten Sonnenbrunnen passieren soll.
»Eine dieser Parteien hatte mich um Hilfe gebeten. Gut bezahlte Hilfe, natürlich. Die Gifte, die sie verlangten, waren knifflig herzustellen, die Zutaten schwer herbeizuschaffen. Ich berief mich auf alte Kontakte, die ich bei den Verlassenen geknüpft hatte. Zuerst gab es keine Probleme bei meinen Aufgaben, aber nach kurzer Zeit musste ich erkennen, dass einige Gifte womöglich… zu potent waren.
»Blutelfen, die an ihrem Abendtisch von der Suppe dahingerafft wurden, standen wieder auf und schlurften durch die Gänge. Die Alten unter uns, die den Einfall der Geisel miterlebt hatten, wurden regelrecht hysterisch und fingen an, alles und jeden zu töten, das ihnen zu bleich erschien. Meine Auftraggeber waren nicht sonderlich begeistert von meinem Tun, auch wenn es ihnen sehr half – sie konnten die Unruhen nutzen, um einige Schurken auf hohe Persönlichkeiten anzusetzen, wenn ich es richtig verstanden habe. Jedenfalls rieten sie mir dringlich, mich aus Silbermond zurückzuziehen, oder es könnten bald ein paar Gerüchte über eine gewisse Giftmischerin in den Gassen auftauchen.«
Die Frau starrte für einen Moment ins Feuer, bevor sie wieder leise zu lachen anfing. »Warum erzähle ich dir das eigentlich? Der namenlose Schlächter lässt niemals Zeugen zurück. Das sagen sie in ganz Undercity.«
Ich kratzte mich unbehaglich an der Nase, bevor ich meine Beine heranzog und mein Gewicht ein wenig verlagerte.
»Was willst du jetzt mit meinem Geheimnis tun? Es mich mit ins Grab nehmen lassen? Ich rechne nicht mit einem Gegengift.«
»Warum hilfst du mir dann?«
Ihr Lächeln wurde regelrecht keck. »Es vertreibt die Zeit. Ich kenne Gifte, und ich kenne Direflesh. Er verabreicht gerne den süßen, langsamen Tod. Man merkt es erst gegen Ende, wenn die Organe zerfressen werden und der Bauch voll Blut läuft. Ein qualvolles Ende, wie man sich erzählt.«
Ich warf einen prüfenden Blick zum Himmel. Meine Lust an diesem Gespräch war sehr schnell verflogen. Scheinbar kannte jeder in diesem Land nur den Tod oder die Kunst, jemanden über die Klinge springen zu lassen. Es würde jedoch noch eine Weile dauern, bis sich der Schatten der Nacht über die Äcker legte.
Sie brachen so schnell über uns herein, dass ich mich fragte, wie ich sie nicht hatte hören können. Ausgerechnet durch jenes Gebüsch, hinter dem ich mit der Elfe noch vor kurzem gekauert hatte, kamen zwei gerüstete Männer johlend und brüllend gestürmt, ihre Schwerter hoch erhoben und die Schilde schützend vor ihrer Linken haltend. Zwei weitere hasteten die kleine Böschung hinauf, die zu den Äckern führten, und noch einer sprang hinter einem Baum hervor, aus jener Richtung, in die der Soldatentross vorhin noch verschwunden war.
Für einen Moment schaute ich wie erstarrt um mich, bevor meine Gedanken über mich einstürzten. Einer jedoch schimmerte und leuchtete so stark, dass er alle anderen verdrängte. Ich sprang auf meine Füße, eine schwarze Kugel in meiner offenen rechten Hand haltend, und schleuderte sie mit einem verzweifelten Kreischen auf einen der anstürmenden Kämpfer. Der Schattenblitz fraß sich, wie schon in meinem Kampf zuvor, mühelos durch die Rüstung des Mannes. Seine Beine versteiften sich, als ein Schwall Blut aus seinem Mund stob, und er fiel scheppernd zu Boden.
Eine weitere Kugel sammelte sich bereits in meiner Hand, wurde für einen Moment größer, dann immer kleiner, bis sie mit einem kläglichen Laut verpuffte. Voller Entsetzen versuchte ich, den Zauber erneut zu wirken, aber dieses Mal kam nicht einmal ein kleiner Fetzen des schwarzen Nebels zustande. Im nächsten Moment merkte ich erst, wie müde und erschöpft ich mich eigentlich fühlte. Ich musste mein gesamtes Mana verbraucht haben, ohne es überhaupt mitzubekommen.
Ein Schmerzensschrei hinter mir ließ mich herumwirbeln, gerade lange genug, um zu sehen, wie Aritana ihren Dolch in die ungeschützte Achsel eines Kämpfers stieß. Der Schwertarm des Mannes, der fast einen Kopf größer war als die zierliche Elfe, hing nutzlos herab, aber dennoch gab er nicht auf. Stattdessen versuchte er, sie mit seinem Schild zu Boden zu werfen.
Ein weiterer Schrei warnte mich gerade noch rechtzeitig. Ich brachte mich mit einem großen Sprung nach hinten in Sicherheit und rappelte mich sofort wieder auf. Das Schwert war mit so viel Schwung in das Erdreich gedrungen, dass der Mann regelrecht Schwierigkeiten hatte, es wieder der Erde zu entreißen. Es hätte mühelos meinen Schädel gespalten.
Ohne großartig zu überlegen, lief ich auf den gefallenen Kämpen zu und entwand das Schwert seinen starren Fingern, um mich meinem neuen Gegner zu stellen. Dieser hatte bereits seine Waffe befreit und stapfte nun mit schweren Schritten und weiten Schlägen auf mich zu. Ich parierte den ersten Hieb, knickte aber unter der Wucht fast ein. Hastig verlagerte ich mich Taktik auf Ausweichen und weniger Parieren, stets darauf bedacht, nach einer Lücke in der Verteidigung meines Kontrahenten zu suchen und auch die restlichen Krieger nicht aus den Augen zu lassen.
Meine Beine bewegten sich merklich wie von selbst. Ein kurzes Lächeln stahl sich auf meine Lippen, als ich es schaffte, mit einem kleinen Sprung zur Seite meinen Gegner zwischen mich und einen seiner Verbündeten zu bringen, der ihm gerade zur Hilfe eilen wollte. Sie krachten beinahe ineinander, und die kurze und von Fluchen begleitete Ablenkung reichte aus, damit ich einen beidhändig geführten Stoß gegen den Unterleib führen konnte. Das Schwert bohrte sich mit einem schönen, lauten Knirschen durch das Kettenhemd meines Feindes, der schwer getroffen aufschrie und nach hinten stürzte.
Sein Waffenbruder schubste ihn einfach zur Seite und trat an seine Stelle. Unheiliges, fanatisches Feuer brannte in seinen Augen, doch mir entrang er nur ein breites Grinsen. Unser tödlicher Tanz begann aufs Neue, und je länger wir tanzten, desto mehr machte es mir Spaß. Selbst, als einer seiner Schläge zu schnell kam und mir einen langen Schlitz in meine Robe und das Fleisch darunter schnitt, konnte ich nicht anders, als finster und lüstern zu lachen. Alles in mir lechzte danach, meinem Gegenüber das Leben zu entreißen, so wie er mir nach dem meinen trachtete. Durch seinen Treffer womöglich bestärkt, wagte er einen weiten Ausfallschritt, den er sofort bitter bereute. Ich tat einen Schritt zur Seite, gerade genug, dass sein Schwert verfehlte. Dann ließ ich meine Klinge mit aller Macht auf die seine niederfahren, und einen Moment später lag die Waffe nutzlos auf dem Boden. Mit einem weiteren, weiten Hieb schlug ich seinen Schild zur Seite und drosch ihm dann meine knöcherne Faust ins Gesicht. Ein lautes Knacken und ein Schwall Blut, der aus seiner Nase trat, waren der Lohn. Vor Schmerzen schreiend stolperte der Kämpe rückwärts davon und fiel blindlings über den Sterbenden, der hinter ihm am Boden lag. Sein Fluchen erstarb erst, als ich ihm mein Schwert in den Bauch rammte und ein paar Mal herumdrehte, bis der letzte Atem über seine Lippen drang.
Voller Aufregung sah ich mich um. Aritana kämpfte gerade mit dem letzten verbliebenen Angreifer. Jene, die über die Böschung hinaufgekommen waren, lagen neben oder im Lagerfeuer, und mit einem Mal wurde ich den köstlichen Geruch von verbranntem Fleisch gewahr, der sich mit dem frischen Blut verband. Meine Zunge fuhr von selbst über meine Lippen, die sich zu einem breiten Grinsen verzogen, als ich mein Schwert direkt vor mir hielt und los stürmte.
Weder Aritana noch ihr Feind konnten auch nur ahnen, was ich tat. Die Klinge drang erst durch den Rücken der Elfe, dann durch ihren Bauch wieder heraus. Die Wucht, mit der ich auf sie stieß, warf sie zusammen mit meinem Schwert mitten in den Kämpen hinein. Die Kraft reichte aus, um durch den Brustpanzer zu dringen, den er trug, und sein wütendes Gekeifer und Gebrüll verstummte abrupt.
Tief in mir fühlte ich höchste Glückseligkeit. Ich zog das Schwert wieder aus den beiden Leibern heraus, stieß die Frau mit dem Fuß zur Seite, so dass sie auf dem Rücken neben dem Sterbenden lag, und schaute offen in ihr verhasstes Gesicht. Ein Lachen bohrte sich durch meine Kehle und meinen Mund hinaus, und es wurde lauter und lauter, je länger ich da stand, bis der wahnsinnige Klang von den Bäumen zurück in meine Ohren geworfen wurde.
Meine Hand, die das Schwert umklammert hielt, war das erste Gliedmaß, über das ich wieder Kontrolle erhielt. Die Finger öffneten sich, und kaum dass das Schwert mit einem in der Stille markerschütternden Klingen auf einem dort liegenden Stein landete, begriff ich voller Panik, Abscheu und Übelkeit, was ich gerade getan hatte.
Aritana starrte mich aus großen Augen an. Ihr Gesicht war kreidebleich, ihre Hände pressten auf die Wunde, die in ihrem Bauch klaffte. Blut drang dick zwischen ihren Fingern hervor, und der süße Geruch davon stieg mir in die Nase. Für einen Moment war ich versucht, mich auf sie zu werfen und nicht nur das Blut aufzusaugen, sondern ihr das Fleisch von den Knochen zu reißen und es mir in den Mund zu stopfen. Ich ging bereits in die Hocke, als mein ansonsten äußerst ruhiger Magen mit einem Mal rebellierte und ich würgend mein Mittagsessen auf dem Gras neben der Elfe verteilte.
Ich brauchte einige Augenblicke, um mich zu beruhigen. Dann, nach einem weiteren Blick auf die Verletzung, raffte ich mich auf und stolperte zu dem Sterbenden hin, der gleich neben ihr lag. Ohne auf sein Stöhnen und die Worte aus seinem Mund zu achten, schnitt ich rasch die Lederbände seiner Rüstung durch, warf den Brustpanzer von ihm und zerriss das darunterliegende wattierte Hemd in angemessene Fetzen. Als sich seine Hand an die meine klammerte, versuchte ich, sie wegzustoßen, aber mit einem fanatischen Glühen in den Augen hielt er eisern fest.
»Lass mich los!«, brüllte ich ihn an, doch stattdessen fühlte es sich an, als würde er noch fester zupacken.
Im nächsten Moment stieß ich ihm meinen Dolch in die Kehle. Beinahe sofort ließ er von mir ab, und beinahe sofort fühlte es sich so an, als würde ich mich gleich wieder übergeben müssen, doch ich behielt die Reste des Biers, das ich über den Tag getrunken hatte, in mir. Mit meinen provisorischen Verbänden in den Händen hastete ich wieder zur Elfe zurück und kniete mich neben sie.
»Tu deine Hände weg«, bat ich sie mit erstickender Stimme.
Ihr Blick war nicht nur anklagend; er bestand aus reinstem Hass. Ihre Hände bewegten sich nicht.
»Ich will dir helfen!«, versuchte ich verzweifelt, sie zu überzeugen. »Bitte, tu deine Hände weg!«
Etwas fiel auf ihre Wange. Ich erkannte nicht sofort, was es war, aber es rann langsam ihre Haut hinab und fiel schließlich auf den kalten Boden. Erst nachdem ein weiterer Tropfen auf ihrem Gesicht landete, verstand ich, dass ich weinte.
Wahrscheinlich genauso überrascht darüber wie ich selbst, ließ sie endlich von ihrer Wunde ab, und sofort drückte ich die Verbände darauf. Ein leiser Schrei entrang sich ihrer Kehle, und das schmerzerfüllte Stöhnen wurde noch länger und wehleidiger, als ich sie halb aufrichtete und versuchte, die Blutung an ihrem Rücken zu stoppen. Ohne großartig nachzudenken, riss ich ihre ohnehin von Schnitten übersäte Robe entzwei und schnitt möglichst lange Streifen zurecht, wobei ich den Stoff mit den Zähnen festhielt und mit einer freien Hand die Fetzen des wattierten Hemdes auf die Verletzung drückte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich es geschafft hatte, den Stoff einige Male um ihren Unterleib zu wickeln und so die Verbände einigermaßen zu fixieren. Zu meiner eigenen Überraschung drang bei weitem weniger Blut aus, als ich erwartet hatte. Anscheinend hatte ich nicht einmal lebenswichtige Organe erwischt.
Vorsichtig griff ich der Elfe schließlich unter die Arme und zog sie zu einem der nahen Bäume, damit sie sich mit dem Rücken dagegen lehnen konnte. »Ich werde sofort wieder da sein«, murmelte ich noch und wich ihrem Blick aus, bevor ich die Böschung hinunter und auf die Äcker rannte.
Noch immer drang das Licht von Kerzen aus den halb verfallenen Häusern heraus. Ich achtete jedoch nicht einmal ein wenig darauf, sondern suchte in der einfallenden Dunkelheit nach dem nächstbesten Kürbis, den ich finden konnte. Es war im Vergleich zu den anderen ein relativ kleines Exemplar, aber dennoch größer als mein Kopf. Ohne Umschweife riss ich ihn aus seinem Erdreich und hastete den Weg wieder zurück, den ich gekommen war. Irgendwo hinter mir schlug ein Hund an, aber ich kümmerte mich nicht darum.
Beim Schauplatz des Gemetzels angekommen, öffnete ich meinen Rucksack, schüttete alles, was darin war, auf den Boden aus und stopfte den Kürbis hinein. Kaum dass ich ihn geschultert hatte, ging ich zu Aritana hinüber und kniete mich vorsichtig neben sie hin.
Ihre Augen waren noch immer hart wie Granit, und selbst ihre Lippen hatten inzwischen an Farbe verloren. Immerhin war noch kein Blut auf den Verbänden zu sehen, auch wenn ich glaubte, bereits kleine, dunkle Flecken auszumachen.
Als ich meine Hände nach ihr ausstreckte, zuckte sie merklich zusammen. Ihre Miene zerriss mir fast das Herz: Angst und Hass spiegelten sich abwechselnd darin, und ich konnte es ihr nicht im Geringsten verübeln. Ich fühlte mich eher, als würde ich in einen Spiegel schauen.
Dennoch biss ich meine Zähne zusammen und versuchte, nicht länger darüber nachzudenken. Behutsam legte ich meinen Arm um ihren Rücken, griff mit dem anderen unter ihre Beine und hob sie hoch. Sie stöhnte einmal leise, versuchte dann aber, kein weiteres Zeichen von Schwäche zu zeigen. Dennoch entging es mir nicht, dass sich ihr Busen unter dem einfachen Tuch, das sie unter der Robe getragen hatte, nicht sehr regelmäßig hob und senkte. Gleichzeitig drang der Geruch ihres Schweißes in meine Nase. Es roch gut.
»Sag es mir, wenn es zu sehr schmerzt. Wir werden sehr schnell gehen müssen, wenn wir rechtzeitig Hilfe finden wollen.«
Ohne auf ihr Einverständnis zu warten, marschierte ich los und in das Dickicht hinein. Einige Dornen bohrten sich in meine Beine, aber ich ignorierte sie genauso wie den Schnitt, aus dem noch immer quälend langsam zähes, schwarzes Blut topfte und meine eigene Robe beschmutzte.
Ihre Stimme war schwach, aber auch neugierig, als sie fragte: »Wer bist du?«
Mit einem äußerst schmalen Lächeln sah ich ihr direkt in die Augen.
»Wir wollen es herausfinden.«
 
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Ein wirklich tolles Kapitel. Schön, dass du weitermachst.
 
