Aktuelle Situation in Fußballdeutschland
STOP! SO kann es nicht weitergehen! Diese einleitenden Worte eines Artikels in der BILDZeitung
passen wie die Faust auf's Auge (oh, sorry, viel zu gewalttätig) zur aktuellen
Diskussion rund um Gewalt und sonstigen Handlungen rund um Fußballspiele. Denn SO, wie
spätestens seit dem Relegationsspiel zwischen Fortuna Düsseldorf und Hertha BSC in nahezu
allen Medien berichtet wird, geht es wirklich nicht weiter. Halb- und Unwahrheiten,
Übertreibungen, Populismus, Lügen und Hysterie, wohin man nur schaut. BILD, Spiegel, FR,
kicker, ARD, ZDF - die Liste ließe sich endlos fortführen. Und letztendlich geben all diese
Blätter und Sender ja auch nur eine generell vorherrschende Stimmungslage wieder, die durch
„bumsdumme" Äußerungen von Politikern, Funktionären, Spielern und so genannten
Moderatoren noch bestärkt wird. Eine unheilige Allianz...
Doch schauen wir mal genauer hin, worum es überhaupt geht. Was hat - diesen Eindruck kann
man problemlos bekommen - Deutschland an den Rande des Abgrunds gebracht? Es waren
sicher mehrere „Vorfälle", das Fass zum überlaufen gebracht hat dann aber besagte Partie in
Düsseldorf. Frustrierte Hertha-Fans wollten sich nicht mit dem drohenden Abstieg abfinden
und das Spiel abbrechen. Über die Art und Weise kann man streiten, wirklich viel passiert ist
aber selbst da nichts. Und dann feiern tausende Fußballfans - Männer, Frauen und Kinder -
die Rückkehr ihres Vereins in die Bundesliga nach 15 langen Jahren, interpretieren einen Pfiff
des Schiedsrichters falsch, rennen freudetrunken und friedlich auf das Spielfeld und nach ein
paar Minuten wieder runter. Und was passiert? Der Fernsehkommentator weiß gar nicht
wohin mit seiner Empörung, Fanforscher Johannes B. Kerner verwechselt die Fußball- mit
seiner Kocharena und faselt von Roter Grütze, Scholl erweist sich als Experte für soziale
Netzwerke und weiß von Absprachen der Hooligans in Sachen Pyro zu berichten, der Hertha-
Anwalt spricht am nächsten Tag von „Spielern mit Todesangst", die Medien reden vom
„Mega-Skandal", vom „Chaos-Spiel", im Spiegel fällt das Wort „Blutbad". Und wer dann
dachte, damit wäre der Höhepunkt erreicht, wurde in den folgenden Tagen eines besseren
belehrt.
Die Frankfurter Rundschau zauberte einen Kommentar aus dem Hut, in dem von der
Notwendigkeit der Sicherheitskräfte gesprochen wird, da sich sonst die gegnerischen Fans an
die Gurgel gehen würden. So geschehen in Karlsruhe, in Düsseldorf - und in Ägypten. Dass
die Vorkommnisse in Port Said mit 74 Toten ganz andere Hintergründe - Rache an den Ultras
von Ah-Ahly, da diese während der Revolution an vorderster Front kämpften - hatten und
nicht annähernd in eine Reihe mit den Vorkommnissen rund um die Relegationsspiele gesetzt
werden dürfen - geschenkt. Der Chefredakteur des kicker haute einen Kommentar raus, der ja
sogar im Eintracht-Forum schon genüsslich und zu genüge zerpflückt wurde. Da ging es um
„Zustände wie im Bürgerkrieg", die Wiedereinführung von Sippenhaft, um „Blöcke, in denen
Hooligans unter Applaus ihre Straftaten planen", undsoweiter. Wie bereits erwähnt, gelungene
Repliken finden sich im Eintracht-Forum. In der BILD stellte Kommentator Alfred Draxler
einen Katalog an Forderungen auf. Dieser enthielt die Abschaffung von Stehplätzen, den
Einsatz noch modernerer Kameratechnik, die Personalisierung von Eintrittskarten und - man
höre und staune - „Stadionverbot für überführte Täter". Mensch, dass da noch keiner drauf
gekommen ist. Und Herr Draxler hat auch sofort den Grund für die Dringlichkeit seiner
Forderungen parat. Schließlich „sollten [bei uns] nicht erst Menschen sterben, ehe
durchgegriffen wird..." Passt ja zu der Todesangst, die die Hertha-Spieler hatten, als kleine
Fortuna-Fans mit ihrer Mama auf dem Rasen herumgeturnt sind.
