Als ich aufblickte, traute ich meinen Augen kaum: ein riesiges Loch klaffte in der steinernen Wand und gab den Blick auf den atemberaubenden Himmel frei. Die Schwärze des Firmaments wurde von zahllosen Sternen erhellt, die allesamt so hell schienen, als wollten sie die gesamte Welt in Licht tauchen. Im Grunde genommen war es ein unnötiges Unterfangen, erleuchtete doch der volle Mond bereits alle Wege, die zu der Grotte führten.
Der Drache hielt noch immer unbeirrt auf das riesige Loch zu. Ich hätte schwören können, dass sich sein spitzes Maul zu einem grauenvollen Lächeln verzog, während er über die Zwerge hinweg trampelte und sich bereits in Sicherheit wähnte.
Bis ich plötzlich bemerkte, wie das kleine Volk aufhörte, davon zu rennen, und stattdessen einige eilig Rufe ausstießen.
Einen Moment später hörte ich nur noch das Knallen von Kanonen. Mit vor Entsetzen steifer Miene beobachtete ich, wie ein gewaltiges Netz vom Eingang aus auf uns zugeflogen kam. Das geschuppte Tier schien ebenfalls die Gefahr zu erkennen, denn seine Schritte verlangsamten sich abrupt und es versuchte, wieder nach hinten zu weichen. Augenblicklich wirbelte ich auf seinem dicken Rücken herum und versuchte, den Schwanz des Wesens wieder hinunter zu klettern, immer auf die Falle achtend. Doch als sich der Drache immerhin schon halb umgewendet hatte, wurde mir klar, dass ich es niemals rechtzeitig schaffen würde. Das vermaledeite Netz war nur noch wenige Schritte entfernt und kam mit solch einer Geschwindigkeit auf uns zugeschossen, dass das Schuppentier nicht die geringste Chance hatte, um ihm zu entkommen –
Das gelbe Auge des Drachen, der mich plötzlich erblickte hatte, starrte in die meinen.
Verdammt...
Bevor ich noch recht verstand, was gerade geschah, hatte mich der Schwanz schon schwungvoll abgeworfen. Ich flog ein gutes Stück durch die Luft, zu entsetzt, um darauf aufmerksam zu werden, dass ich dem Ausgang immer näher kam, und zu überrascht, um aufzuschreien. Doch als ich hart auf dem Rücken landete und mir all meine Luft aus dem Körper gepresst wurde, entwich immerhin ein leises Stöhnen meinem Mund. Für mehr fehlte mir schlicht der Atem.
Das markerschütternde Brüllen des Drachen ertönte in meinen Ohren, als das Netz seinen Körper traf und ihn unbarmherzig umschlang. Dagegen ankämpfend, versuchte das riesige Geschöpf, noch einige Schritte zu vollführen, doch nur einen Moment später verhedderte es sich mit einer der Pranken und fiel zu Boden. Der Aufprall lies ein weiteres Mal die Erde unter mir erzittern, doch ich achtete nicht darauf, sondern versuchte angestrengt, mich wieder aufzurappeln. Auch wenn mein gesamter Körper schmerzte, zwang ich mich, nicht noch einen Moment länger hier zu verweilen, sondern auf das Loch zu zu schleichen. Noch hatte mich niemand bemerkt – oder sich zumindest nicht um mich gekümmert. Die meisten der Zwerge strömten auf das geschuppte Tier zu, welches noch immer hilflos am Boden lag, und fingen grölend und jubelnd an, bereitgestellte Keile in das ohnehin schon durch dicke Eisenteile beschwerte Netz zu hauen, um vollends zu verhindern, dass sich der Drache noch einmal befreien können würde.
Ein helles Licht holte mich ein, und überrascht wandte ich mich um. Das Netz, eben noch komplett ausgefüllt und prall, schrumpfte und fiel in sich zusammen. Die kleinen Männer und Frauen staunten nicht schlecht, als sie die Verwandlung des Drachen beobachteten. Ich konnte den alten Mann, der nun dort liegen musste, zwischen den vielen Leibern nicht erkennen, doch eines war sicher: nur, weil er nun eine menschliche Gestalt angenommen hatte, würde ihm nicht eben mehr Sympathie entgegenschlagen als vorher. Den Gedanken, ihn zu befreien, verwarf ich augenblicklich wieder – ich konnte gegen eine ganze Armee nichts unternehmen, was ihm geholfen hätte. Mir blieb nichts anderes übrig, als meine eigene Haut zu retten.