Kapitel 14 – Eine neue Erkenntnis

Die Nacht war endlich hereingebrochen. Wenn man unter den Bäumen entlang ging, deren krankes Blätterdach noch nicht vollkommen dahingegangen war, hatte man den Eindruck, als würde man durch eine pechschwarze Höhle stapfen. Das wenige Mondlicht, das durch den grünen Giftschleier des Himmels drang, wurde so gut von den Blättern abgefangen, dass ich einige Male fast stolperte, obwohl ich wirklich gut in der Finsternis sehen konnte. Jedenfalls sah ich besser als die Soldaten, die uns hinterher hasteten und nun schon zum dritten Mal nur ein paar Meter von mir entfernt vorbeigerannt waren. Die kleinen Fackeln, die sie angezündet hatten, verbreiteten nur mäßiges Licht, bei weitem nicht genug, um den Wald oder die vielen Schatten, welche die Bäume warfen, auszuleuchten. Es war mir ein Leichtes, mich in ihrer Deckung oder in einigen Gebüschen zu verstecken, solange ich die Bastarde hörte oder rechtzeitig sah. Ihre ständigen Rufe und gebrüllten Befehle, zusammen mit den scheppernden Rüstungen, machten mir das allerdings nicht unbedingt schwer.
Gerade, als ich aus meiner Deckung wieder auftauchen wollte, stöhnte Aritana leise auf. Sie war in den Stunden, die wir bereits gegangen waren, immer wieder in Ohnmacht gefallen und wieder daraus erwacht. Ihr Körper schien ihr keine Ruhe zu gönnen, und jedes Mal, wenn sie mich mit glänzenden Augen unter ihrer schweißüberströmten Stirn ansah, konnte ich Hass, Verwunderung und Dankbarkeit auf einmal in ihnen erkennen. Scheinbar wusste sie selbst nicht, was sie im Moment von mir halten sollte.
»Lass mich einfach liegen«, wisperte sie, als ich mich vollends aufrichtete und versuchte, einen freien Fleck zwischen dem Blätterdach zu finden, um mich an den Sternen zu orientieren. »Das Gift wird mir sowieso den Rest geben.«
»Es gibt kein Gift«, erwiderte ich hitzig und hastete los, auf der Suche nach einer kleinen Lichtung. »Es war eine Lüge, um dich unter Kontrolle zu halten.«
Ihre Augen schlossen sich, und ihr bleiches Gesicht hätte eine Todenmaske sein können, wäre nicht der verräterische Hauch ihres Atems gewesen. »Du bist ein verlogenes Scheusal. Genau wie in den Geschichten.«
»Darüber würde ich gerne noch mehr erfahren. Von dir. Also bleib gefälligst am Leben, damit du sie mir erzählen kannst.«
Ein schmales Lächeln formte sich auf den blutleeren Lippen der Elfe. »Mitgefühl? Wie…« Ein Stöhnen unterbrach ihren Satz, und einen Augenblick später legte sich wieder die süße Ohnmacht über sie, genau in dem Augenblick, als sich das verfluchte Blätterdach endlich teilte und ich in eine kleine Lichtung trat. Sofort riss ich meinen Kopf nach oben und suchte den Nordstern. Selbst in dem giftgrünen Schleier, den der Himmel trug, konnte ich den hellen Fleck beinahe sofort ausmachen. Brill musste irgendwo östlich von uns liegen, und solange ich keine Straße fand, schien es mir die beste Möglichkeit zu sein, schnell an Hilfe zu gelangen. Ohne weitere wertvolle Zeit zu vergeuden, trat ich wieder in den Schatten der Bäume und hastete weiter.
Nach einer Weile ließ ich meine gerüsteten Feinde allmählich hinter mir zurück. Ihre Rufe, die mich sonst immer wieder verfolgt hatten, verstummten mehr und mehr, bis ich sie nicht mehr vom Rauschen des Winds unterscheiden konnte. Auch der Fackelschein ihrer Suchtrupps wurde von der Finsternis verschluckt. Scheinbar betrat ich ein Gebiet, in das zu gehen sie nicht bereit waren. Das mochte heißen, dass ich bald Brill erreichen würde; es konnte aber genauso gut sein, dass ich geradewegs auf eine verfluchte oder gnoll-verpestete Farm zuhielt.
Aritana wachte einmal öfters auf. Blut war durch ihren Verband gesickert, ihren Bauch und schließlich meine Hand hinab gelaufen, wo es zwischen meine Fingerritzen gesickert und getrocknet war. Während unserer Flucht hatte ich einige Dinge begriffen, die mir vorher nicht wirklich aufgegangen waren: Ich benötigte tatsächlich absolut keine Ruhe; meine magische Energie, oder Mana, hatte sich von alleine erfrischt; und ich konnte meine Hände und Arme so ruhig halten, dass die Elfe fast keine Erschütterung mitbekam, und das für unglaublich lange Zeiten. Womöglich lag es daran, dass meine Sehnen und Muskeln praktisch totes Fleisch waren und deshalb nicht einmal mehr schmerzen konnten.
»Wo sind wir?«, fragte die Frau mit erschreckend schwacher Stimme. Ich gab ihr vielleicht noch eine Stunde, vielleicht ein wenig mehr. Wie von selbst beschleunigte ich meinen Schritt.
»Wir sind auf dem Weg nach Brill. Halte durch.«
»Ich hätte schwören können, ich habe dich weinen sehen.«
Ein tief hängender Ast schlug mir fast ins Gesicht, und ich schaffte es gerade noch, ihm auszuweichen. Eigentlich wollte ich mit einem gespielten Lachen über diesen Kommentar hinweggehen, aber als ich ihr ins Gesicht sah, blieb mir das Lachen im Hals stecken. Ihre Augen waren nur halb geöffnet, als hätte sie nicht einmal mehr die Kraft, sie offen zu halten.
»Möglich«, brummte ich nur zur Antwort.
Stille legte sich über uns, auch wenn ich sehen konnte, dass Aritana noch bei mir war. Sie schloss immer wieder die Augen, als müsste sie über etwas nachdenken, während sie kraftlos in meinen Armen lag.
»Ich habe noch nie einen Toten weinen sehen.«
»Du solltest nicht so viel sprechen. Es muss dich sehr ermüden.« Ich hoffte inständig, dass sie wieder in Ohnmacht fallen würde. Mit jemanden zu sprechen, der dem Tod so nahe war, war nicht nur unangenehm; es war überdies auch noch meine Schuld, und das schmerzte umso mehr.
»Warum hast du geweint?«
Wir brachen gerade durch ein Gebüsch, als ich überrascht stehen blieb. Unter meinen Füßen befanden sich vereinzelte gepflasterte Steine, zwischen denen viel Dreck und zwei Fahrrinnen lagen. Ich hatte eine Straße gefunden. Ein Blick zum Sternenhimmel ließ mich mit doppelter Geschwindigkeit herumwirbeln und weiter Richtung Osten stürmen.
»Du bist eine Schande für die Verlassenen.«
Ich wäre fast gegen einen Baum gerannt, als mein verhasstes zweites Ich zu mir sprach. Stattdessen kam nur ein sehr unmenschlicher Laut aus meinem Mund, eine Mischung aus Keuchen, Seufzen und Stöhnen. Es schien genügend zu sein, damit mich die Blutelfe fragend ansah.
»Ein weinender Untoter. Allmählich frage ich mich, was du eigentlich bist.«
»Nicht einmal du weißt das?«, erwiderte ich spöttisch und mit zugleich zusammengebissenen Zähnen. »Zumindest von dir hätte ich eine vernünftige Antwort erwartet. Der namenlose Untote, hm?«
»Im Gegensatz zu dir war ich wenigstens gefürchtet. Ich hatte meinen Respekt. Ich war ein echter Untoter. Du? Du bist eine Memme im Vergleich zu mir. Ein kleiner Welpe, der nach den Titten einer Hündin schreit und alleine nicht einmal lebensfähig ist.«
»Du solltest mich liegen lassen...« Aritanas Stimme war so schwach, dass sie fast nicht mehr meine Ohren erreichte. »Du siehst gehetzt aus. Als... würde es dir Schmerzen bereiten, mich... anzusehen.«
»Sag dieser eitlen Schlampe, dass ich ihr Mitgefühl nicht brauche.«
Ein Lächeln zog sich über meine Lippen. »Dafür, dass du mein Todfeind sein willst, scheint dir viel an meinem Wohlergehen zu liegen. Ein plötzlicher Sinneswandel?«
Ihr Seufzen klang, als würde sie in wenigen Augenblicken sterben, und mein Herz schien für eben diese Augenblicke aus meiner Brust ausbrechen zu wollen. »Du wirst mir... ein Rätsel bleiben...«
»Warum? Warum willst du diese spitzohrige Hure retten? Hättest du sie nicht einfach in ihrem eigenen Blut liegen lassen können, nachdem wir sie abgestochen hatten?«
»Und warum willst du sie unbedingt tot sehen, hm? Was liegt dir überhaupt an dieser Welt? Wärst du nicht lieber wieder dort, wo du warst?«
»Wo WIR waren, mein Freund. Du warst genauso tot wie ich. Und glaub mir, wenn ich herausfinde, welche miese Wanze es lustig fand, mich aus meiner Ruhe zu holen, werde ich sie zertreten wie das eitle Ungeziefer, das sie ist.«
Gerade, als ich etwas erwidern wollte, blieb ich abrupt stehen. Der Weg hatte für ein Stück einen Hügel hinauf geführt, und von meiner erhöhten Position hatte ich eine gute Aussicht auf das Tal unter mir.
Ich hätte vor Erleichterung und Freude fast geschrien. Vielleicht eine Meile entfernt ersteckten sich die bekannten Häuser Brills, und dahinter die gewundene Straße, die nach Undercity führte. Nicht weit davon entfernt konnte ich den Zeppelin-Turm sehen, der mit einigen einsamen Lampen behangen war und so wohl den Luftschiffen ihren Ankerplatz weisen sollte.
Das Lächeln auf meinen Lippen wurde breiter. Ich konnte regelrecht spüren, wie sich alle Sehnen in meinem Körper spannten, um loszurennen und die letzte Meile zu überwinden. Hoffnung keimte in mir auf, sehr zum Verdruss meines Dämons, der im meinem Kopf zischte und vor Zorn brodelte.
»Halte durch, Sin'dorei.«
Mit diesen Worten hastete ich los.