Doch auch das Fernsehen widmete sich dem Thema der angeblich immer stärker werdenden
Fan-Gewalt. Bei frontal21, einem ansonsten sehr kritisch berichtenden Magazin auf ZDF,
kam unkommentiert ein Vertreter einer Polizeigewerkschaft zu Wort, der „gesicherte
Erkenntnisse" darüber hatte, dass diverse Profivereine ihren Ultras unter der Woche Zugang
zu den Stadien verschaffen, damit diese dort Pyro-Depots anlegen können, aus denen sich
dann regelmäßig bedient werde. Eine feine Beobachtungsgabe hat der Mann. Sieht man ja an
den beinahe wöchentlichen Pyro-Exzessen in den Heimkurven. Auch die großen Polit-
Talkshows beschäftigten sich nun lieber mit dem Thema der Fußballgewalt, als ja nun
wahrlich dringlichstes Problem der heutigen Zeit, und die Creme de la Creme der
ausgemachten Fanexperten von Bernd Stelter bis Marjike Amado durfte ihren Rüssel in die
Kamera halten, um in Stammtisch-Manier über Dinge zu sprechen, die sie zumeist allenfalls
aus der Ferne mitbekommen: Bei Sandra Maischberger faselte diese von den Ultras als
„Taliban der Fankurven", was dann sogar einen Herrn Spinner - Präsident beim 1. FC Köln -
erzürnte, und ihr Gast Werner Schneyder schoss den Vogel ab. Sprach er doch allen ernstes
davon, dass er - langjähriger Sportkommentator übrigens - am Vortag zum ersten Mal von so
genannten Choreographien gehört habe. Diese erinnerten ihn an faschistische Rituale und
seien der letzte Schwachsinn. Abgewöhnen sollte man so etwas diesen Leuten. Es gibt so
manche Sachen, die kann man gar nicht kommentieren, weil sie so weltfremd sind.
Schneyders Ausführungen gehören dazu.
Und dann war da ja noch Frank Plasberg mit seiner durch GEZ-Gebühren finanzierten ARDSendung
„Hart aber fair". Die dortigen Protagonisten konnten einem aufgrund ihrer
Dummheit schon fast wieder leid tun, die vorgetragenen Meinungen waren so unfassbar, dass
sie fast schon wieder lustig waren. Oliver Pocher stieg mit dem Statement ein, dass echte Fans
„niemals Pyrotechnik in der Unterhose ins Stadion schmuggeln würden." Abgesehen davon,
dass man sich fragen darf, mit welcher Legitimation ein Oliver Pocher als Experte zum
Thema „Fan-Gewalt" überhaupt eingeladen wird, ist es eine durchaus abenteuerliche
Argumentation, die Kategorisierung als Fan oder Nicht-Fan an einem Schmuggeln von Pyro
festzumachen. Während der Sendung brillierten Pocher und sein Kollege Johannes B. Kerner
dann mit eindringlichen Analysen und purem Insiderwissen. So konnte Kerner von 50
Waldhof-Fans berichten, die Darmstädter angegriffen und sich hinter als unschuldig
bezeichnet hätten. Hätte der gute Mann seinen Beruf - er schimpft sich allen Ernstes
Journalist - ernst genommen, wäre er mit ein wenig Recherche darauf gestoßen, dass der
Großteil der beschuldigten Waldhof-Fans auch tatsächlich unschuldig war. Später setzte er
dem ganzen noch die Krone auf, verwies Polizeigewalt in das Reich der Fabeln, leugnete
jedwede Faszination von Feuerwerk und demonstrierte „eindrucksvoll" die Gefahren von
Pyro. Bekanntlich wird jede Fackel in den Stadien an Kinderkörper gehalten. Aber ist schon
klar, dass Pocher und Kerner wissen, was da abgeht. Immerhin sitzt Pocher im VIP-Bereich,
und Kerner hat als Hertha-Fan ne Dauerkarte beim HSV... Außerdem bleibt zu hoffen, dass
Johannes B. Kerner zum Schutze seiner körperlichen Unversehrtheit die Silvesternächte
regelmäßig im dunklen Keller verbringt. Der gute Mann muss auf offener Straße doch
ansonsten wahre Angstzustände bekommen!
Doch nicht nur die Medien spielen eine fatale Rolle bei der aktuellen Debatte. Auch Politiker
und Polizeifunktionäre überbieten sich mit schwachsinnigen Forderungen. Dass jetzt mehr
Kameras, mehr Verbote und mehr Kontrollen eingesetzt werden sollen, gehört ja schon zu den
Standardreflexen. Höhere Ticket-Preise, Abschaffung von Stehplätzen? Alles schon tausend
Mal gehört, gerade Letzteres sogar schon vom Verband abgelehnt. Besonders perfide
erscheint diese Forderung ja auch immer dann, wenn bestimmte Vorfälle gar nichts mit
Stehplätzen zu tun haben. Man erinnere sich an den Platzsturm der Berliner vor zwei Jahren.