Mit einem letzten, traurigen Blick in Richtung der versammelten Menge schlich ich wieder dem Höhlenausgang entgegen. Wie in Trance setzte ich einen Fuß neben den anderen, immer auf den steinernen Untergrund gepresst, im größten Schatten, der sich mir bot. Nun, da niemand mehr kämpfen musste, wollte ich mich besser nicht mehr aufrichten. Stattdessen kroch ich über den dreckigen und staubigen Boden wie eine Made, die sich auf der Flucht vor einem Menschen befand, der sie gerade in seinem Speck gefunden hatte. Kleinere Steine kamen Zoll für Zoll näher, bis ich sie hinter mich ließ und langsamer als ein sterbender Gaul weiter robbte.
Bald konnte ich mein Glück kaum fassen: noch immer hatte mich niemand bemerkt, und die frische Luft war nur noch einige wenige Schritte entfernt. Es würde nur noch wenige Lidschläge benötigen, bis ich sie erreicht hatte, bis ich endlich in Sicherheit war, endlich aus diesem Albtraum entkommen –
»Fasthand!«
Ohne auch nur einen Augenblick lang zu überlegen, sprang ich auf und rannte los. Mein Herz hatte inzwischen seinen angestammten Platz wieder gefunden, doch dort lange zu verweilen, kam ihm nicht in den Sinn: es hämmerte gegen meine Brust, als wollte es daraus hervor platzen und erneut das Weite suchen. Schmerzen zuckten durch meine Beine, Arme und den Rücken, von dem ich annahm, dass er schwerer verletzt war, als ich gedacht hatte. Zumindest wollte das äußerst starke und schmerzbereitende Pochen auf meinem linken Schulterblatt nicht mehr aufhören, und dies bereitete mir genügend Grund zur Sorge. Meine Lungen begannen mit einem Mal zu brennen, als hätten sie schon zu lange nicht mehr Luft geholt und müssten dies erst wieder erlernen. Jeder Schritt schien ein enormer Kraftakt zu sein und verlangte mir ungeheure Mühe ab.
Ich wollte keinen Blick über meine Schulter werfen, aus Angst davor, was mich erwarten würde. Meine Panik wurde ohnehin schon von den eiligen Schritten genährt, die sich an meine Fersen geheftet hatten. Doch noch glaubte ich an meine Flucht, noch glaubte ich daran, eine Chance zu haben. Und tatsächlich, ich erreichte unbehelligt den Ausgang, sah man von dem leisen Keuchen in meinem Rücken ab.
Der Untergrund änderte sich sofort: wo vorher noch harter Stein verweilte, war er nun von weißem Schnee bedeckt und nicht mehr zu erkennen. Hastig rannte ich noch ein paar Schritte weiter, bevor ich mich endlich traute, kurz in meinen Rücken zu schauen.
Ich erkannte gerade noch, wie die Hand meine Schulter packte, dann wurde ich beinahe von den Füßen gerissen. Sogleich packte ich meinerseits den Arm meines Kontrahenten und versuchte, ihn nach unten zu drücken, während ich die andere Hand benutzte, um ihm in den Bauch zu boxen. Nach den ersten drei Treffern kamen vier Gegenschläge, die zwar nicht alle saßen, jedoch genügend Schmerzen bereiteten, dass ich mir seine Faust schnappte und diese zu bändigen versuchte. Grunzend und mit vor Anstrengung verzerrten Gesicht, blickte ich in die Miene meines Verfolgers.
Es handelte sich tatsächlich um den Bibliothekar, der mich seinerseits mit wütenden Augen und zusammengebissenen Zähnen betrachtete. Keiner von uns beiden schaffte es gerade, die Oberhand zu gewinnen, was vor allem an meinem lädierten Zustand lag. Der Jüngling brachte es sogar zustande, mich ein oder zwei Fuß nach hinten zu drängen. Ich riskierte einen hastigen Blick in meinen Rücken – und erschrak nicht schlecht, als ich den Abgrund hinter mir erkannte. Der Drachenhort befand sich scheinbar hoch in den Bergen, denn hinter mir erstreckte sich ein weites Tal, das ich gleich darauf als Dun Morogh identifizierte. Kharanos war selbst noch in weiter Entfernung gut zu erkennen, und auch die kleinen Dörfer stachen hell erleuchtet aus der Finsternis heraus.
Gerade wollte ich mich erneut meinem Verfolger zuwenden, als dieser plötzlich aufkeuchte. Seine Augen weiteten sich, während sein gesamter Körper langsam erschlaffte und gegen mich sank. Verdutzt fing ich ihn auf und entdeckte einen Moment später den Pfeil, der in seinem Rücken steckte, ungefähr dort, wo sich seine Lunge befinden musste.
All meine Angst, die Panik, das Entsetzen verschwanden mit einem Schlag. Als ich aufblickte und nicht weit entfernt die Elfe stehen sah, die bereits einen zweiten Pfeil auf ihren Bogen gelegt und mich anvisiert hatte, verschlang Feuer meine Eingeweiden und höhlte mich geradezu aus. Mein Herz, eben noch auf der Flucht, raste nun vor Zorn und wünschte sich nichts sehnlicher, als auf die Frau losgehen zu können.