Die Todeswache hatte nicht schlecht gestaunt, als sie meine noch lebende Fracht sah. Ihr erster Kommentar - ob ich wirklich solchen Hunger hätte, dass ich mein Fleisch schon mit mir herumtragen würde - ignorierte ich einfach, auch wenn sich für einen Moment lang Übelkeit in mir breit machte. Nach einigen bissigen Antworten meinerseits hatte ich schnell herausgefunden, wo sich das Haus des Apothekers befand, der hier wohnte.
Da ich keine Hand frei hatte, war mein Tritt gegen die Tür eigentlich nur als Klopfen gedacht. Allerdings hatte ich sowohl die alten und rostigen Scharniere der Tür als auch meine eigene Angst und Hast unterschätzt. Das alte Eisen knirschte und gab beinahe sofort nach, und die Tür fiel der Länge nach in den kleinen, nur spärlich beleuchteten Raum der Hütte.
Der Untote, der gerade eben noch an einem Tisch gesessen war, sprang zur Antwort so schnell auf, dass sein Stuhl nach hinten umkippte und er fast darüber stolperte, in dem Versuch, herumzuwirbeln und den Ursprung der Unruhe zu entdecken. Ich wartete gar nicht darauf, dass er seinem Unmut Luft machen konnte, trat ein und steuerte sofort auf das Bett zu, das gleich neben dem Eingang stand. Die Blutelfe sog hörbar Luft ein, als ich sie möglichst sanft auf der einfachen Strohmatte bettete, bevor ich mich an den Apotheker wandte. »Ich brauche Hilfe.
Für einen Augenblick lang sah er mich verständnislos an, bevor sich sein Gesicht in Wut verzerrte. »Hilfe? Von mir bekommst du gar nichts, außer eine ordentliche Tracht Prügel! Schaff diese verfluchte Lebende aus meinem Haus!«
»Sie stirbt!«, brüllte ich zurück. »Wenn sie nicht sofort Hilfe bekommt, wird sie die Nacht nicht überleben!«
»Und seit wann ist das mein Problem?! Eine Lebende weniger? Umso besser! Vielleicht kann ich ihren Körper ja sogar für einige meiner Experimente nutzen! Und jetzt verschwinde aus meinem Haus!«
Ein Seufzer drang an mein Ohr, der mich herumwirbeln und an das Bett stürmen ließ. Der Verband war blutrot gefärbt; was bisher Dunkelheit und Hast verborgen hatten, war jetzt umso besser zu erkennen. Ihre ohnehin bleiche Haut war so weiß wie Kalk, und ihre Brust hob sich nicht mehr.
»Endlich. Wenigstens dieses Gör habe ich noch mitgenommen. Ich sollte dir fast dafür dankbar sein.«
Ich konnte den Apotheker hinter mir zetern und kreischen hören, aber ich ignorierte ihn vollkommen. Fast flehentlich streckte ich meine Finger aus und berührte kurz ihre Lippen, die sich nicht mehr regten. Ihre Augen waren geschlossen, aber ich hatte nicht den Mut, die Lider zu öffnen und den glasigen Blick dahinter zu erwidern.
Dann verkrampften sich meine Hände, so sehr, dass meine knöcherne Hand knackte und knirschte und sich die Fingernägel meiner anderen Hand in das Fleisch bohrten, so dass dicke, schwarze Tropfen daraus hervor traten. Ich kannte das Gefühl, das sich in mir aufbaute, noch ehe es auch nur annähernd seine volle Macht entfaltet hatte: Hass. Hass auf den Apotheker, der hinter mir schrie wie ein kleines, quengelndes Kind; Hass auf die verfluchten Menschen, die uns überfallen hatten; Hass auf Direflesh, dessen Auftrag es war, der uns in die Situation gebracht hatte. Aber erst, als sich alles aufgestaut hatte, erkannte ich, wen ich am meisten hasste.
»Gut. Lass es durch dich fließen. Endlich lernst du, was es heißt, ein Untoter zu sein.«
Es fühlte sich an, als würde ich in einen tiefen Brunne fallen. Alles Licht erlosch, und alle Wärme wurde ausgelöscht. Ich hasste mich so sehr, dass ich mir nicht sicher war, ob ich jemals wieder so etwas wie Glück verspüren würde können. Es schien egal, ob ich weiter lebte oder nicht, falls man mein Dasein so nennen konnte.
»Der Hass wird dich stärken. Keine Sorge, ich werde ihn schon sehr bald umleiten. Sie alle hassen uns. Es ist nur gut, dass wir sie ebenfalls hassen. Sie alle.«
Mein Blick fiel auf das aschfahle Gesicht der Elfe. Es war genug, um mich vollkommen dem Wahnsinn hinzugeben, der gerade in mir brodelte und rauschte. Für einen Moment schienen ihre spitzen Ohren zu verschwinden, eine blaue Robe ihren Körper zu bedecken, ein Pfeil in ihrer Brust zu stecken. Blut lief aus ihrem Mund. Dann verschwammen die Konturen noch mehr, und Schreie drangen von weit her an mein Ohr. Verzweifelte Schreie, in Tod und Pein, und ein leises Wispern, dessen Worte ich nicht entziffern konnte, aber das mir alle vernünftigen Sinne raubte. Der Geruch von verbranntem Fleisch stieg mir in die Nase, das Knacken und Knistern von brennendem Holz vermengte sich mit den panischen Rufen, die mal lauter, mal leiser wurden.
Und plötzlich war alles still. Ich starrte Aritana an; ich war halb über ihr gebeugt, meine knöchernen Finger lagen an ihrer Wange. Eine einzelne Träne, pechschwarz wie das Blut in meinen Adern, tropfte auf ihre kalkweiße Haut und blieb dort wie ein schwarzer Schandfleck kleben.
Am liebsten hätte ich vor Wut und Hass geheult wie ein wahnsinniger Wolf, aber ich konnte mich nicht rühren. Ich war wie versteinert, und so sehr ich es wollte, ich konnte meinen Blick nicht von der ebenso versteinerten Miene der Elfe abwenden.
»Hast du mitbekommen, wie ich die Bücher studierte?«, meinte ich nach einigen Momenten, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen. »Es gab ein Kapitel über Seelensteine. Und ein Ritual, wie man Seelen in sie hinein bindet, um sie hinterher für die Beschwörung von Dämonen zu nutzen. Diese Seelen werden dabei in die tiefsten dämonischen Höllen gestoßen, die es gibt, und leiden für alle Ewigkeit.«
Ich konnte ihn in mir lachen hören. Es hörte sich falsch an. Fast besorgt. »Nein, ich habe das ignoriert. Mein Fachgebiet waren Messer und Schwerter, nicht langweilige Wörter und Schriften.«
»Dann wird dich das nächste interessieren. Du wirst mir helfen, Aritana zu retten. Denn wenn nicht, dann werde ich den Rest meiner Existenz damit verbringen, einen Weg zu finden, dich in solch einen Stein zu sperren. Und wenn ich mit hinein muss, dann sei es. Ich werde voller Vergnügen neben dir in der Hölle schmoren und dich auslachen, während wir gemeinsam gequält werden.«
Für einen Augenblick herrschte Stille, abgesehen von dem Apotheker, der jetzt neben mir stand und mich noch immer mit einigen auserlesenen Verwünschungen bedachte.
»Es schmerzt. Kein Körper ist für zwei Seelen geschaffen. Erst recht nicht für zwei so... unterschiedliche. Ich will, dass du mich heim schickst. Weg von dir, weg von dieser Gefangenschaft.«
»Du hast Angst.«
»Und du bist vollkommen wahnsinnig.«
»Vielleicht. Ich bin einverstanden.«
»Dann trete zur Seite.«
Gemächlich stand ich auf und trat einen Schritt zurück. Ich fühlte mich merkwürdig entspannt und gleichzeitig entfernt. Zugleich wusste ich genau, dass dieses Gefühl falsch und nur von kurzer Dauer war, wenn ich es so wollte. Ich war tatsächlich mit meinem Geist zur Seite getreten.
Ohne mein weiteres Zutun knallte meine knöcherne Faust gegen den Schädel des Apothekers. Der Untote wurde von den Füßen gerissen und kugelte über den Boden, wo er wimmernd liegen blieb. In aller Seelenruhe stieg ich über ihn hinweg und ging zu einem der Regale, die der Wand entlang aufgebaut waren. Zielsicher griff ich nach einer kleinen, gläsernen Phiole, in der eine rote Flüssigkeit schwappte, und trat damit wieder an das Bett. Ohne zu zögern, drückte ich den Mund der Elfe auf und ergoss den Trank langsam in ihre Kehle.
Sie schluckte. Warum auch immer, und obwohl sie scheinbar zu atmen aufgehört hatte, sie schluckte den Trank, und tatsächlich schien beinahe sofort wieder etwas Farbe in ihr Gesicht zu wandern.
»Ein Heiltrank«, sagte ich zu mir selbst. »Es wird allerdings nicht reichen. Sie braucht einen Priester.«
»Und woher sollen wir einen Priester bekommen?«
»Das ist nicht mein Problem. Trag sie nach Undercity, wenn du willst. Denk lieber an dein Versprechen.«
Etwas zerrte an mir, als wäre ich der Teil eines Rätsels und müsste es vervollständigen. Das Gefühl verflog beinahe sofort wieder, doch dafür brachen die alten Regungen wieder auf mich ein. Ich atmete einmal tief ein und aus, bevor ich mich kurz schüttelte, um sicher zu gehen, dass ich wieder Herr meiner Sinne war, und zugleich wieder ein wenig Ruhe zu gewinnen. Noch immer neben dem Bett kniend, legte ich meinen Kopf auf die Brust der Elfe.
Sie atmete. Unendliche Erleichterung erfüllte mich und erstickte den Hass, der mich zerfressen hatte. Doch das reichte nicht, um sie zu retten. Meine Gedanken rasten bereits durcheinander auf der Suche nach einer Lösung, bis sie an einem Punkt ankamen, der mich stutzen ließ. Eine Formel tauchte in meinem Kopf auf, ein Zauber, den ich dort noch nie zuvor gesehen hatte, der jetzt jedoch so klar wie ein Sonnenstrahl aus einer tiefschwarzen Wolkendecke hervor stach. Was mich verunsicherte, waren die entfernten Schreie und das Wehklagen, das aus dieser Wolkendecke zu kommen schien.
Ich ließ mich dennoch nicht beirren. Vorsichtig setzte ich mich auf die Bettkante und fing an, den Verband zu öffnen. Mit einigen kurzen Schnitten waren die Bandagen beseitigt, doch als ich den verklebten Verband von der Wunde zog, stöhnte Aritana auf. Ihre Augen öffneten sich, und mit einiger Verwunderung sah sie mich an. »Wo... bin ich?«
»In Sicherheit. Vorerst.«
Sofort versuchte sie sich aufzurichten, was jedoch Wellen der Schmerzen durch ihren zitternden Körper jagte. Sie versuchte es erneut, mit dem gleichen Ergebnis. Beim dritten Mal streckte ich meine Hand aus und packte sie am Arm. Die Berührung ließ sie zuerst erschauern und regelrecht zusammen zucken, bis sie spürte, dass ich sie hoch zog. Sie biss ihre Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien, aber kurz darauf saß sie aufrecht in dem Bett und betrachtete ihre Wunde. Sie war jetzt aufgebrochen, und neues Blut sickerte daraus hervor.
»Was hast du vor?«, fragte sie sofort alarmiert, als sich meine knöchernen Finger danach ausstreckten.
Ich lächelte sie aufmunternd an. »Vertrau mir.«
Man sah ihr an, dass sie Mühe hatte, eine spöttische Erwiderung zurück zu halten. Ihre Augen verfolgten genau meine Finger, bis sie sich sanft auf die Wunde legten und ihr ein weiteres Stöhnen entlockten. Auch wenn das Blut sofort meine Knochen benetzten, spürte ich nichts von der Wärme.
Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich. Dann sammelte ich meine Kraft in meinen Fingern, so wie ich es vor viel zu langer Zeit gelernt hatte. Ich spürte ein Kribbeln in meinen Fingern, und als ich hinschaute, konnte ich kleine, gelb-leuchtende Fäden zwischen ihnen entdecken, die sie umspielten und umtanzten. Dann, auf einen inneren Befehl hin, schwappten sie von meiner Hand auf die Wunde und fuhren in das darunter liegende Fleisch, das seinerseits zu leuchten begann. Dort, wo eben noch ein klaffender Schnitt war, verband sich nun Fleisch und Sehnen, und die Haut darüber wuchs und verdeckte einen Moment später alles.
Dennoch hielt ich meine Hand auf die Stelle gepresst und schickte mehr und mehr der gelben Fäden in den Körper der Elfe. Ich konnte spüren, dass meine Arbeit noch nicht getan war. Organe waren verletzt, zu denen ich noch nicht einmal vorgedrungen war. Je länger ich da saß und meine Kraft in sie hinein fließen ließ, desto mehr fühlte ich mich ausgelaugt, desto mehr verschwand mein Mana, das sich in meinem ganzen Körper befand und jetzt zu meiner Hand hingezogen wurde. Erst, als ich sicher war, dass sich nicht noch ein einziger Tropfen in mir, sondern jetzt in Aritana befand, löste ich meine Finger von ihrer Haut und atmete tief aus. Ich fühlte mich nicht nur erschöpft; ich fühlte mich, als würde ich jeden Augenblick zusammen brechen und dann für einige Tage schlafen.
»Das...«
Müde hob ich meinen Kopf und schaute die Elfe an. Ihre Augen waren groß wie Unterteller, während ihre Finger über die Stelle tasteten, die eben noch eine klaffende Wunde gewesen war. »Wer bist du?«, fragte sie leise und fast stotternd.
Ich lächelte nur schwach. Dann sackte ich kraftlos gegen sie.
Ein einzelner, entsetzter Schrei hallte in meinem Kopf wieder, während Dunkelheit mich umfing.
 
Gutes Kapitel.
Aber die Verbindung zwischen dem Schattenblitz vorher und dem Heilzauber jetzt will sich mir nicht ganz erschließen.
Wenn das nun kein Schattenblitz war, sondern was anderes... aber das mit dem Schattenblitz würde nun wieder zu der Dämonenhaut passen.
Aber wenn die Dämonenhaut keine Dämonenhaut wäre, sondern ein Schild-Zauber, dann würde das wieder mit dem Heilzauber zusammenpassen, wobei dann der Schattenblitz kein Schattenblitz wäre, sondern ein anderer Schadenszauber, aber welcher Zauber verhält sich wie ein Schattenblitz?
Und was ist überhaupt mit der Vorgeschichte seines 2ten Ich und wer ist er jetzt wirklich?
Also nach dem wirren geschreibe von mir grade, bin ich nun wirklich verwirrt.

Da freu ich mich schon echt auf das nächste Kapitel.
 
Kapitel 15 - Vergangene Tage

»Bist du dir sicher, dass du das tun willst?«
Ich hatte ihr die Frage schon zum fünften oder sechsten Mal gestellt. Und natürlich wusste ich, dass sie sich sicher war. Sie hatte es mir bei jeder Frage mit einem sehr eindeutigen Blick aus ihren nussbraunen Augen gezeigt, der von Starrsinn geradezu triefte. Genau so kannte ich sie. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab es keine Macht in ganz Lordaeron, die sie davon hätte abhalten können.
»Also gut«, erwiderte ich schließlich seufzend, während ich meinen Stab ergriff. »Wohin werden wir gehen?«
Sie schüttelte nur den Kopf.
»Du willst, dass ich hier bleibe? Mach dich nicht lächerlich.«
Dieses Mal war ihr Blick nicht voller Starrsinn, sondern dermaßen ernstvoll, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. Ich hatte sie noch nie so entschlossen gesehen.
»Du kannst nicht verlangen, dass ich zurück bleibe, während du dein Leben riskierst. Nicht bei dem, was uns erwartet.«
In ihrer einen Hand lag der sündhaft teure Bogen, den ich vor langer Zeit für sie erstanden hatte. Sie war eine ausgezeichnete Bogenschützin und Jägerin; hatte sie erst einmal ein Ziel aufgestöbert, war es bereits dem Tode geweiht. Sie war eine der angesehensten Schützen in der ganzen Stadt, und es war nicht weiter verwunderlich, dass man jetzt nach ihr rief.
In ihrer anderen Hand hielt sie den Köcher voller Pfeile, die sie sich eigens von den Nachtelfen hatte anfertigen lassen. Ein weiteres riesiges Loch in meiner Geldbörse, aber niemand wagte es auch nur anzuzweifeln, dass die Pfeile tatsächlich zu den besten gehörten, die man bekommen konnte. Die Bogenmacher der Nachtelfen waren legendär.
Sie kam auf mich zu und legte mir sanft ihre Hand auf die Wange. Für einen Moment spielte sie mit dem dünnen Bart, der sich meine Wangenknochen herunter zog, bis sie kurz lächelte und mich dann zu sich herunter zog. Sie war fast einen Kopf kleiner als ich, und dennoch die Herrin meines Haushalts.
Ihre Lippen berührten die meinen. Der Kuss war flüchtig, aber dennoch irgendwie so innig und sehnsüchtig, dass ich fast weinen musste.
Dann trat sie ohne einen Blick zurück aus der Tür hinaus und schloss sie hinter sich.
Für eine Weile starrte ich die Bretter an, die das Vorzimmer von den Straßen Lordaerons trennten. Ich wurde das Gefühl nicht los, sie gerade verloren zu haben. Dabei war sie nur seit einigen Sekunden aus meinem Blick verschwunden. Schließlich drehte ich mich zur Seite und schaute in den Spiegel.
Mein Vollbart war etwas ungepflegt und struppig, er hatte wieder einmal eine Rasur nötig, um ihn in der richtigen Länge zu halten. Dafür sah mein Haupthaar prächtig aus; dunkelblonde Locken umhüllten mein Gesicht und fielen mir bis zu den Schultern. Alles in allem schien ich ein sehr treues Gesicht zu haben, während ich es so betrachtete.
Als ich jedoch in meine braunen Augen sah, erkannte ich eine Traurigkeit, die sich über sie gelegt hatte, so tief und immens, als hätte man mir das Herz ausgerissen. Ich verstand nicht, wieso; als Priester des Lichts sah ich häufig solche Leute, die zu mir kamen in der Hoffnung, ich könnte alte Wunden heilen und verlorene Gliedmaßen einfach wieder nachwachsen lassen. Viele musste ich unverrichteter Dinge zurückschicken, denn auch meine heilige Kraft war begrenzt. Der Schleier der Trauer legte sich dann noch dichter über die Augen dieser Unglücklichen.
Aber ich verstand nicht, warum er jetzt über mir lag. Vielleicht, weil wir so viel Unglück zu erleiden hatten, seit die Seuche bei uns wütete und Tote nicht mehr in ihren Gräbern blieben.
»Oder vielleicht wegen ihres Tods.«
Alles um mich herum verschwamm mit einem Schlag. Ein Strudel saugte alle Farben in sich hinein, um sie sogleich wieder auszuspeien. Das Vorzimmer war verschwunden; brennende Häuser standen um mich herum. Leichen lagen auf den Straßen, verstümmelt und mit zerrissenen Kleidern, denen Gliedmaßen fehlten und die eindeutig Spuren von Bissen und Schändung an sich trugen. Der Gestank von verbranntem Fleisch drang in meine Nase, und von irgendwo war ferner Kampfeslärm zu hören.
Vor meinen Füßen jedoch lag meine stumme Liebe. Ein Pfeil - einer ihrer eigenen - war ihr mit unmenschlicher Kraft in die Brust gerammt und dort gedreht und gewendet worden, bis sie schließlich gestorben war. Allerdings konnte ich weder diese Tat noch die Verstümmelungen an ihr richtig erkennen, denn ihre Augen hielten mich gefangen. Ihre braunen Augen, die mich immer so liebevoll und neckisch oder störrisch und höhnisch angeschaut hatten; eben jene Augen, mit denen ich mein Leben verbracht hatte, denen ich seit meiner Jugend hinterher geeilt war und in die ich mich verliebt hatte, als ich sie das erste Mal sah; genau diese Augen starrten jetzt kalt und tot in die meinen.