Jeder weiß, dass es im Olympiastadion gar keine Stehplätze gibt. Auch die Fortuna-Fans
kamen aus allen Bereichen des Stadions. Aber zurück zu den Vorschlägen, der eine oder
andere Vertreter hat sich dann doch selbst übertroffen. So fordert der Innenminister von
Nordrhein-Westfalen, Ralf Jäger, dass auf den Eintrittskarten unmissverständlich ein Verbot
von Pyro stehen soll. Was für ein innovativer Vorschlag, vermutlich ein Meilenstein in der
Bekämpfung des Fußballterrorismus hierzulande.
Jägers Kollegen haben sich auf ihrer Innenministerkonferenz mit dem Vorschlag beschäftigt,
das Instrument der elektronischen Fußfesseln gegen auffällige Fußballfans einzusetzen.
Wohlgemerkt, wir reden hier immer noch von einer Debatte, die aufgekommen ist, nachdem
Hertha-Fans in zumindest diskussionswürdiger Art und Weise Pyro gezündet haben und
Fortuna-Fans fröhlich auf den Platz gelaufen sind. Wir reden hier nicht von exzessiven
Gewaltausbrüchen. Und dennoch fordert der Generalbundesanwalt allen Ernstes eine
hochumstrittene Strafmaßnahme, die sonst nur sehr sporadisch und in Ausnahmefällen bei den
gefährlichsten Straftätern eingesetzt wird, und wird in diesem Irrsinn von hochrangigen
Politikern unterstützt. Purer Populismus, da dem Generalbundesanwalt offensichtlich auch
scheinbar völlig entgangen ist, dass die Polizei derzeit schon deutlich mehr Möglichkeiten
hat, als nur das „Aussprechen eines Platzverweises". Bezeichnend, dass solch ein
unreflektierter Vorschlag sogar von einem hochrangigen Vertreter des Staates kommt, und
nicht wie gewohnt nur von Hetzern wie Rainer Wendt.
Den Vogel abgeschossen hat dann Volker Lange, Leiter der Polizeidirektion Köln-West und
dort schon seit Jahren auf einem Kreuzzug gegen die Ultras unterwegs. Er forderte gar
Revolutionäres: „90 Prozent der Angriffe finden in der Gästekurve statt und kommen nur von
zehn bis 15 Mann. Warum sollte man nicht eine Sichtblende erzeugen, die unterm Dach hängt
und bei Fackeln wie ein Vorhang runter gelassen wird?" Man stelle sich das Szenario mal vor:
Im Gästeblock wird gefackelt, und schwupps, kommt der Vorhang runter. So etwas kann man
normalerweise nicht ernst meinen...
Was allen Vorschlägen, Forderungen und Initiativen gemeinsam ist, ist oberflächlich gesehen
der Kampf gegen Gewalt. Betrachtet man die Ideen aber einmal etwas genauer, geht es
letztendlich um zwei elementare Dinge. Zum einen dienen der Fußball und seine nun einmal
lobbylosen Fans als ideales Testfeld für Polizei, Justiz und Politik, um neue Vorgehensweisen
zu testen. Die Kette ist ganz einfach: Beim Fußball passiert etwas, was fürs Business
schädlich ist. Funktionäre und sonstige „Experten" regen sich auf, ein Großteil der Medien
steht attestierend zur Seite. Dem gewöhnlichen RTL-Gucker und BILD-Leser wird eine
Gefahr suggeriert, die er gerne glaubt. Polizei, Verband und Politik warten mit
Lösungsvorschlägen auf, die wiederum über die Medien verbreitet werden. Gegenstimmen
gibt es nicht, da Fußballfans keine Lobby haben. So entsteht ein Klima, in dem mal eben so
offen über Fußfesseln nachgedacht werden kann. Und einmal an Fußballfans ausprobiert,
scheint der Weg bereitet für eine Etablierung. Die Vergangenheit hat es doch gezeigt. Nur ein
Beispiel: Waren es oftmals nur Randgruppen wie eben aktive Fans, die regelmäßig von BFEEinheiten
auf die Fresse bekommen haben, hat es urplötzlich auch den „bürgerlichen
Widerstand" bei den Stuttgart21-Demos getroffen, und zwar mit voller Wucht, mitten ins
Auge. Meldeauflagen, außerhalb der Gerichtsbarkeit erfolgende Stadt- und
Aufenthaltsverbote, Bannmeilen, Kontaktverbote, Suche nach Pyro-Zündlern per
Fahndungsbilder, prügelnde Bullen - Alltag für uns, unvorstellbar für viele andere. Aber am
Ende wird es jeden treffen. Jeden, der kritisch ist und seine Kritik auch öffentlich vorträgt.