Das leise Stöhnen und pfeifende Schnaufen des Sterbenden in meinem Arm drang an mein Ohr und vertrieb alle anderen Geräusche. Die Lippen des Bücherwurms bewegten sich langsam, als er flüsterte: »Wer... war das?«
Meine Hand verkrampfte sich in der Stoffkleidung des Jungen, als meine Zähne aufeinander mahlten und ich es nur knapp fertig brachte, nicht zu weinen.
»Silverarrow.«
Das Keuchen setzte kurz aus, bevor ein langgezogenes Stöhnen vom Tod des jungen Menschen zeugte. Eine einzelne Träne rann noch aus meinem Augenwinkel, während ein Sirren, so dünn, dass es beinahe vom Wind übertönt wurde, sich mir näherte.
Der Blick, den ich der Elfe zuwarf, war voller Hass und Zorn und bohrte sich dermaßen in ihre Augen, dass ihr gesamter Körper zusammen zuckte und sie die ihren niederzuschlagen versuchte.
Dann spürte ich nur noch den Aufprall des Pfeils, der mich einen Schritt zurück taumeln ließ. Einen Moment später fiel ich der Klippe hinab. Der beinahe schwarze Stein, der im hellen Mondlicht schimmerte, raste an mich vorbei. Das Pfeifen des Windes tönte von meinem baldigen Untergang, was auch die Wunde bestätigte, aus der mein Blut floss und von der aus Wellen der Schmerzen drangen. Mein Herz schien die Frau knapp verfehlt zu haben, denn noch immer schlug es rasend vor Wut gegen die Rippen.
Entschuldige, dass ich sterbe... Ich hätte gerne für dich Rache genommen. Mit einer letzten Träne, die vom Wind die Wange hinauf getrieben wurde, entließ ich den Leichnam des Bibliothekars und schickte ihn auf seine eigene Reise ins Tal.
Der Beschluss kam ein wenig spät, als ich bemerkte, wie nahe der Boden schon war.
Ich atmete tief ein, sog die klirrend kalte Luft in mich, roch den frischen Schnee, den schwachen Geruch des Steins und der feuchter Erde, den Duft von Nadelbäumen, die ich auf meinem Weg nach unten immer wieder antraf. Ich spürte keinerlei Schmerz, als befände sich mein Körper im absoluten Einklang mit dem Geist, und nichts und niemand könnte mich noch jemals verletzen.
Ich hatte keine Angst.
Nur Wut.
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Epilog
Der Lärm der Stadt war selbst zu dieser frühen Stunde schon ohrenbetäubend. Und dennoch wirkte er nicht unangenehm, zeugte er doch immerhin von Zivilisation und Menschen, die etwas vom Genuss des Lebens verstanden und vor allem nicht dermaßen stanken wie die kleinen Zwerge, die immerzu nur ans Saufen und Fressen dachten.
Quietschvergnügt schritt Atunâ den Markt auf und ab, während sie immer wieder an dem einen oder anderen Stand Halt machte, um sich die angepriesene Ware anzuschauen. Bei dem Obsthändler kaufte sie sich einen frischen Apfel und biss genüsslich in ihn hinein, während sie weiter ging. Ihre Lederrüstung hatte sie inzwischen für ein einfaches, körperbetontes Kleid eingetauscht, das von einem dünnen Gürtel gehalten wurde, in dem ihr wertvolles Kurzschwert steckte. Auf der anderen Seite hing ein praller Geldbeutel, gefüllt mit Silber und sogar einigen Goldstücken. Wenigstens eines musste man dem kleinen Volk lassen: sie hielten ihre Versprechungen und waren gar nicht so geizig, wie man gerne behauptete. Dass man den Drachen hatte gefangen nehmen können, war nicht zuletzt Atunâs Verdienst gewesen – und man hatte sie dafür fürstlich belohnt.
Auch in Stormwind hatte man sie mit einem gewissen Maß an Begeisterung empfangen. Hier hatte sie das Kopfgeld für Drênak Fasthand eingestrichen: das Schwert war als Beweis für sein Ableben gewertet worden, und so hatte die Elfe eine nicht eben unerhebliche Summe zu der ohnehin schon erklecklichen Geldkatze hinzufügen können.
Gedankenverloren strich sich die Frau durch das lange, silberne Haar, das offen hinter ihren spitzen Ohren hing und dort sanft auf und ab wippte, was nicht wenige Männer dazu bewegte, ihr mit großen Augen und noch größeren Mündern nachzustarren. Atunâ fand es immer wieder belustigend, diese Menschen zu verführen – zumal ihr das nicht eben schwer fiel. Doch selbst die Frauen betrachteten sie mit bewundernden Blicken, wenn sie vorbeikam.