Ich schlug meine Augen auf. Ich hörte, dass ich schrie; doch als ich mich aufrichten wollte, stieß ich in der völligen Finsternis beinahe sofort mit meinem Kopf gegen etwas Hölzernes und wurde zurück auf den Rücken geworfen.
Immerhin verstummte ich dabei, auch wenn ich jetzt sehr schnell atmete, so schnell wie vermutlich noch nie in meinem Leben. Mein Herz dagegen schlug unheimlich langsam, so langsam, dass ich mich für einen Moment fragte, ob ich tot war.
Dann fiel mir alles wieder ein.
Ich war nicht tot. Ich war ein Untoter. Ich war eines jener Geschöpfe, das meine Liebe getötet hatte. Und im selben Moment traf mich eine weitere Erkenntnis wie ein Hammerschlag: Ich war einst ein Priester gewesen. Und jetzt lernte ich die Nekromantie.
Mir wurde sehr übel. Es war nichts, das mit meinem Magen zu tun gehabt hätte; es war eher das Gefühl, als würde ich für den Rest meines Daseins schmutzig und dreckig sein, und kein Bad würde diesen Schmutz jemals wieder wegwaschen können.
Gleichzeitig tastete ich nach meinem Dolch. Allem Anschein nach befand ich mich in einer hölzernen Kiste; meine Arme konnte ich fast nicht bewegen, geschweige denn mich aufrichten. Die Dunkelheit, die nicht einmal meine Augen durchdringen konnten, machte plötzlich Sinn. Ich verschwendete jedoch keinen Gedanken daran, warum ich mich in einer Kiste befand. Ich konzentrierte mich vollkommen darauf, was ich jetzt zu tun hatte.
Es dauerte nicht lange, bis sich meine Finger um den Griff der Waffe wandten. Ächzend und schnaufend schaffte ich es, die Spitze der Klinge über meinem Herz zu positionieren. Nach einigem Schieben und Rücken umgriffen beide meiner Hände den Dolch.
Gerade, als ich den Stahl durch meine Brust stoßen wollte, versteiften sich meine Arme. Mir war sofort bewusst, was gerade geschehen war, und ich brüllte voller Wut und Verzweiflung in die Stille hinein.
»Ich kann dich nicht sterben lassen«, murmelte mein Dämon irgendwo in meinem Kopf. »Eine Schande, was mit deiner kleinen Spielgefährtin passiert ist, aber es ist nicht meine Schuld. Wir haben ein Geschäft abgeschlossen. Du wirst es ehren.«
Ich schrie und kreischte einfach weiter, ohne auf die zugeflüsterten Worte zu achten. Ein ums andere Mal versuchte ich, den Stahl in meinem Fleisch zu versenken. Ich schaffte es nicht einmal, mit der Spitze meine Haut zu durchbohren. Jeder misslungene Versuch stachelte mich nur noch mehr an, und ich verfiel regelrecht in eine Art Raserei mit dem einzigen Ziel, mein Leben auszulöschen.
Irgendwann - vermutlich nach Stunden - drang die Erkenntnis langsam durch mein von Trauer und Hass zerfressenes Wesen. Es war unnütz. Die Seele in mir hatte scheinbar genügend Macht, um mich daran zu hindern, mich selbst umzubringen. Ich würde leiden, bis ich sie losgeworden war, und dann meinem schändlichen Leben ein Ende setzen.
Tränen stiegen mir in die Augen, und anstatt weiter wie ein Wahnsinniger zu schreien, schluchzte ich hemmungslos vor mich hin. Dennoch halfen sie mir, mich zu beruhigen. Ich fühlte mich zwar noch immer unrein, dreckig und als hätte ich alles verraten, was mir jemals lieb und teuer gewesen war; aber ich schaffte es jetzt, meine wilden Gedanken ein wenig zu ordnen. Schließlich, wie als das letzte Zeichen meiner Niederlage, ließ ich den Dolch aus meinen kraftlosen Fingern gleiten. Er fiel irgendwo neben mir auf den hölzernen Boden.
»Warum bin ich in dieser Kiste?« Meine Stimme klang schwer und auch ein wenig gereizt. Sie passte gut zu dem, wie ich mich gerade fühlte.
»Ich weiß es nicht. Unsere... Bindung hat mir keine Wahl gelassen, als dir bei deiner Schmuserei zuzusehen. Du bist der führende Geist. Ich bin nur ein weiterer Bewohner deines Körpers.«
»Du würdest das gerne ändern, wenn du könntest, nicht wahr?«
»Selbstverständlich. Es gibt einige Leute, mit denen ich mich gerne unterhalten würde. Aber wenn ich zurück geschickt werde, wäre das auch schon besser, als den selben Körper mit einem Priester des Lichts teilen zu müssen.«
Meine letzten Tränen versiegten. Es hatte keinen Wert, jetzt um Vergangenes zu weinen, auch wenn es tief in mir schmerzte, wenn ich nur daran dachte. Mühsam schob ich die alten Erinnerungen beiseite und konzentrierte mich ganz auf die Gegenwart. Ich fing an, meine Umgebung abzuklopfen. Wie ich vorhin schon bemerkt hatte, war mein Platz nur sehr beschränkt; gerade genug, um meine Arme anzuwinkeln und sie ein wenig zu bewegen.
Ich räusperte mich kurz und schluckte die letzte Trauer herunter, bevor ich antwortete. »Das ist etwas, das ich nicht verstehe. Ich habe erste Zauber der Nekromantie gelernt; ich habe Dämonenhäute gewirkt und Schattenblitze beschworen. Diese dunkle Energie hätte nicht aus mir dringen dürfen, wenn ich dem heiligen Licht geweiht bin.«
»Frag deinen Schöpfer. Vielleicht war das ja sogar der Grund, warum man mich aus dem Totenreich zurückgerissen und dich in meinen Körper gesteckt hat.«
Ich hielt in meiner Untersuchung inne. Es würde durchaus Sinn machen; die Schwertkämpfe, die ich geführt hatte, waren nicht meine Bewegungen und nicht meine Schläge gewesen, sondern jene meines Dämonen. Er hatte die Klingen pariert und seinerseits zugestochen, und ihm verdankte ich mehr als nur einmal mein Leben, auch wenn er sicherlich nicht mir zuliebe kämpfte.
»Warst du einst ein Nekromant? Ich hätte nicht gedacht, dass man die Dämonenbeschwörer so gut im Kampf mit dem Schwert ausbildet.«
»Man hatte es mir vorgeschlagen. Ich bin dem Zweig allerdings nie lange nachgegangen. Mein Meister wurde unzufrieden mit mir, und wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit, die mit einem Dolch in seiner Kehle endete. Die Meuchelmörder nahmen mich unter ihre Fittiche, und ich wurde einer ihrer besten.«
»Du musst ein ganz schön grausames Drecksschwein gewesen sein«, murmelte ich verdrossen und klopfte weiter, auf der Suche nach einer Schwachstelle im Holz.
»Womöglich.« Ich spürte, wie sich meine Lippen zu einem schmalen Lächeln verzogen. »Und ganz ähnlich wie du, mein Freund, war ich nicht immer so.«
Ein dumpfer Laut ließ uns beide gleichzeitig verstummen. Weitere Geräusche folgten, die ich nach einigen Augenblicken als Schritte identifizierte, welche scheinbar direkt neben mir aufhörten.
»Hat die Dunkelheit dich ins Reich des Wahnsinns gerissen?«, drang die Stimme der Blutelfe durch mein hölzernes Gefängnis hindurch.
Meine Hoffnung, alsbald wieder in Freiheit zu sein, bekam bei ihrem Tonfall einen Dämpfer. »Wie lange warst du schon hier?«
»Lange genug, um dein Heulen und Wüten mitzubekommen, genauso wie dein Selbstgespräch. Vielleicht sollte ich dich einfach vergraben, wie es sich für einen Sarg gehört.«
»Und so dankst du es mir, dass ich dir dein Leben gerettet habe?«
Zwei dumpfe Schläge ertönten direkt über meinem Kopf. Aritanas Stimme zitterte vor Wut, als sie durch die Bretter hindurch zischte: »Wem habe ich es denn zu verdanken, dass eine Rettung überhaupt nötig war?! Einem verrückten Untoten, der zwei magische Schulen beherrscht und kämpft wie ein Berserker? Weißt du eigentlich, was ich tun musste, um unerkannt mit deinem Sarg im Schlepptau wieder nach Undercity zu gelangen?! Ich bin durch die Kanalisation gekrochen! Gekrochen!«
Schlagartig horchte ich auf. »Wir sind also wieder in der alten Stadt?«
»Oh ja, das sind wir. Und wenn du mir nicht sofort eine gute - nein, eine einträgliche Erklärung bietest, warum ich dich nicht ans nächste Feuer übergeben sollte, dann freu dich schon mal auf die Flammen!«
»Er wach?«, rumpelte plötzlich eine andere Stimme. Ich musste nicht einmal nachdenken, um zu erkennen, wer gerade auf mich zu stapfte.
»Gordo, bist du das?«
Ein kurzes und durchdringendes, aber dennoch irgendwie kindliches Lachen ertönte. Einen Moment später ging es in einem Hagel von Holzsplittern unter, als die mächtige Faust der Monstrosität auf meinen Sarg niedersauste und er in Tausend Stücke zerbarst.
Was vor Holz nicht Halt machte, störte sich nur wenig an Fleisch und Knochen. Noch während mich die ungestüme Kraft des untoten Wesens gnadenlos nach unten drückte und ich die ersten, schmerzend hellen Lichtflecken erkannte, konnte ich hören, wie etwas anderes unter und zugleich in mir zerbarst. Der Tisch, auf dem mein Sarg gelegen hatte, bot ebenso wenig Widerstand gegen die unmenschliche Gewalt, wie es meine brechenden Knochen taten.
Nach einem Wimpernschlag war das Schauspiel vorbei. Ich lag mit offenem Mund auf dem Rücken und starrte mit hervorquellenden Augen die Decke an. Ich konnte spüren, wie meine Lungen allmählich versuchten, sich wieder mit Luft aufzublähen und kläglich scheiterten. Ein leises Krächzen drang aus meiner Kehle hervor, womöglich der letzte Atemzug, der sich noch in mir befunden hatte.
Das unförmige, grinsende Gesicht des riesenhaften Unholds beugte sich über mich und brummte merklich erfreut: »Du frei! Du gesund!«
Ich nickte zögerlich, bevor ich mich an der ausgestreckten Pranke festhielt, die mich mühelos nach oben zog. Einige Knochen in meiner Brust knirschten dabei hörbar. Mein gesamter Brustkorb wirkte eingedellt, und nach ein paar vorsichtigen Berührungen wurde mir klar, dass ein beträchtlicher Teil davon wortwörtlich in Stücke gebrochen war. Irgendetwas hielt sie dennoch einigermaßen an ihrem Platz.
Allmählich gewöhnten sich auch meine Augen wieder an die ungewohnte Helligkeit, die von einigen Fackeln und Kohlepfannen herrührten. Der Raum, in dem wir uns befanden, war nicht sehr groß, aber dafür umso höher; hoch genug, dass Gordo mühelos darin stehen konnte. Die Überreste des Sargs und ein beträchtlicher Teil des Tischs lagen neben einem offenen Feuer, das in einem improvisierten Kamin fröhlich vor sich hin brannte. Der Rauch stieg nach oben und verzog sich von dort aus durch einen hohen Torbogen, der bis kurz unter die Decke reichte.
Das Funkeln, das vor meinem Gesicht tanzte, ließ mich hingegen zurück zucken. Aritana stand direkt vor mir, in einer neuen Robe gekleidet und mit einem scheinbar sehr scharfen Dolch in ihrer ausgestreckten Hand. Das Licht der Flammen brach sich regelrecht in dem Stahl.
»Du warst es«, zischte sie leise. »Du warst derjenige auf meinem Dach, der mir damals entkommen war.«
Für einen Moment schaute ich die Frau verständnislos an, bis ich verstand, was sie zu sagen versuchte. Mein kleines Abenteuer auf den Dächern des Schurkenviertels fiel mir wieder ein. Hätte nicht alles in mir angefangen zu schmerzen, ich hätte vielleicht sogar darüber lachen können.
Gordo war jedoch schneller als ich. Noch ehe ich genügend Atem sammeln konnte, um endlich wieder etwas von mir zu geben, schnellte seine freie Hand vor und packte den ausgestreckten Arm der Giftmischerin. Es knackte einmal laut, und Aritana schrie vor Schreck und Schmerz auf. Der Dolch fiel ihr aus der kraftlosen Hand, während sie versuchte, sich aus dem unnachgiebigen Griff zu befreien.
»Frau böse«, brummte Gordo mit deutlichem Missfallen in der Stimme. »Nicht bedrohen Freund von Gordo.«
»Lass sie los, Gordo.«
Meine Stimme war so leise wie das Rascheln eines Blattes im Wind. Dennoch war es laut genug für die Monstrosität; sie betrachtete mich kurz mit einem prüfenden Blick, bevor sie der Elfe einen relativ sanften Schlag versetzte, der sie nur einige Schritte hinweg fegte und dann wimmernd und zusammen gekauert auf dem Boden liegen ließ.
»Sie dich töten.«
»Nicht, wenn ich es verhindern kann, mein großer Freund.« Ich versuchte, mich ein wenig zu strecken, und tatsächlich knirschten zwar die meisten meiner Knochen, aber sie hielten. Zögerlich tat ich einen ersten Schritt, dann einen zweiten, immer mit der Unterstützung meines hünenhaften Kumpanen.
Als wir an der Blutelfe vorbei kamen, warf ich ihr einen mitleidsvollen Blick zu. Mit einem kurzen Nicken bedeutete ich Gordo, auf mich zu warten; dann humpelte ich zu dem Häufchen Elend hinüber und kniete mich daneben hin. »Verzeih ihm. Und warte hier. Ich werde versuchen, einige Sachen in Erfahrung zu bringen, und dich danach verarzten.«
Der Schlag kam nicht gerade unerwartet. Woher sie das Messer hatte, war mir allerdings ein Rätsel. Sie musste es irgendwo unter der neuen Robe, die sie angelegt hatte, versteckt gehalten haben. Mein Dämon schritt sofort ein, blockte mühelos den Angriff und umklammerte dann ihr Handgelenk. Ich versuchte gar nicht erst, gegen ihn anzukämpfen, sondern konzentrierte mich vollkommen auf die Miene meiner Gefangenen.
»Ich werde dich töten, du Drecksschwein!« Sie war so wütend, dass Spucke ihre Worte begleitete und mich im Gesicht traf. Ich ignorierte es, während ich meine Kräfte sammelte und ihren anderen Arm berührte.
»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«
»Wir müssen ihr Vertrauen gewinnen. Besser einen ehemaligen Feind als Verbündeten denn niemand, auf den ich mich verlassen kann.«
Die nun nur zu vertraute Wärme begann, aus meiner Hand zu dringen. Es konnte nicht lange her sein, dass wir wieder zurück in meiner ehemaligen Heimat-Stadt waren, denn ich spürte, wie sich schon beim Anfang des Heilzaubers alles in mir zusammen zog in dem Versuch, kleine Reste meiner magischen Energie ausfindig zu machen und zu meinen Fingerspitzen zu leiten. Ich wusste ungefähr, was ich zu tun hatte: Ich durchdrang die Verletzung und betrachtete für einen Moment den Bruch, den die Monstrosität der Elfe zugefügt hatte. Ihr Arm war an zwei verschiedenen Stellen gebrochen, und ich wusste jetzt schon, dass ich nicht beide versorgen konnte.
Ich blendete das Zetern und Kreischen meiner Patientin aus und konzentrierte mich, so gut ich konnte. Vor meinem geistigen Auge sah ich den Knochen und die verletzten Muskeln, die sich um ihn spannten. Dann entließ ich mein Mana, und tatsächlich fingen die Muskeln an, sich ineinander zu verweben und wieder eins zu werden, und auch der Knochen wuchs und fügte sich auf magische Art und Weise zusammen.
Gleichzeitig spürte ich ein tiefes Unbehagen in mir, das gleich darauf in diabolische Schmerzen überging. Vor Schrecken und Aufregung hätte ich fast die Heilung unterbrochen, bis ich erkannte, dass es nicht wirklich ich war, der litt, sondern mein Dämon. Dennoch teilte ich seine Qualen, und seine Gedanken vermengten sich auf einmal mit den meinen. Bilder von eisigen Klippen zuckten an meinem inneren Auge vorbei, und ich hatte das plötzliche Gefühl zu fallen. Tatsächlich glaubte ich sogar, einen eiskalten Wind auf meiner Haut zu spüren und sein Pfeifen in meinen Ohren zu vernehmen.
»Halte durch«, presste ich zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen hervor, während ich krampfhaft versuchte, meine Konzentration beizubehalten.
»Beeil dich lieber!«, keuchte der Nekromant gepeinigt zurück.
Dann, mit einem Mal, war der Arm zumindest teilweise wieder ganz. Ich atmete schwer aus, ließ von der Elfe ab und versuchte, mich aufzurichten. Beinahe sofort kippte ich nach hinten hin um, und nur Gordo bewahrte mich davor, auf den harten steinernen Boden zu knallen.
Aritana war irgendwann während der Heilung verstummt und starrte mich jetzt wieder einmal an, so wie sie es in letzter Zeit schon so oft getan hatte. Versuchsweise bewegte sie ihre Finger, zuckte jedoch zusammen, als sie merkte, dass zumindest nicht alles in Ordnung war. Dennoch war auch ihr klar, dass die verminderten Schmerzen mir zu verdanken waren.
Ihr Mund öffnete sich, und ich wusste jetzt schon, welche Frage sie stellen würde. Meine Kräfte waren nun vollends aufgebraucht; mein Dämon wandte sich noch immer in Schmerzen und ließ mich großzügig daran teilhaben. Noch ehe ein Wort über ihre Lippen dringen konnte, giftete ich deshalb zurück: »Ich weiß nicht, wer ich bin! Ich war einst ein Priester des Lichts, bis diese götterverfluchten Untoten meine Liebe getötet und meine Stadt in Schutt und Asche gelegt haben – die Stadt, in der wir uns gerade befinden! Ein Meuchelmörder, dessen Körper ich besessen habe, sitzt in meinem Kopf und versucht mich ständig davon zu überzeugen, dir die Kehle durchzuschneiden, und wider besseren Wissens versuche ich, dich zu retten! Und wer auch immer mir das angetan hat, will mich entweder gefügig machen oder vernichten! Wahrscheinlich sogar zweiteres, wenn ich so recht darüber nachdenke. Also frage mich nicht, wer ich bin, denn ich weiß es selbst nicht!«
Meine Worte schienen gesessen zu haben. Aritanas Mund blieb geöffnet, aber nicht eine Silbe drang über ihre Lippen. Erst nach einigen Momenten schien sie wieder gefasst genug, überhaupt auf mich zu reagieren. Sie richtete sich auf und wankte zu einem Stuhl, den ich bis dahin noch gar nicht gesehen hatte, um sich schwer seufzend darauf niederzulassen. Mit ihrem gesunden Arm schirmte sie dabei schützend den verletzten ab.
Schließlich, nachdem einige weitere Sekunden vergangen waren, schaute sie mich prüfend an. »Dir ist klar, wie verrückt das klingt?«
»Hätte ich einen Grund, dich anzulügen?«, gab ich verbittert zurück.
»Nein. Zumindest keinen, den ich jetzt sehen könnte. Aber wer weiß schon, was für ein Spiel du treibst?«
»Die einzige, die Spielchen treibt, bist du.«
Die Frau lächelte mich süffisant an. Wie aus Versehen strich sie mit ihrer Hand über die nach vorne geschlossene blutrote Robe, und tatsächlich rutschte sie ein wenig herunter und gab den Blick auf ihr Dekolleté frei.
Ich betrachtete sie für einen Moment sehr verwirrt, bevor ich merkte, was sie vorhatte. Ein Lachen, tief und freudlos, kam aus mir hervor. »Du versuchst, mich zu verführen? Wirklich, Aritana? Bist du neben einer Giftmischerin und Mörderin auch noch eine Hure für Leichname und wandelnde Tote?«
»Ich versuche lediglich herauszufinden, womit ich es hier zu tun habe. Untoter oder... Mensch.«
Jetzt war meine Neugier geweckt. Dennoch konnte ich nicht umhin, mir den einen oder anderen bissigen Kommentar zu verkneifen. »Interessante Methoden, die du dafür verwendest. Wo hast du sie kennen gelernt? Haben Menschlinge sabbernd zu deinen Füßen gelegen und dich begafft, kaum dass du etwas von deinem Busen gezeigt hast? Oder sind Blutelfen schamlos genug, jedem ihre Vorzüge zu zeigen, dem sie begegnen, selbst Kadavern? Bist du wirklich schon so einsam?«
Ihr Blick wurde stahlhart und ihre Miene herausfordernd. »Du hast keine Ahnung, was ich zu erdulden hatte, seitdem ich hier bin, also hüte deine Zunge.«
»Natürlich, oh meine wohlproportionierte Königin.« Ich deutete eine spöttische Verbeugung an, bevor ich hinzufügte: »Und, was glaubt Ihr, meine Verehrteste, sei ich ein Mensch oder nicht?«
»Ein Untoter würde nicht solche dummen Phrasen von sich geben.«
»Da hat sie nicht unrecht«, meldete sich mein Dämon zu Wort. »Anstatt solche Faxen zu treiben, solltest du lieber herausfinden, wie du mich zurück schicken kannst.«
»Und was bin ich dann, eurer Meinung nach?«
Aritana sah mich scharf an, bevor ihre Augen kurz durch den, von Gordo abgesehen, leeren Raum huschten. Wenn sie sich darüber wunderte, dass ich nicht nur sie angesprochen hatte, versteckte sie es ansonsten relativ gut. »Ich weiß nicht, was du bist. Aber ein Untoter hätte sich nicht zurückgehalten, als du mit hungrigen Augen auf mich zugekommen bist.«
»Sie kennt sich gut mit Untoten aus. Womöglich könnte sie wirklich eine gute Verbündete sein...«
Ich brummte nur leise zur Antwort, bevor ich meinem hünenhaften Begleiter mit einem Kopfnicken bedeutete, weiter zu stapfen.
»Wohin willst du jetzt gehen?«
»Zu Direflesh. Er wird mir helfen.«
»Er wird dich töten.«
Ich nahm einen tiefen Atemzug, während ich mitten im Torbogen stehen blieb. »Und warum sollte er das tun?«
»Weil ich nicht die einzige Mörderin war, die er auf dich angesetzt hat.«
Ich drehte mich ein letztes Mal zu der Elfe um. »Wen noch?«
»Das Kindsweib. Inessa Twinblade.«
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Danke für die ausführliche Erklärung, jetzt ist der Verwirrungsknoten gelöst.