Jeden, der nicht ins Bild der Mächtigen passt. Zum anderen geht es noch um etwas ganz
anderes: Die „bösen" Fans oder Ultras sollen von den „guten" Fans oder Ultras separiert
werden. Es wird eine Spaltung angestrebt; diejenigen, die sich konform verhalten, sollen
diejenigen, die aus dem von Verband, Polizei, Vereinen, Medien und Gesellschaft
vorgegebenen Rahmen fallen, verpfeifen, denunzieren, ausliefern. „Gut" gegen „böse", die
„Guten" gewinnen und vertreiben die „Bösen" aus den Stadien. So die Vorstellung dieser
Herrschaften. Was sie dabei übersehen, ist die Tatsache, dass es diese Unterteilung in „gut"
und „böse" schlicht nicht gibt. Ja, es kommt im Rahmen von Fußballspielen zum - verbotenen
- Abbrennen von Pyrotechnik. Ja, es gibt Auseinandersetzungen mit gegnerischen Fans und
der Polizei. Ja, es gibt Randale. Ja, es gibt Fußballfans, die über die Stränge schlagen, die
gegen Gesetze verstoßen und die nach Regeln und Werten leben, die mit den Vorstellungen
der Fußball-Bosse nicht vereinbar sind. Aber genau diese Typen, die es auch mal krachen
lassen, sind dieselben, die in den Stadien für das sorgen, was natürlich niemand verbieten
will, weil der Fußball davon lebt: Choreografien, Fahnen, Support, Stimmung. Die Leute, die
aus der Emotion heraus ein Bengalo zünden oder sich mit anderen anlegen, geben aus der
gleichen Emotion heraus 90 Minuten Vollgas im Stadion und schaffen genau die Atmosphäre,
die den Fußball so einzigartig macht. Wer die vermeintlich schlechten Emotionen raushaben
will, kickt damit automatisch auch die guten, die angenehmen raus. Fußball ist Emotion,
basta! Und Emotionen sind nicht kontrollierbar, nicht rational erklärbar, nicht vernünftig. Sie
geschehen einfach.
Mal in der Form, mal in der. Mal „gut", mal „schlecht". Das soll kein Freibrief für sinnlose
und stumpfe Gewalt sein. Aber jeder, der regelmäßig ins Stadion geht, weiß auch, dass die
Gewalt keinesfalls zugenommen hat; höchstens die von Seiten der Polizei. Gewalt hat es
immer gegeben, man muss sie nicht gutheißen, sollte aber auch nichts dämonisieren, wo es
nichts zu dämonisieren gibt. Verglichen mit der Anzahl der Fußballspiele und der Anzahl der
„positiv-emotionalen" Aktionen nimmt die Gewalt einen verschwindend geringen Teil ein. Sie
steht eben stärker im Fokus der Medien und wird daher schneller in den Mittelpunkt gerückt.
Und wenn dann auch nachweislich gewaltlose Handlungen wie Pyro oder Platzstürme zu
Gewalt hochstilisiert werden, hat man schnell ein Gewaltproblem konstruiert. Ein
Gewaltproblem, das es so nicht gibt.
Was es gibt, ist das Problem des Modernen Fußballs an sich. Ein Fußball, der als Kulisse für
Geldvermehrung dient; ein Fußball, den die Mächtigen, Wichtigen und Reichen als Bühne
missbrauchen, um ihre Geschäfte durchzuziehen. Ein Fußball, der von profitgierigen und
korrupten Verbänden wie der FIFA und der UEFA dominiert wird; ein Fußball, der sich immer
weiter von der Basis - den Fans - entfernt. In diesem Fußball, der steril und sauber
daherkommen soll, stören aktive und kritische Fans. Da stört es, dass sie sich mit der
Pyrotechnik so ziemlich den letzten Bereich gesucht haben, der trotz jahrelanger
Kriminalisierung und massiver Strafen nicht totzukriegen ist, der den Fans eine letzte
Möglichkeit der Rebellion bietet, der schlicht und ergreifend von den Fans selbst gestaltet
wird. Pyro steht nicht im Drehbuch der Inszenierung des Modernen Fußballs, zumindest nicht
aus Händen der Fans. Als offizielles Feuerwerk nach Endspielen oder zu Stadioneröffnungen
sehen es alle gerne. Da ist es Ausdruck von Freude und Emotionen. Veranstalten die Fans ihr
Feuerwerk, betrachten es die Fußball-Oberen als Bedrohung, da es Ausdruck von
Unkontrollierbarkeit der Fanszenen ist, von Unangepasstheit und Selbstbestimmung. Das
wollen die Machthaber nicht, da wir den Ablauf ihres Spiels stören.
Das tun wir gerne, denn der Fußball gehört uns!