@Delphin87: Werde Dir gerne noch ausführlich auf Dein Statement antworten, habe nur gerade die Zeit nicht mehr. Daher erstmal nur kurz...
Da ich, wie gesagt, beide Seiten irgendwo verstehen kann, schwanke ich zwischen völliger Zustimmung und totaler Ablehnung.
- Eltern: Du sprichst einen extrem wichtigen Punkt an. Die Eltern sind die ersten Bezugspersonen eines Kindes, und wenn sie es richtig machen, bringen sie einem Kind bei, welche Gefahren es im Leben erwarten, geben ihm das Wissen an die Hand, sie zu vermeiden und zeigen ihm Wege auf, wie es sich trotzdem frei entfalten kann. Ohne Moralisieren, ohne Zwang. Das Kind muss begreifen, dass die Eltern gute Gründe haben, ihm bestimmte Grenzen aufzuzeigen. Wenn es diese Gründe begreift, wird es danach handeln, ansonsten wird es irgendwann gegen die vermeintliche Willkür aufbegehren.
Kinder, denen die Eltern kein Vorbild sind, folgen anderen Vorbildern, richtigen und falschen. Wenn die Eltern kein Vorbild sind, muss sich das Kind selber orientieren. Das Problem ist: Die Welt ist voller richtiger und voller falscher Vorbilder. Nicht bei rot über die Ampel gehen bewirkt in diesem Fall - exakt - gar nichts. Weil das Kind, das beobachtet, dass jemand vor einer roten Ampel stehenbleibt, für diese Verhalten ebensowenig eine Begründung erhält wie dafür, dass andere es nicht tun. Das ist bestenfalls Nachahmung, aber keine Verinnerlichung von Prinzipien. Gegebenenfalls kann eine konkrete Gefahrensituation sogar lehrreicher sein, weil das Kind dann begreift, dass es vorsichtiger sein muss. Hier ist die Gesellschaft bei weitem mehr gefordert, wenn sie bestimmte Verhaltensweisen fördern und andere unterbinden will.
- Das Thema Moral bügle ich mit einem Satz ab: Wer Dir sagt, Du musst moralisch handeln, will Dich manipulieren. Bei dem ganzen Themenkomplex um Moral und Predigten geht es nur um eines: Menschen versuchen, Macht über andere Menschen auszuüben. Sie versuchen, anderen ihre Meinung aufzudrängen. Es geht nicht um richtig oder Falsch, sondern ums Recht behalten. Gerade Prediger bemühen allzu gerne Halb- und Unwahrheiten, um ihre Ansichten durchzusetzen.
Der Weg zu "richtig" oder "falsch" ist ein ganz anderer.
1. Schritt: Wissen erzeugen. Ein Kind beispielsweise muss wissen, dass es im Straßenverkehr verunglücken kann, in welchen Situationen dies geschieht und wie es diese Situationen vermeiden kann. Dies ist es, was die Eltern dem Kind beibringen müssen.
2. Schritt: Nachdenken. Das Kind muss angehalten werden, sich selber Gedanken zu dem Thema zu machen. "Was kann passieren, wenn Du bei Rot über die Ampel gehst?" "Das Auto kann mich totfahren." "Möchtest Du, dass es Dich totfährt?" "Nein." "Was tust Du also?" "Ich gehe nicht bei rot über die Ampel."
Eine Entscheidung muss auf einer Wissensbasis beruhen, empirischen Beobachtungen standhalten, logisch nachvollziehbar sein. Moral hingegen tut genau das Gegenteil. Logische Begründungen und empirische Beobachtungen werden durch Manipulation und Indoktrination ersetzt. Das Kind tut etwas, weil man ihm keine andere Wahl lässt, weil man ihm die Möglichkeit nimmt, Alternativen in Erwägung zu ziehen. Das Kind wird zum Befehlsempfänger erzogen, nur mit dem Ziel, im Sinne der Gesellschaft zu funktionieren. Mit Freiheit und Selbstbestimmung hat das nichts mehr zu tun.
3. Schritt: Eigenes Forschen. Das Kind muss angehalten werden, künftig seine eigene Wissensbasis zu erschaffen, zu fragen, nachzuforschen. "Kann mir der Zug auch gefährlich werden?" "Sicher doch." "Ich sollte also nicht auf den Schienen stehen?" "Du könntest dann jedenfalls totgefahren werden." "Na, dann stelle ich mich eben nicht darauf."
4. Schritt: Selbstständigkeit. Dazu muss das Kind die Regeln der Gesellschaft kennen. Und gelernt haben, sie kritisch zu hinterfragen. Das Kind weiß, dass es risikoreich ist, bei rot über die Ampel gehen. Das Kind hat aber gelernt, Risiken einzuschätzen. Nun kann es entscheiden, ob es trotzdem geht oder nicht. Indem es sich Gedanken über die Risiken macht. Volle Straße, schnelles Auto? Gut, dann nicht. Nachts um drei Uhr, alles leer, nichts zu hören? Rüber mit mir. Das ist freie Entscheidung, frei von jeder moralischen Erwägung, frei von Prinzipienreiterei. Die aber trotzdem meist zu klaren, logischen und nachvollziehbaren Entscheidungen führt. Mit Anarchie hat das nichts zu tun. Mit größtmöglicher persönlicher Freiheit in Korrelation mit sinnvollem Verhalten aber schon.