Gut, jetzt kennen wir etwas aus den Vergangenheiten der beiden. Dann gilt es jetzt herauszufinden, wie das alles zusammenhängt und welche Gründe dahinterstecken.

Ich bleibe auf jeden Fall dran, mach schön weiter so.
 
Na ja, ich will meine verehrte Leserschaft ja nicht vollkommen im Dunkeln verweilen lassen... ab und an braucht's eben eine kleine Erklärung.
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Kapitel 16 - Eine Frage des Vertrauens

Die Flammen zuckten immer wieder auf, während sie hastig und gierig an dem frischen Holz leckten. Der Vorrat war zusehends kleiner geworden, und je kleiner er wurde, desto feuchter wurde das Holz. Die Flammen hatten es zusehends schwer, dem nassen Brennstoff noch irgendetwas abzugewinnen, aber dennoch blieben sie mit eiserner Hartnäckigkeit dabei, es zu verschlingen und zu verkohlen, selbst wenn sie dabei selbst umkommen würden.
Ich starrte schon seit einiger Zeit in das Feuer. Ich saß vornübergebeugt auf meinem wackeligen Stuhl - an dem Tisch konnte ich ja nicht mehr Platz nehmen, seitdem er vollkommen zerstört war - und dachte angestrengt nach. Irgendwo hinter mir, nicht zu nahe, aber auch nicht zu weit entfernt vom wärmenden Feuer, saß Aritana und starrte wahrscheinlich ihrerseits mich an. Und vor dem Torbogen stand der massige Leib von Gordo, der schweigend seinen Wachposten bezogen hatte, kaum dass abzusehen gewesen war, dass ich noch ein wenig bleiben würde.
Inessa Twinblade. Wenn sie tatsächlich ebenfalls auf mich angesetzt war, dann musste ich äußerst vorsichtig agieren. Zuerst hatte ich den Gedanken verworfen, dass sie mich töten wollte. Sie hätte mehr als genug Gelegenheiten dazu auf unserer Reise nach Undercity gehabt. Aber je länger ich darüber grübelte, desto offensichtlicher wurde es mir, dass sie den Auftrag vielleicht erst zeitgleich oder sogar noch nach Aritana erhalten hatte. Das wäre der Zeitpunkt gewesen, nachdem wir bereits angekommen waren. Und es würde passen: Sollte Direflesh, der nachweislich Aritana mit meiner Entsorgung beauftragt hatte, wirklich nach meinem Leben trachten, musste er auch schon im Vornherein von mir gewusst haben. Der Brief, den ich bei ihm abzugeben hatte, konnte ein Täuschungsmanöver gewesen sein; ein Mittel, um mich zu ihm zu führen, ohne Verdacht zu schöpfen. Und als sich herausstellte, dass ich nicht war, wonach er strebte, musste er mich wieder unter die Erde bringen.
Aber er hätte es ebenso selbst tun können. Sein Hackbeil war bereits in meinem Arm gesteckt, als ich die Blutelfe aus seinen Krallen gerettet hatte. Ein weiterer Schlag, und mein Arm wäre vom Rumpf getrennt gewesen; ein letzter Hieb, und er hätte mühelos meinen Schädel zertrümmern können. Es passte einfach nicht.
Womöglich war er auch einfach nur an einem Spiel interessiert. Zu sehen, was ich tun konnte; zu erproben, wo meine Schwächen, wo meine Stärken, wo meine Grenzen lagen. Ein perfides Spiel, aber passend für einen verrückten Untoten, der nur den Verrückten mimte und durchaus umgänglich sein konnte. Vielleicht war Direflesh selbst sogar mein Schöpfer.
»Was soll ich nun also tun«, drang es mir leise über die Lippen. Scheinbar waren die Worte laut genug, dass sie auch Aritanas spitze Ohren erreichten, denn sie richtete sich auf ihrem Stuhl ein wenig auf und schaute mich mit einer Mischung aus Angespanntheit und Unbehagen an. Es war nicht sonderlich schwer, in ihrem Gesicht zu lesen: Sie wusste noch immer nicht, was sie von mir halten sollte, ihrem alten Feind und nun neuen Freund und Beschützer. Und vor allem wusste ich nicht, was ich von ihr halten sollte, die alte Feindin meines Dämons und die manchmal depressive, manchmal wutentbrannte Furie, die mir bei so ziemlich jeder Gelegenheit eine Klinge in die Kehle bohren wollte.
»Du kannst auf keinen Fall zu Direflesh gehen«, warf die Elfe ein. »Zu gefährlich.«
»Für wen?«, erwiderte ich, ohne meinen Blick von den Flammen zu wenden. Ich musste sie nicht sehen, um zu wissen, dass sie es gerade mit der Angst zu tun bekam. »Für mich oder für dich, Aritana, die du mich schon oft hättest töten sollen und es noch immer nicht geschafft hast?«
»Was nicht ist, kann noch werden.«
»Nicht, solange Gordo in der Nähe ist. Du bist schlau, kleine Sin'dorei. Du weißt, dass er dich einfach zerquetschen würde, solltest du mir auch nur ein Haar krümmen.«
»Dein großer Beschützer wird nicht ewig bei dir sein.«
»Natürlich nicht. Aber wie oft hast du Zacharias schon enttäuscht? Und wie oft kann man Zacharias Direflesh enttäuschen und mit dem Leben davon kommen? Wenn ich etwas gelernt habe, seitdem ich unter den Menschenfressern weile, dann, dass hier nichts von Bedeutung ist, außer der Name. Wie viel Furcht er einflößt, wie viel Respekt er verschafft. Niemand kennt dich, kleine Sin'dorei. Aber jeder kennt Direflesh.«
Die Elfe biss die Zähne zusammen, blieb mir aber eine Antwort schuldig. Ich lächelte für einen Moment und nickte leicht. »Du weißt genau, dass ich eine gute Chance hätte, bei Direflesh unterzukommen. Niemand weiß, was er wirklich denkt oder mit mir vorhat, aber er hat mich nicht getötet, als er die Gelegenheit dazu hatte. Stattdessen schickt er mich auf eine Mission, von der keiner von uns beiden zurückkehren sollte. Wir sind nur mit viel Glück den Kriegern entkommen. Wer weiß schon, was er von mir halten wird, wenn ich jetzt siegreich zurück kehre?«
»Er wird dich zerstückeln«, giftete Aritana zurück. »Und wenn er es nicht tut, dann tue ich es!«
»Ich zittere bereits vor Angst, oh üppige Hoheit.«
Es kam keine Antwort auf meine kleine Beleidigung. Für eine Weile schwiegen wir wieder und hingen unseren eigenen Gedanken nach. Die Stille wurde nur vom Knacken und Knistern des Feuers unterbrochen. Es war regelrecht heimelig.
»Ich weiß immer noch nicht, was du bist.«
Ich grunzte nur leise. »Dann weißt du genauso viel wie ich, kleine Sin'dorei.«
»Hör auf, mich so zu nennen!« Aritana stampfte mit ihrem Fuß auf. Eine sehr weibliche Geste, die ich der Blutelfe nicht unbedingt zugetraut hätte. Sie jagte allerdings auch ein Grinsen über mein Gesicht.
»Du hast geweint. Um mich.«
Mein Grinsen war wie weggewischt.
»Willst du mir also erklären, warum du um eine kleine Sin'dorei weinst, oh böser, mächtiger Namenloser?«
»Du lernst schnell«, brummte ich.
»Du bist kein Untoter. Du bist etwas anderes. Etwas Wahnsinniges. Du bist nicht jener, der einst in diesem Körper verweilte, denn dieser hätte mich sofort abgestochen.«
»Und was glaubst du, wer das Schwert durch dich getrieben hat, meine geschätzte Feindin?«
Meine Stimme hatte sich nicht wirklich verändert. Es war nur ein ganz unmerkliches Detail, eine gewisse Kühle, die mitschwang und einen leisen Hauch von Grausamkeit in sich verbarg. Aritana entging dieses Detail jedoch nicht. Ihr Atem stockte, und hastig rutschte sie mitsamt ihrem Stuhl einige Schritt weg von mir.
»Erschrecke sie nicht so«, tadelte ich meinen Dämonen, der in mir zu lachen anfing.
»Was, beim heiligen Wasser des Sonnenbrunnens, bist du?«
»Nur ein Körper mit zwei Seelen«, meinte ich mit einem Schulterzucken. »Ein Experiment, vermutlich. Anscheinend ein fehlgegangenes. Dein alter Feind spricht gerne mit mir, und ich hatte einiges an Mühe, ihn zu überzeugen, dir nicht im Schlaf die Kehle durchzuschneiden.«
»Dann bist du derjenige in Kontrolle?«
»Man könnte es so wohl nennen.«
Auch wenn sie mir einen zweifelnden Blick zuwarf, kam die Blutelfe doch wieder ein wenig näher heran. Ihre Neugierde war geweckt. »Und wer bist du? Wer warst du vorher?«
Ich seufzte leise, packte einen Scheit Holz von dem zusehends kleiner werdenden Vorrat und warf ihn ins Feuer. »Diese Antwort kennt wahrscheinlich nur Direflesh.«
Wieder einmal legte sich Schweigen über uns. Wir drehten uns im Kreis. Zu Direflesh zu gehen, war gefährlich – aber es schien die einzige Lösung zu sein, um mehr über mich herauszufinden.
»Wenn du zu Direflesh willst, gehe ich mit.«
Ich hatte vieles erwartet, aber nicht das. Mit einer erhobenen Augenbraue drehte ich mich auf meinem Stuhl zu ihr um. »Tatsächlich? In der Hoffnung, mich als deinen Gefangenen zu präsentieren?«
»Um mit anzusehen, wie er dich aufschlitzt.«
»Ah. Das macht mehr Sinn.« Langsam stand ich auf, betrachtete ein letztes Mal das munter prasselnde Feuer und straffte mich dann. »Ich muss sagen, du hast mir besser gefallen, als du dachtest, du würdest sterben.«
Der Blick in ihren Augen sprach Bände. »Bringen wir es einfach hinter uns.«