»Heda! Lady Silverarrow!«
Erfreut erblickte die Elfe den ergrauten Kommandanten der Stadtwache, der in voller Rüstung nicht weit entfernt stand und ihr lächelnd zuwinkte. Kaum dass sie bei ihm angekommen war, nahm seine Miene geradezu schelmische Ausmaße an. »Nun, wie bekommt Euch Euer neuer Reichtum? Ihr habt ja viel geleistet, sowohl für die Zwerge als auch für die Menschen. Beinahe jeder kennt Euch schon, Ihr seid über Nacht zu einem Helden geworden!«
Atunâ setzte ein schüchternes Lächeln auf, als sie antwortete: »Ich bitte Euch, ich habe nur meine Pflicht getan, Sir Lightbringer.«
»Und das verdammt gut. Schade nur um den guten Bookworm... ohne seine selbstlose Tat hättet Ihr den Dieb kaum erwischt und getötet.«
Die Frau nickte zustimmend, jedoch mit einer traurigen Miene. »Wohl wahr. Er opferte sich selbst für das Wohl aller und verfolgte Fasthand selbst dann noch, als ich ihn schon mit meinem Pfeil getroffen hatte, um ihn lebendig zu erwischen... Doch er wurde von ihm mit in den Abgrund gerissen.
Er ist der wahre Held.«
»Und wir werden an ihn denken. Dennoch ist er kein Grund, Euren eigenen Ruhm zu schmälern.« Der alte Paladin bot ihr grinsend seinen Arm an, und die Elfe hackte sich ein. »Wisst Ihr, meine Liebe, Ihr habt wahrhaft Großes geleistet. Einen Drachen spürt man nicht alle Tage auf – und erst recht nicht, wenn er einem gesuchten Verbrecher Unterschlupf leistet. Doch sagt mir«, seine Miene wurde wieder ernster, als der alte Mann seine Begleiterin ansah, »wisst Ihr zufällig,
warum Fasthand von einem Drachen geschützt wurde? Es muss doch einen Grund dafür geben!«
»Es... tut mir leid, aber ich weiß es selbst nicht.« Hilflos zuckte die Frau mit den Achseln, als sie sich wieder aus der Verankerung löste und mit einem entschuldigenden Lächeln hinzufügte: »Ich muss nun los, werter Sir Lightbringer. Ich habe heute noch viel zu tun.«
»Wie zum Beispiel Euren Reichtum genießen?« Mit einem frechen Zwinkern hob der Paladin seine Hand zum Gruß. »Mögen Euch die Götter stets wohlgesonnen sein, Lady Silverarrow. Und das werden sie bestimmt, bei dem, was Ihr geleistet habt.«
»Habt Dank.« Mit einem gehauchten Kuss wandte sich die Elfe um und ging gemächlich in die entgegengesetzte Richtung des Kommandanten, während ihre Hand auf dem Knauf des Kurzschwertes ruhte.
»Wisst Ihr zufällig, warum Fasthand von einem Drachen geschützt wurde? Es muss doch einen Grund dafür geben!«
»Natürlich gab es einen Grund.« Die zu sich selbst gewisperten Worte entlockten Atunâ ein breites Lächeln, während sie ihre Hand wieder von der Waffe entfernte.
Ich muss nur noch herausfinden, welchen.
Tief in ihren Gedanken versunken, drängelte sie sich durch die Masse von Menschen, die allesamt ihrem Tagwerk nachgingen, und war gleich darauf zwischen ihnen verschwunden.
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Vielen Dank an all die Leser, die mir sagenhafte 5600 Klicks und mehr eingebracht haben, und natürlich an all die Leute, die mich immer unterstützt und mir mit Kritiken, welcher Art auch immer, geholfen haben. Es sei noch angemerkt, dass dies die erste 'wahre' Fantasygeschichte ist, die ich vollendet habe ("Ein Leben" ist wohl mehr ein Theaterstück denn eine Geschichte), und ich bin mir nicht sicher, ob ich das ohne Euch geschafft hätte.
Denkt daran: einer Elfe das Schwert zu klauen, kann sehr schnell tödlich enden. Elfen sind bei weitem nicht so süß und nett, wie sie gerne dargestellt werden. Ich hoffe, diese meine Sichtweise wurde vor allem im letzten Kapitel deutlich.
Möge Euch das Leben besser gesonnen sein als Drênak Fasthand und Georg Bookworm, die beide keine Helden sein wollten und dennoch traurige Berühmtheit erlangten. Der eine durch seine Taten, der andere durch seinen Tod.
Greets