@Wuzilla: Ich finde in Deinem letzten Statement keinen einzigen Satz, dem ich widersprechen werde. Dies um so mehr, als ich viele Deiner Argumente in meinen eigenen Posts auch schon verwendet habe. Vielleicht sollte ich meine Haltung einfach noch einmal zusammenfassen.
- Grundsätzlich bin ich mit denen, die der Ansicht sind, dass Kinder ein schützenswertes Gut sind, völlig einer Meinung.
- Wenn jemand eine rote Ampel überquert, handelt es sich dabei ganz gewiss nicht um "richtiges" Verhalten - soweit man Handlungen überhaupt in Kategorien wie richtig oder falsch einordnen kann. Jeder sollte sich darüber im Klaren sein, dass er sich selbst und andere in Gefahr bringen kann (ich sage absichtlich nicht: in Gefahr bringt). Und ich denke mal, dass die allermeisten Menschen dies auch wissen.
- Es sollte sich auch jeder klar darüber sein, dass ein Unfall, bei dem ein Kind zu Schaden kommt, in jedem Fall auf den Verursacher zurückfällt, sei das nun der Autofahrer, der das Kind überfährt, oder das "falsche Vorbild", das bei Rot die Ampel überquert hat.
- Auch, wenn ein Mensch all dies weiß: Der menschliche Geist ist nicht dafür geschaffen, sich in jeder Situation "richtig" zu verhalten. Geduld ist etwas, das man trainieren muss, man vergleiche die unzähligen Abhandlungen, die beispielsweise in den östlichen Weisheitslehren zu allein diesem Thema verfasst worden sind. Dies um so mehr in einer Gesellschaft, die auf Zeitersparnis und Leistung gedrillt ist.
- Hier kommt dann die Frage der Prinzipientreue ins Spiel. Prinzipientreue Menschen werden sich auf die Lippe beißen und trotz des natürlichen Impulses der Ungeduld die Straße erst bei Grün überqueren, weniger prinzipientreue Menschen werden ihrem Impuls folgen und die Straße bei Rot überqueren. Menschen sind de facto verschieden.
- Es wird also immer so sein, dass Menschen rote Ampeln überqueren. Die Frage ist nun, wie man damit umgeht.
- Ja, es ist richtig. Kinder, denen ihre Eltern keine ausreichende Orientierung bieten, orientieren sich möglicherweise an falschen Vorbildern und überqueren die Straße dann ebenfalls bei rot.
- In diesem Zusammenhang ist aber zu bedenken: Die allermeisten Kinder bekommen über kurz oder lang mit, dass es gefährlich ist, eine Straße im falschen Augenblick zu überqueren, selbst wenn die Eltern keine begnadeten Pädagogen sind. Ein Kind, das die Straße trotzdem bei Rot überquert, tut dies deshalb in aller Regel nicht aufgrund des schlechten Vorbildes, sondern weil es gelernt hat, dass es Situationen gibt, in denen sein Verhalten mit einem geringeren Risiko behaftet ist, als dies normalerweise der Fall ist. Einem Kind, das tatsächlich nicht begriffen hat, dass das Überqueren einer Straße gefährlich sein kann, hilft auch ein Vorbild nicht weiter, das hübsch brav an der roten Ampel stehen bleibt. Da es die grundlegende Regel nicht begriffen hat, wird es sich über kurz oder lang mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch ohne falsches Vorbild in Gefahr begeben. Und da kann eine konkrete Gefahrensituation sogar lehrreich sein, weil es auf diese Weise möglicherweise begreift, warum es vorsichtiger sein muss. Bei Kindern, die eine dermaßen einfach Regelung wie "die Straße bei rot zu überqueren ist gefährlich" nicht verinnerlicht haben, ist mehr an Erziehung vonnöten als nur "gute Vorbilder". Deshalb führt beispielsweise die Polizei Verkehrserziehungsunterricht durch. Eine sehr sinnvolle Sache.
- Ohnehin werden sich Kinder nur an solche Regeln halten, die ihnen mit nachvollziehbaren Argumenten nahe gebracht worden sind. Wenn sie aber genau wissen, warum sie handeln, werden sie sich auch durch falsche Vorbilder nicht von ihrem Weg abbringen lassen.
- Aus diesem Grund ist es überhaupt nicht nötig, in Aufregung und Panik zu verfallen. Die Gefahr, dass ein Kind tatsächlich von falschen Vorbildern in den Tod getrieben wird, ist in diesem Fall nicht besonders hoch. Vorausgesetzt, jemand bringt den Kindern bei, die Gefahren richtig einzuschätzen, die Regeln zu verinnerlichen und sich nicht von falschen Vorbildern davon abbringen zu lassen. Wenn die Eltern dies nicht tun, müssen andere gesellschaftliche Instanzen einspringen. Aber es gibt keinen Weg, diesen Schritt zu umgehen, auch nicht, "gutes Vorbild" zu sein.
- Kinder müssen nicht verhätschelt und in Watte gepackt werden. Je mehr Verantwortung man ihnen zutraut, um so mehr davon werden sie wie selbstverständlich tragen. Wir haben als Kinder auch Menschen gesehen, die rote Ampeln überqueren, und sind trotzdem nicht blindlings vor jedes Auto gerannt.
- Aufregung, Ärger, Wut und Hass sind deshalb völlig unangebracht. Man weiß, dass es Menschen gibt, die sich anders verhalten, als man selber das möchte, und kann sich entsprechend darauf einrichten. Wenn es die Eltern nicht können, dann vielleicht die Schule oder die Polizei.
- Missionierungsverhalten ist zum Scheitern verurteilt, weil es nie gelingen wird, die ganze Welt zu bekehren. Besser ist es, die Kinder gegen falsche Vorbilder zu wappnen - das hilft ihnen dann auch gegen die zahlreichen anderen Gefahren der Welt.
- Wenn es trotzdem gelingt, einen "Verkehrssünder" von seinem Tun abzubringen, mag dies auch helfen, Leben zu retten.
- Nur wird hier so gerne vergessen, dass aufgeregtes Weltverbesserertum nur Abwehrreaktionen erzeugt. Wenn man freundlich über die Sache spricht und mit Argumenten zu überzeugen versucht, wird man womöglich Erfolge erzielen. Diejenigen, die einen "Rotlichtverstoßenden" auf der Straße anpöblen und ihm ein schlechtes Gewissen einzureden versuchen, werden hingegen scheitern. Weil man sie - zurecht - als Klugscheißer und Rechthaber wahrnimmt, die andere in ihrer persönlichen Freiheit beschneiden wollen.
- Mein Ideal ist in jedem Fall der Mensch, der a. die Regeln kennt, b. sie kritisch bewertet kann und c. seine eigenen Entscheidungen trifft, ob er die Regel befolgt oder nicht. Ein solcher Mensch wird die Regel anwenden, wenn sie sinnvoll ist, wird sie verwerfen, wenn sie zu fehlerhaften Ergebnissen führt, und wird sich vor jeglicher Form von Fanatismus, geboren aus bloßer Prinzipientreue fernhalten, wenn er es mit Verstößen gegen die Regel zu tun hat. Auf diese Weise schafft man eine Balance aus individueller Freiheit und Sozialverhalten, die sich auf alle Bereiche des Lebens übertragen lässt.