Gordo stapfte wortlos vor uns her und räumte mit seiner massigen Gestalt die wenigen Passanten zur Seite, die uns begegneten. Aritana sah in ihrer neuen, schwarzen Robe regelrecht elegant aus: der Stoff hob ihre bleiche Haut noch mehr hervor, und die Untoten schauten sie öfters mit einer Mischung aus Abscheu und Verlangen an. Ich glaubte allerdings nicht, dass das Verlangen von ihren körperlichen Reizen herrührte, sondern eher von der Tatsache, dass in ihr noch das Leben pulsierte.
Ich hatte meinen inzwischen sehr schäbigen Umhang übergeworfen und die Kapuze so tief wie nur möglich ins Gesicht gezogen. Die wenigsten schienen mich wirklich zu erkennen, und nur vereinzelt schaute man mir hinterher, anstatt sich auf die Monstrosität zu konzentrieren. Meine Hand hielt den Dolch, den ich von Aritana erbeutet hatte, unter dem Mantel versteckt, bereit, ihn sofort in das Herz eines jeden zu rammen, der sich mir in den Weg stellte.
Allerdings erreichten wir, wie erwartet, das Apothekerviertel ohne Zwischenfälle. Gordo verabschiedete sich am Eingang wieder von uns, nicht ohne mir einen fast schon besorgten Blick zuzuwerfen, der nicht so recht zum dümmlichen Grinsen seiner Fratze passen wollte. Hätte ich nicht meine Tarnung wahren wollen, so wäre ich ihm wohl um den Hals gefallen aus lauter Dankbarkeit für das, was er bereits für mich getan hatte. Stattdessen nickte ich ihm nur aufmunternd zu, bevor ich mit Aritana vor mir hergehend durch das kleine steinerne Portal und in die Welt der Apotheker trat.
Wie immer herrschte rege Betriebsamkeit. Der Geruch von Verwesung und ein Hauch des Todes begleiteten uns auf dem Weg zu Direfleshs Haus. Die meisten der Untoten waren zu beschäftigt mit ihren Apparaturen, um uns Beachtung zu schenken, aber dennoch wurde ich des einen oder anderen neugierigen Blicks gewahr. Jedes Mal bereitete ich mich dann darauf vor, gleich von hinten angesprungen zu werden, doch nichts geschah.
Aritana schritt bemerklich mühsam voran. Ihr verletzter Arm bereitete ihr noch immer Schmerzen, aber es war vermutlich nicht diese Pein, die sie so plagte. Vielmehr musste es die Ungewissheit sein, was sie erwarten würde, wenn wir erst einmal bei Direflesh angekommen waren. Ich konnte sie verstehen. Ich fühlte nicht wirklich anders. Meine Selbstsicherheit von vorhin war verflogen, und mit jedem Schritt näher an unser Ziel wünschte ich mich einen Schritt weiter davon entfernt. Ich setzte all meine Hoffnung auf eine Vermutung. Wenn ich falsch lag, würde ich nicht mehr viel Zeit haben, meine Entscheidung zu bedauern.
Schließlich standen wir vor der Tür. Sie sah genauso aus wie immer, aber dennoch war ich dieses Mal ungewohnt argwöhnisch. Ich erwartete fast, dass der Hackebeil-Knilch heraus und auf uns zu gestürzt kam, um uns schnell und gleichzeitig grausam weiter zu schicken, aber ebenso wie vorher passierte nichts.
Aritana, die direkt vor der Pforte stand, drehte sich halb um und sah mich an. In ihren Augen erkannte ich blanke Angst. Allmählich wurde mir klar, wie verschieden und doch gleich wir waren: Wir spielten beide nur eine Rolle, die nicht die unsere war. Sie sah verletzlich aus, obwohl ich wusste, dass sie sich wehren konnte. Sie war eine starke Kämpferin, verfügte zumindest ein wenig über Magie und hätte mich fast umgebracht; aber jetzt sah sie aus wie ein kleines, verängstigtes Mädchen, das nicht tun wollte, was es tun musste.
»Klopf endlich«, brummte ich verstimmt und packte dabei den Griff des Dolchs so sehr, dass selbst ich spüren konnte, wie sich meine Fingernägel in mein totes Fleisch bohrten.
Die Frau nahm einen zitternden Atemzug, bevor sie mir wieder den Rücken zukehrte und ihre Faust hob. Dann, sachte, fast scheu, klopfte sie gegen das Holz.
Es dauerte einen Moment, bis die Tür nach innen aufschwang. Es war gewohnt düster in dem Raum; allerdings konnte ich nicht viel erkennen, weil Zacharias Direflesh mir den Blick versperrte. Seine Augen huschten erst zu der Blutelfe, dann zu mir.
Ein breites Grinsen huschte über seine Lippen, eines jener Sorte, das voller Boshaftigkeit war. »Kommt herein. Ich habe euch fast schon erwartet.«
Meine Finger verkrampften sich um den Dolchgriff, aber gehorsam folgte ich Aritana und drängte mich durch den engen Durchgang an Direflesh vorbei. Unsere Blicke kreuzten sich kurz, und ich glaubte, so etwas wie Anerkennung in den seinen zu erkennen. Allerdings war es schwer, überhaupt in ihnen zu lesen, da sie einfach nur leuchtende Höhlen in seinem Kopf waren.
»Ihr kommt gerade zur rechten Zeit«, sagte er, kaum dass ich ihn passiert hatte und sich die Tür hinter uns schloss. »Auf dich, mein namenloser Freund, wartet nur noch eine letzte Prüfung.«
Alarmiert horchte ich auf. Ich brauchte eine Sekunde, bis sich meine Augen an das Zwielicht, das nur von dem fast verloschenen Feuer in der Mitte des Raums bekämpft wurde, gewöhnt hatten. Doch als ich endlich richtig sehen konnte, blieb ich abrupt stehen.
Inessa stand vor mir. Ihr aschfarbenes Haar hing ihr wirr ins Gesicht und ihre Augen waren geschlossen, doch durch einen hauchfeinen Schlitz zwischen den Lidern drang das markante blaue Leuchten hervor. Ihre Hände und Füße waren mit Lederriemen an eine Art Streckbank gekettet, die sie aufrecht vor mir darbot. Ihre Lederrüstung war verschwunden, und ihr Wams war an manchen Stellen zerrissen und zeigte dort üble Wunden und Schnitte. An einer Stelle schien es, als wäre sie von Feuer berührt worden, doch ihre Haut war dort wie verätzt.
»Eine Meuchelmörderin taugt nur dann etwas, wenn sie auch jemanden umbringen kann«, begann Zacharias in einem Plauderton, während er zu uns aufschloss und sich neben mich stellte. »Von Inessa Twinblade kann ich das leider nicht mehr behaupten.«
»Sie sollte mich umbringen.«
»Durchaus. Allerdings erst, nachdem sie dich hierher geführt hatte.«
»Ihr wisst also über mich Bescheid.«
»Nun, nicht ganz.« Das grausame Lächeln, das seine Lippen umspielte, ließ in mir eine kalte Wut aufsteigen. Was mich noch mehr in Rage versetzte, war mein Dämon, der den geschundenen Anblick meiner ehemaligen Führerin geradezu euphorisch feierte.
»Also du bei mir ankamst, wusste ich nicht, wer oder was du bist. Ich kannte nicht einmal dein Gesicht. Erst später erfuhr ich, dass du hättest tot sein sollen. Ein wiederbelebter Untoter? Unerhört.«
Zacharias durchschritt den Raum und blieb neben seiner Gefangenen stehen, wo er fast schon zärtlich einige ihrer Haarsträhnen zur Seite strich. Inessa öffnete dabei ein wenig die Augen, doch sie schien nicht einmal genügend Kraft zu haben, um etwas zu sagen. »Ich wollte also mehr herausfinden. Der Brief, den ich erhalten hatte, war äußerst vage gehalten. Er verriet mir nichts, außer, dass du etwas Besonderes wärst und dass ich auf dich aufpassen sollte.«
»Von wem war er unterschrieben?«
»Ein alter Freund. Das war die Unterschrift. Unnötig zu erwähnen, dass ich mich zuerst ein wenig veralbert fühlte, denn ich habe keine Freunde.«
Ich wechselte einen raschen Blick mit Aritana. Sie schien noch immer kurz davor, in Panik auszubrechen, aber auch sie hörte gespannt der Erzählung zu. Scheinbar wusste sie ebenso wenig wie ich, was uns jetzt erwartete.
»Jedenfalls dachte ich mir, dass ich dich für einige Tage im Auge behalten sollte. Allerdings geschah – nichts. Du schienst nichts Besonderes zu sein, eher das Gegenteil. Eine herbe Enttäuschung, vor allem nach deiner theatralischen Ablieferung bei mir. Ich beschloss also, dich zu töten. Das konnte ich natürlich nicht selbst tun. Botenjungen zu finden, ist schon schwer genug, aber ich auch noch beginnen würde, sie einfach zu zerstückeln, würde es unmöglich werden. Meine Wahl fiel also auf diese junge Untote.«
Seine Hand fuhr sanft über die Wange der Gefangenen, bevor er sich wieder zu mir wandte und mich anlächelte. »Es sollte aussehen wie ein Unfall. Eine Kerkertür, die nicht richtig verschlossen war, und ein von Wahnsinn und Hass zerfressener Mensch. Doch statt der Nachricht deines Todes entsteigst du selbst dem Nekromanten-Tempel. Ich habe gehört, du sollst dort unten nicht gerade zimperlich mit einem der Lehrer umgegangen sein. Und das Blut des Menschen klebt angeblich noch immer an den Wänden.«
Allmählich wurde mir übel. Mein Dämon weidete sich dagegen an der Erzählung, und ein abscheulicher Stolz stieg in mir auf.
»Ich dachte mir, du hättest Glück haben können. Ich setzte also Nachforschungen an. Ich fand heraus, wer du früher gewesen warst – ein Mörder ohne Namen und ohne Gesicht – und ich fand dabei auch deine größte Feindin.« Sein Blick wanderte kurz zu Aritana, die regelrecht erzitterte, als er sie ansah. »Doch auch sie versagte. Eine der besten Giftmischerinnen in ganz Undercity, die viele ihres Fachs gerne tot sehen würden, und nicht nur deshalb, weil sie eine Lebende ist. Und auch sie versagte.«
Endlich ließ der Apotheker von der Untoten ab und kam auf mich zu. Direkt vor mir blieb er stehen und legte seine Hand auf meine Schulter. »Du bist etwas Außerordentliches. Dich als mein Schüler könnte sehr… interessante Fragen aufwerfen und sie auch beantworten.«
Ich deutete eine Verbeugung an und achtete darauf, dass mein Messer immer von meinem Mantel geschützt blieb. »Es wäre mir eine Ehre, Euch zu dienen, Meister.«
Meine Stimme zitterte leicht. Das Lächeln von Direflesh wurde breiter.
»Gut. Dann töte bitte Inessa.«
Ruckartig hob ich wieder meinen Kopf und starrte meinen Gegenüber an. »Ein einfacher Beweis deiner Loyalität«, fügte er gerade hinzu, während er zur Seite trat und den Weg zu seiner Gefangenen freimachte. »Steche ihr einfach ins Herz. Aber das weißt du ja.«
Für einige Sekunden blieb ich wie versteinert stehen, während meine Gedanken zu rasen begannen. Dann, nur, um irgendwie Zeit zu schinden, ging ich langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, auf die Streckbank zu. Angestrengt versuchte ich, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, noch so verwegen und noch so tödlich. Aber mir fiel nichts ein, das nicht mit meinem Tod geendet hätte.
Ich holte den Dolch unter meinem Mantel hervor und betrachtete ihn eingehend. Er war leicht schartig und scheinbar nur schlecht gepflegt worden. Aber immerhin war er sauber; die letzte Glut des Feuers spiegelte sich darin, wenn ich ihn richtig hielt.
Ausgerechnet jetzt fand Inessa genügend Kraft, ihren Kopf zu heben und mich anzuschauen. Sie war verängstigt; wie ein kleines Kind. Ihr Mund stand halb offen, wie in einem stummen Flehen, sie zu verschonen.
Immer neue Gedanken prasselten auf mich ein. Ich konnte das nicht tun. Ich konnte nicht einfach das einzige Wesen, das mir bisher freundlich und vertrauensvoll entgegengekommen war, wehrlos abstechen.
»Ich werde dir nicht helfen«, meinte mein Dämon in diesem Moment zu mir. »Es wird Zeit, dass du aufwachst. Du warst vielleicht einmal ein Mensch, aber das ist lange her. Mitgefühl, Trauer, Liebe – du wirst es dir nicht leisten können, solche Gefühle zu hegen. Das hier ist wirklich deine Prüfung.«
Mit einem Schlag war mein Kopf leer. Das Einzige, das ich sah, waren Inessas Augen, die mich anstarrten und anflehten, die mit kindlicher Furcht geschlagen waren.
Ich spürte außerdem den Blick von Direflesh auf mir, und ich wusste, dass er sein Hackbeil in der Hand hielt.
Ich konnte fühlen, wie Aritana den Atem anhielt.
Langsam, wie in Trance, platzierte ich das Messer auf der Brust der Gefangenen. Mit meiner knöchernen Hand strich ich ihr sanft über die Stirn, bevor ich meine Wange an die ihre schmiegte.
Ich hatte keine Wahl. Zacharias wusste das, die Blutelfe wusste es, und auch Inessa musste es klar sein.
»Es tut mir leid«, wisperte ich so leise, dass nur sie es hören konnte.
Die Klinge drang ohne viel Geräusch durch das Fleisch und die Sehnen. Es glitt zwischen den Rippen hindurch und durchbohrte das gähnend langsam schlagende Herz.
Ein Keuchen drang aus den Lippen direkt an meinem Ohr, gefolgt von einem letzten Seufzen.
Ich verharrte für einige Momente, voller Trauer über das, was ich gerade hatte tun müssen.
Dann spürte ich etwas, was nicht hätte da sein dürfen.
Ich blinzelte einige Male verwirrt, bevor ich langsam mein Gesicht von dem ihren entfernte. Meine knöchernen Fingerspitzen berührten vorsichtig meine Wange. Als ich sie ansah, waren sie schwarz.
Eine einzelne, pechschwarze Träne war aus den jetzt geschlossenen Augen der Toten gedrungen und lief nun ihrer Wange hinab.
Hätte mein Entsetzen mich nicht verstummen lassen, so hätte das gesamte Apothekerviertel aufgehorcht, als ich voller Selbsthass und von dem Gefühl des unwiederbringlichen Verlustes erfüllt in mich hinein schrie.
 
Da hast du aber schnell nachgeliefert, sehr schön.

Ich bin auf die nächsten Kapitel gespannt.

Ich habe so eine leise Ahnung... wollen wir mal dran bleiben...
 
Für alle Neugierigen: Wir sind bei Seite 100 angekommen. Damit dürfte diese Story so ziemlich die Längste sein, die ich jemals geschrieben habe. Yay me!

Wollen mal hoffen, dass ich Euch die nächsten 100 Seiten genauso gut unterhalten kann wie bisher...

Vielen Dank, dass Ihr Euch die Zeit nehmt, meine Geschichte zu lesen. Ihr glaubt nicht, wie viel mir das bedeutet.

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Kapitel 17 – Der Wandelbare

Mein neues, altes Dasein hatte alles verloren, was es in irgendeiner Weise hätte lohnenswert machen können.
Meine Arbeit für Direflesh bestand darin, für ihn Einkäufe zu erledigen – dieses Mal gab er mir immerhin das dafür nötige Geld – und hinterher stundenlange Gespräche mit ihm darüber zu führen, wie es mir ging, an was ich mich von meinem Leben als Mensch erinnerte, und Tränke in mich hinein zu kippen, die er braute. Fast immer war ich darauf gefasst, nach dem nächsten Schluck tot umzufallen; seltsamerweise trat dieser Fall zumindest in den nächsten beiden Wochen nicht ein.
Die Fragen, die er mir stellte, waren meist merkwürdig harmlos: wo ich wohnhaft gewesen war, ob ich meinen Vater und meine Mutter kannte, ob ich eine Liebe gehabt hatte. Ich erzählte ihm zumindest teilweise die Wahrheit: Dass ich mich nicht mehr an viel erinnern könnte. Für den Rest dachte ich mir bunte Geschichten von glücklichen Jugendzeiten und einigen ausgewählten Momenten aus, die ich ihm mit tonloser Stimme vortrug.
Wofür sich Direflesh besonders interessierte, war der Umstand, warum ich Inessa Twinblade aus seinem Haus geschleift, in einen Sarg gesteckt und oben im zerstörten Lordaeron vergraben hatte. Meine Antwort war: »Jeder Feind hat ein anständiges Begräbnis verdient.«
»Sie war eine gemeine Meuchelmörderin, die dir an die Kehle wollte, für ein paar Goldmünzen.«
»Sie hat mir Respekt entgegen gebracht. Etwas, was ich nicht von vielen in Undercity gewohnt bin.«
Damit war dieses Gespräch zu Ende gewesen. Dass ich einige schwarze Tränen über ihrem offenen Grab vergossen hatte, als ich es mit Erde füllte, behielt ich für mich.
Was die Tränke angingen, hatten sie scheinbar keine großartigen Auswirkungen auf mich. Zum größten Teil hinterließen sie einen widerlichen Geschmack auf meiner toten und daher eigentlich eher unnützen Zunge, und manchmal hinterließen sie auch ein ungutes Gefühl in meinem Magen. Meistens jedoch spürte ich einfach gar nichts von ihnen. Ich überlegte, dass ich womöglich das neue Versuchskaninchen für Gifte geworden war, die nur bei Lebenden funktionieren sollten.
Ich hatte in der Zwischenzeit auch einen Spiegel ergattert, doch das Gesicht, das aus dem Glas heraus zurück schaute, kannte ich nicht. Es hatte einen grau-weißen Bart, aber kurz gehalten und für meine Umstände relativ gepflegt. Mein Haupthaar hatte keine Locken wie aus meiner Erinnerung, sondern war praktisch nicht vorhanden und scheinbar einfach ausgefallen. Ich erkannte auch endlich, warum ich den wenigen Atem, den ich brauchte, nicht vernünftig durch die Nase einziehen konnte: Sie war gebrochen und schon fast nicht mehr als Nase erkennbar. Meine Augen leuchteten in dem hellen, gespenstischen Blau, das den meisten Augenhöhlen der Untoten innewohnte, aber ich hatte immerhin noch alle Zähne.
Kurzum: Ich war ein scheußlicher Anblick, auch wenn mein Dämon versuchte, mir zu erklären, dass unser Körper überaus gut aussah für das, was er bereits alles hinter sich gebracht hatte.
Alles in allem verhielt er sich ansonsten sehr ruhig. Vermutlich waren selbst ihm die düsteren Gedanken, die ich hegte, unangenehm. Als ich überlegte, wie ich Direflesh am besten und schmerzvollsten umbringen könnte, war er am Anfang begeistert gewesen; je länger ich meinen Racheplan gesponnen hatte, desto leiser war er geworden. Tatsächlich fand ich heraus, dass ich zumindest in meinem Kopf zu ungeahnten Grausamkeiten fähig war, die ich vor meinem erzwungenen Mord wohl sehr abstoßend gefunden hätte.

Jetzt saß ich einmal öfters in meiner Taverne im Inneren Ring, die wie immer praktisch leer war, und trank in wenigen Zügen einen Krug Lagerbier nach dem anderen. Ich wusste nicht, wie sich Alkohol auf einen Untoten auswirkte, aber ich wusste – unter anderem durch Erinnerungen meiner zweiten Seele – dass Alkohol bei Menschen zum Vergessen bestimmter Dinge führen konnte, und ich war erpicht darauf herauszufinden, ob das auch für Untote galt.
Erst, als mich Aritana ansprach, bemerkte ich überhaupt, dass sich die Blutelfe an meinem Tisch und mir direkt gegenüber hingesetzt hatte. »Man findet dich in letzter Zeit sehr häufig hier.«
Ich hätte mich vor Schreck fast verschluckt, fing mich aber gerade noch und leerte auch diesen Krug, ohne dass etwas daneben ging. Dann funkelte ich die Frau kurz an, bevor ich mit einem Wink dem Wirt zu verstehen gab, dass ich Nachschub brauchte. »Es gibt nicht viel in dieser Stadt, das man in seiner freien Zeit tun könnte.«
»Ich hätte erwartet, dass du mehr über dich selbst herausfinden willst. Wer du warst, wer du bist, all jene Dinge eben.«
Ich schnappte dem Wirt den Krug aus der Hand, kaum dass er neben mir am Tisch stand, und tauschte ihn mit dem leeren aus. »Falsch gedacht«, erwiderte ich verbittert, bevor ich das Gefäß an meine Lippen setzte und anfing, das Bier in mich hinein zu kippen.
»Aber Direflesh -«
»Weiß nichts über mich«, beendete ich ihren Satz zwischen einigen Schlucken. »Er fragt mich die ganze Zeit nur aus. Ich bin mir noch immer nicht sicher, was er eigentlich von mir will, aber ich hoffe, er bringt mich bald um.«
Ich schaute mir Aritana einmal genauer an. Sie trug schon wieder eine neue Robe – dunkles Grün, das fast ins Schwarze überging, ansonsten eher schlicht gehalten – und hatte ihre Kapuze leicht zurück geschlagen, so dass ich ihr Gesicht erkennen konnte. Es schien mich voller Hohn anzulächeln, aber in ihrem Blick erkannte ich Mitleid. Scheinbar hatte sie noch immer nicht gelernt, dass ein Blick mehr sagen konnte als tausend Worte. Wenn ich nicht gerade am Trinken gewesen wäre, hätte ich verächtlich ausgespuckt. Ich brauchte ihr Mitleid nicht. Ich wollte es nicht.
»Du hörst dich an wie ein jämmerlicher Waschlappen. Irgendjemand muss dich geschaffen haben.«
»Natürlich. Vermutlich derselbe, der Inessa erschaffen hat.«
Jetzt verengten sich ihre Augen zu Schlitzen, als ich ihren Verdacht bestätigte. Sie war die einzige gewesen, die mir damals gefolgt war und dem unzeremoniellen Begräbnis beigewohnt hatte. Tatsächlich hatte sie, nachdem ich die Untote verscharrt und zur letzten Ruhe gebettet hatte, einige Worte auf Thalassisch gesprochen, von denen ich das wenigste verstand. Dennoch hatte ich mitbekommen, dass es ein Gruß und ein Abschied gewesen war.
Woher ich Thalassisch überhaupt kannte, wusste ich nicht. Aber als ich den Gedanken weitergesponnen hatte, erkannte ich auch, dass die Blutelfe nicht mit dem Gebrabbel und Gemurmel der Untoten sprach, wenn sie sich mit mir unterhielt, sondern sich einer Sprache bediente, die scheinbar jeder kannte. Erst dann war mir auch der leichte Akzent aufgefallen, den sie hatte.
Jetzt räusperte sich Aritana leise, um mich dazu zu bewegen, von meinem Krug aufzusehen. »Das heißt, sie -«
»War meine Schwester. Oder etwas Ähnliches. Sie muss es gewusst haben, sonst würde ich vermutlich nicht mehr leben. Angeblich war sie eine der besten käuflichen Klingen in ganz Undercity.«
»Woher weißt du, dass sie so war wie du?«
»Ich bin mit ihr gereist.« Meine Finger umklammerten den Krug und fingen an, ihn langsam im Kreis zu drehen. Darüber nachzudenken, ließ mich innerlich frösteln und trug die Melancholie an mich heran. »Sagen wir einfach, dass es ziemlich leicht zu erkennen war, dass sich mehr als nur eine Person in ihr befand. Zumindest, nachdem ich erkannt hatte, was mit mir los ist. Sie war zu fröhlich für eine Untote, zu verspielt, zu sehr ein… Kind. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass auch du die Träne gesehen hast.«
Aritana nickte langsam. »Ihr zwei wart die einzigen Untoten, die ich jemals habe weinen sehen. Ich wusste nicht einmal, dass Untote zu Trauer fähig sind.«
»Sie sind es nicht«, brummte ich leise und hob meinen Krug hoch. »Das einzige, das wir können, ist töten und fressen.«
»Du bist kein Untoter -«
Mein Krug schlug so hart auf den Tisch, dass das Holz erbebte und tatsächlich leise knackte. Selbst der hölzerne Henkel knirschte leise und gequält, als sich meine knöchernen Finger immer enger um ihn schlangen. »Natürlich bin ich ein Untoter! Hast du keine Augen in deinem verdammten Schädel, kleine Sin'dorei? Was, bei allen unheiligen Göttern, willst du überhaupt hier? Belustigt dich mein Leiden? Oder erhoffst du dir noch immer einen Preis für meinen Kopf? Vielleicht von jemand anderem als Direflesh? Such! Vielleicht findest du ja einen alten Feind, der noch einen Groll gegen diesen wurmigen Körper hegt!«
Die Worte brachen in einem Schwall aus mich heraus. Selbst wenn ich es gewollt hätte, wäre es mir unmöglich gewesen, sie zurück zu halten. Meine Stimme war dabei lauter geworden, bis sie die Taverne und vermutlich auch noch einen guten Teil des Inneren Rings erfüllte.
Als ich geendet hatte, bemerkte ich, dass der Henkel tatsächlich entzwei gebrochen war. Mit einem verächtlichen Grunzen schlug ich den Krug einfach mit meiner Hand vom Tisch. Bier schwappte über die Steine. Der Aufprall des Holzes auf den Boden klang in der kleinen Kaverne gespenstisch nach.
Aritana erwiderte einige Momente lang nichts. Ihr Blick war zuerst voller Fassungslosigkeit, dann voller Wut und schließlich eiskalt. Als sie aufstand und ihre Schultern straffte, war sie ganz die Blutelfe geworden, als die ich sie kennen gelernt hatte.
»Ich dachte, ich würde so etwas wie einen Freund finden. Aber das einzige, das ich hier sehe, ist ein verdroschener, räudiger Hund, der wimmert und sich zusammenkauert, obwohl er einst ein stolzer Wolf gewesen war.«
Mit diesen Worten drehte sie sich um und marschierte hinaus, wobei sie es zustande brachte, grazil und elegant zu wirken. Ich starrte ihr noch nach, als sie bereits die Taverne verlassen und um die Ecke gebogen war. Das Gefühl, gerade etwas verloren zu haben, das ich noch nicht einmal besessen hatte, machte sich in mir breit.
Nach einer Weile trat der Wirt an meinen Tisch. »Den Krug wirst du bezahlen.«
Ich blinzelte ein paar Mal, bevor ich mich zu ihm wandte und ihn mit gerunzelter Stirn anschaute.
»Bring mir lieber mehr Bier.«

Es mussten einige Stunden vergangen sein. Meine Geldbörse, die vorher noch einiges an klingenden Münzen beinhaltet hatte, fühlte sich jetzt äußerst leer an, aber ich torkelte jetzt, ein zufriedenes Grinsen unter meiner Kapuze versteckt, durch die Gänge der Kanalisation. Meine Gedanken kreisten gerade um den Wirt und sein eingedrücktes Gesicht, das ihm nach meinem Schlag in eben dieses wahrscheinlich für den Rest seines Lebens erhalten bleiben würde. Er war aber auch selbst daran schuld – er wollte plötzlich kein Bier mehr rausrücken. Wut hatte mich erfasst, aber die war schon lange wieder verpufft, praktisch zusammen mit dem Schlag.
Ich überlegte, wohin ich gehen sollte. Aber so sehr ich mir mein Hirn auch zermarterte, während ich mich wankend an einem hervorstehenden Stein in der Wand festkrallte, mir wollte nicht vernünftiges einfallen. Dafür fiel mir auf, wie trist und trostlos es in der Kanalisation war. Die Beleuchtung war bestenfalls dürftig. Zu viele Schatten legten sich über die Wände und Gänge, zu viel Finsternis, als dass meine fröhliche Stimmung dem hätte standhalten können.
Da bekam ich eine faszinierende, beinahe schon geniale Idee. Ich gluckste vor Freude, während ich mich umdrehte, beinahe über meine eigenen Füße fiel und los stolperte, immer in Richtung des magischen Aufzugs.
Der Weg dorthin war eine Mischung aus vielen Grau- und Schwarztönen, die sich wild ineinander verschlangen und nur ab und zu von hellen, orange-gelben Tupfern unterbrochen wurden. Ich fühlte mich gut. Die Farben allerdings fühlten sich nicht gut an. Nur ein weiterer Grund, aus Undercity heraus zu kommen.
Ich erkannte verschwommen das Gesicht einer der Monstrositäten, die am Aufzug Wacht hielten. Ich brummte ihm irgendetwas zu, während ich darauf wartete, dass sich die lustig grün leuchtende Tür öffnen würde, und das erste Mal fiel mir auf, wie abscheulich diese Wesenheiten eigentlich stanken. Aber es machte mir nichts aus, denn ich stank genauso. Ich musste über diese Erkenntnis lachen, so sehr, dass ich gar nicht bemerkte, wie sich die Tür, gegen die ich mich schwer gelehnt hatte, nach oben hin öffnete. Ich purzelte und rollte in den Aufzug und fing noch mehr an zu lachen, während ich meine Reise nach oben antrat.
Das Kratzen und Schaben von Stein auf Stein, zusammen mit der Begebenheit, dass ich mich nicht mehr wie auf einem schaukelnden Schiff fühlte, verkündete meine Ankunft an der Oberwelt. Mühsam schaffte ich es, mich halb aufzurichten, und krabbelte mehr zum Ausgang, als dass ich ging. Die verschwommenen Farben erfüllten wieder meine Sicht, auch wenn sie für eine kurze Zeit weniger pulsierten, als ich auf dem Thron in der Eingangshalle Platz nahm und, noch immer glucksend und kichernd, mich umsah. Der Sarg des letzten Königs Lordaerons drehte sich lustig hin und her, als würde er versuchen, meinem Blick zu entgehen.
Nach einer Weile, als ich wieder etwas zu Atem gekommen war, marschierte ich in Schlangenlinien weiter, purzelte dabei einmal über den Sarg, wobei ich nach Herzenslust die Gebeine des eitlen Drecksacks verfluchte, der dort begraben lag, und dann aus voller Kehle lachend aus dem Thronsaal heraus steuerte.
Es war Nacht. Ein voller Mond versuchte, sein kaltes und doch merkwürdig freundliches Licht durch die giftgrünen Schlieren des Himmels zu senden, was ihm sogar ziemlich gut gelang. Auch wenn sich alles drehte und vor meinen Augen tanzte, erkannte ich jeden einzelnen Stein der zerstörten Stadt.
Ich ließ mich treiben. Niemand hielt sich hier auf; es gab keine Händler, die hier oben Bier oder Pilze verkauft hätten. Es gab keine Wächter, die mich mit ihren offen stehenden Mündern hätten anschauen können. Nicht einmal Ratten fanden sich in den verlassenen Gemäuern, die sie schon längst von allem Essbaren befreit hatten. Selbst der kranke Wald mit seinen krüppeligen Bäumen und gedungenen Pflanzen schien sich möglichst weit weg von den verfallenen Gebäuden halten zu wollen.
Aber das machte mir nichts aus. Ich fühlte mich pudelwohl. Dies war meine Stadt, meine allein, und ich war ab sofort ihr Herrscher. Ich flanierte wankend durch meine Straßen und brüllte Lobeshymnen auf den namenlosen Untoten heraus, die nur ich hören konnte. Wenn ich ein Haus fand, das noch einigermaßen intakt war, kämpfte ich mich bis auf sein Dach hinauf und betrachtete von dort aus voller Entzückung mein neues Reich.
Ich hatte kein Ziel, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass irgendetwas in meinem Hinterkopf nagte und mich irgendwohin führen wollte. Ich ignorierte es einfach, während ich mir alles anschaute, um auch sicher zu wissen, was in meiner Stadt vor sich ging. Manchmal glaubte ich sogar, eine Stimme zu hören, bis ich verstand, dass es mein kleiner, mieser Dämon war. Dann kreischte ich einfach nur, dass er seinen Schnabel zu halten habe, und missachtete seine Worte.
Ich konnte nicht sagen, wie viel Zeit bereits vergangen war. Der Mond schien ein ganzes Stück über den Himmel gewandert zu sein, als ich ein wenig verwirrt vor einem rostigen Gittertor stand. Es kam mir merkwürdig bekannt vor, als hätte ich es schon einmal gesehen. Es versperrte den Zugang zu einem kleinen Garten, in dem tatsächlich noch ein einzelner Baum stand: ein kleines Ding, verkümmert und chancenlos, aber dennoch lebend und sich zur Wehr setzend.
Ich hörte auf, mir neue Siegeslieder auszudenken und sie kichernd mir selbst vorzutragen. Meine Neugier war geweckt, und versuchsweise drückte ich gegen das Tor. Natürlich war es abgeschlossen, oder womöglich hatte der Rost den Scharnieren dermaßen zugesetzt, dass sich der Durchgang nicht mehr öffnen ließ.
Grunzend wankte ich ein paar Schritte rückwärts, bevor ich einen Schattenblitz beschwor und ihn mehr schlecht als recht auf das Hindernis schmiss. Ein lauter Knall ertönte, als der Zauber mit dem Eisen kollidierte, und die darauf folgende Explosion riss mich beinahe von den Füßen. Als sich der Staub legte und ich mich hustend dem Garten näherte, hing die eine Hälfte des rostigen Dings nur noch schräg in seinen Angeln; die andere war nach innen gedrückt worden. Ich fühlte mich mit einem Mal sehr schläfrig, fast so, als hätte ich nicht nur einen einzigen, sondern einen ganzen Hagel von Schattenblitzen erzeugt. Dennoch schlurfte ich selbstzufrieden durch den jetzt offenen Eingang und in den Garten, um mich umzusehen.
Er gehörte zu einem größeren Haus, das sich an ihm anschloss. Eine halb verfaulte, hölzerne Tür versperrte mir die Sicht ins Innere, aber je länger ich die Wand und das Fenster anstarrte, das sich etwas weiter oben aus dem Stein schälte, desto mehr wurde mir bewusst, dass ich dieses Gebäude kannte. Das nagende Gefühl in meinem Hinterkopf wurde gleichsam stärker.
Ich schüttelte mich regelrecht, als ich mich von dem Anblick abwandte. Meine gute Laune war schlagartig verflogen. Ich wollte weg von hier, möglichst schnell und möglichst weit. Vielleicht sollte ich mir noch ein paar Biere besorgen. Der Wirt würde sich in der Zwischenzeit bestimmt schon beruhigt haben, mein Schlag war schließlich gar nicht so hart gewesen.
Gerade, als ich an dem Bäumchen vorbei ging, durchzuckte mich ein Schmerz, als hätte man mir einen glühenden Dolch durchs Herz gerammt. Angewidert und sehnsüchtig betrachtete ich die kleine Eiche, die scheinbar noch immer und gegen jegliche Vernunft versuchte, hier zu wachsen. Das Nagen in meinem Kopf war jetzt zu einem ständigen Grummeln und Schaben heran gewachsen, das mich fast in den Wahnsinn trieb. Immer wieder versuchte ich, mir die Ohren zuzuhalten oder mit meiner knöchernen Faust gegen den Schädel zu schlagen in der Hoffnung, dass es aufhören würde, aber stattdessen wurde es immer stärker.
Dann, nach und nach, drang die Erkenntnis durch meinen benebelten Geist, und je mehr sie es tat, desto grässlicher wurden die Geräusche in meinem Kopf. Natürlich kannte ich das Haus. Ich kannte auch den Garten zu gut. Und jetzt wusste ich sogar, was es mit dem Bäumchen auf sich hatte und warum ich meinen Blick nicht davon abwenden konnte.
Ich dachte gar nicht mehr weiter nach. Ich fiel zu Boden und fing an, wie wild mit meinen klauenartigen Fingern in der Erde zu graben. Es musste vor kurzem geregnet haben, denn sie war weich und bot mir nur wenig Widerstand. Innerhalb von Minuten war meine Hose und mein Hemd dreckbesudelt und feucht, das Loch, das ich aushob, bestimmt schon einen Schritt tief. Aber ich grub schweigend wie ein Besessener weiter.
Dann trafen meine Finger auf etwas Festes. Sofort verharrte ich und schob vorsichtig die Erde zur Seite, um ein Stück Stoff freizulegen. Es war der Saum eines Kleids, das vermutlich einmal blutrot gewesen war, jetzt jedoch ausgebleicht und halb vermodert zwischen meinen Fingern lag.
Ich wusste genau, wem es gehörte.
Ich grub mich weiter voran, dem Stoff folgend. Hände wurden sichtbar, bleich wie verdorrtes Espenlaub. Sie waren auf dem Bauch zusammen gefaltet. Eine erste Träne stieg mir in die Augen und fiel auf die Finger, wo sie wie ein hässlicher, schwarzer Wurm entlang lief.
Ich musste die Zähne so sehr zusammenbeißen, dass sie knirschten, um nicht voller Verbitterung aufzuschreien. Neue Erinnerungen drangen in mir auf: Wie ich einen leblosen Körper durch eine brennende Stadt trug, direkt in diesen Garten. Wie ich ein Grab aushob, eilig und voller Hast, in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden. Wie ich schließlich, nachdem ich den Leichnam der Erde übergeben und wieder zugedeckt hatte, eine einzelne Eichel aus meiner Tasche hervorholte und sie, dem Wunsch meiner Liebe folgend, am Kopfende in dem Boden versenkte.
Nach und nach entriss ich auch den Rest des Körpers der klammen Erde: ein Hals kam zum Vorschein, dann blasse und doch volle Lippen, eingefallene Wangen, eine kleine, zierliche Nase, geschlossene Augen, dunkelbraunes, noch immer volles Haar.
Ich strich ihr sanft über das Gesicht, um sie von letzter Erde und Staub zu befreien. Sie sah friedlich aus. Ihre Lippen schien ein Lächeln zu zieren, so fein, dass man es nur erahnen konnte.
Ich saß über ihr und verlor mich in ihrem Antlitz. Sie war so wunderschön, selbst in ihrem Tod noch. Ich musste lächeln, als mir unser letztes Zusammensein wieder in den Sinn kam; als sie durch die Tür gegangen war, um ihre Heimat zu verteidigen, aber nicht, ohne mir vorher noch einen letzten Kuss zu geben.
Ich beugte mich zu ihr hinunter, und meine Lippen berührten flüchtig – ganz genauso wie damals – die ihren. All mein Glück, meine Hoffnung, meine Zuversicht, alles Gute schien in dieser einen, kleinen Berührung zu liegen.
Dann fiel mir die Kette auf, die sie um den Hals trug. Sie war aus einfachem Silber, das bereits angelaufen war und früher einmal in der Sonne geglitzert hatte, jetzt jedoch ebenso wie meine Liebe verblüht war.
Vorsichtig zog ich sie unter ihrem Mieder hervor. Ein ebenso schlichter Goldring hing daran. Es war einer von zweien, unser Verlobungsring. Keine Gravuren zierten ihn, keine Schriftzeichen bekundeten unsere gegenseitige Liebe auf seiner Innenseite. Er war genauso wie sie gewesen: ein stummes Zeugnis unserer Verbundenheit.
Vorsichtig löste ich die Kette von ihrem Hals und ließ den Ring dann für einige Sekunden vor meinem Gesicht baumeln. Ich erkannte ihn glasklar. All meine Trunkenheit schien mit einem Schlag verflogen zu sein, mein Geist so klar wie das Wasser eines Bergsees.
Ich verstand jetzt, dass mich nichts mehr an meine frühere Welt band. Sie war dahingeschieden, ebenso wie das arme Mädchen direkt unter mir. Allein der Ring war das Zeichen einer einst besseren Zeit.
Die neue Welt, in der ich mich befand, hatte keinen Platz für Schwäche, keinen Platz für Mitleid. Beides führte zum Tod. Beides führte dazu, ausgenutzt zu werden und nicht sein Selbst zu sein.
Ich hätte mich hier, auf der Stelle, umbringen können. Nicht einmal mein Dämon hätte mich daran hindern können, dessen war ich in diesem Moment sicher. Doch ich war kein Untoter; ich war etwas anderes, etwas Besonderes. Und meine Liebe, die bleich und wunderschön unter mir lag, hätte es nicht gewollt, dass ich mich meiner Trauer einfach hingegeben hätte.
Ich strich ihr ein letztes Mal über die Wangen, bevor ich, stumme Tränen vergießend, aus dem Loch heraus krabbelte und es wieder mit der Erde befüllte, die ich zur Seite geworfen hatte.
Gerade, als sich ein neuer Morgen anbahnte, hatte ich meine Arbeit getan. Letzte, pechschwarze Tränen fielen auf die frisch aufgeworfene Erde, während ich den Ring fest in meiner Hand hielt. Das Bäumchen, das so einsame Wacht über das Grab hielt, schien sich fast zu strecken, als die ersten Sonnenstrahlen über den Himmel tanzten und den Garten erreichten.
Schweigend drehte ich mich um und machte mich auf den Weg zurück nach Undercity.
 
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